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KRIEG/1786: Großmacht USA - vorsorglich ... (SB)



Wladimir Jermakow, der Direktor der Rüstungskontrollabteilung im russischen Außenministerium, wies den Vorwurf der Vertragsverletzung (...) als "absolut unbegründet" zurück und meinte, es sei "nicht das erste Mal, dass die Vereinigten Staaten Angelegenheiten so darstellten, dass Russland etwas verletzt habe, nur um dies als Vorwand für den Rückzug aus einem Rüstungskontrollabkommen zu nehmen".
[1]

Daß die westlichen Mächte seit Jahrzehnten Rußland und China als ihre finalen Gegner im Ringen um globale Dominanz ins Visier genommen haben und immer enger einzukesseln versuchen, sollte kein Geheimnis sein. Die US-Regierung hat diese Doktrin offiziell zur Priorität auf ihrer geostrategischen Agenda erklärt und erhöht nicht nur den Druck auf Moskau und Peking, sondern auch auf die NATO-Verbündeten, um die wirtschaftliche, militärische und politische Einschnürung der beiden gegnerischen Machtkomplexe zu forcieren. Für die Eliten der Vereinigten Staaten liegt auf der Hand, daß sie in diesem Konkurrenzkampf unterliegen, sofern sie nicht auf der Höhe ihrer überlegenen Waffengewalt den Zerfall Rußlands erzwingen und den Aufstieg Chinas verhindern. Was wie eine Geisterbahnfahrt Donald Trumps anmuten mag, läuft unter dem Strich darauf hinaus, den Machtkampf sofort auf die Spitze zu treiben, um die Feinde zu unterwerfen oder zu vernichten, ehe es zu spät ist, selbst wenn dies die Gefahr einschließt, die Menschheit im nuklearen Feuer auszulöschen. Trump, dessen Weltsicht sich in der Überzeugung erschöpft, höher als andere pokern und den besten Deal herausschlagen zu können, verkörpert als Erfüllungsgehilfe im Weißen Haus die Ratio einer unabweislichen Vorherrschaft der USA, die angesichts ihres drohenden Niedergangs Freund und Feind in den Schwitzkasten nehmen, um aller Welt ihren Willen aufzuzwingen.

Die verbündeten NATO-Staaten verfolgen als Teilhaber am globalen Raubzug im Prinzip das gleiche Ziel, jedoch unter jeweils eigenen Maßgaben, was Geschwindigkeit, Abfolge und Positionierung in diesem Kriegszug betrifft. Auch sie wollen im Kampf um die schwindenden Sourcen aller Art zu den Siegern gehören, aber nicht als Vasallen und Hofnarren Washingtons oder gar vorzeitig als Schlachtopfer enden. Sie brauchen die Bündnisstrukturen und Vertragswerke, um unter dem Schutz der USA und internationaler Abkommen nach ihren Erfordernissen aufzurüsten und eigenständige Stärke zu entwickeln. Die US-Regierung kappt jedoch alle Sicherheitsanker und legt unter Volldampf Kollisionskurs an, ohne sich um das Gezeter im Unterdeck zu scheren.

Die USA wollen sich aus dem 1992 geschlossenen und 2002 in Kraft getretenen Abkommen "Open Skies" zurückziehen, das es den 34 Vertragsstaaten erlaubt, jährlich mehrere unbewaffnete Aufklärungsflüge über den Territorien anderer Unterzeichner ohne längere Voranmeldung durchzuführen. Sein Sinn besteht darin, die Rüstungskontrolle zu erleichtern und eventuelle Überraschungsangriffe zu erschweren. Bereits auf der Genfer Konferenz der Siegermächte im Jahr 1955 schlug der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower dem sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow vor, das Verhältnis zwischen der NATO und dem kurz zuvor gegründeten Warschauer Pakt durch kontrollierte Aufklärungsüberflugsrechte zu entspannen. Verwirklicht wurde dieser Vorschlag aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges. Seit 2002 wurden mehr als 1.500 Beobachtungsflüge durchgeführt, an denen stets Vertreter beider Seiten teilnahmen. Bis 2016 haben die USA knapp 200 Überwachungsflüge über Rußland durchgeführt, während andere NATO-Staaten 300 Flüge beisteuerten. Moskau hat hingegen im selben Zeitraum nur 71 Flüge über US-Gebiet angemeldet. [2]

Dies ist bereits das dritte Rüstungskontrollabkommen, aus dem die Trump-Administration aussteigt. Im Mai 2018 verließen die USA das Atomabkommen mit dem Iran von 2015, in dem sich Teheran verpflichtet hatte, keine Atomwaffen zu bauen. Im August 2019 wurde der Rückzug Washingtons aus dem INF-Vertrag von 1987 zur Begrenzung nuklearer Mittelstreckenraketen rechtskräftig, was Trump im Herbst 2018 angekündigt hatte. Das Schicksal eines vierten Kontrollabkommens steht auf der Kippe. Barack Obama hatte 2010 den "New Start"-Vertrag über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen um ein Drittel mit Moskau geschlossen, der im Februar 2021 ausläuft. Die Trump-Regierung kündigte an, sie wolle dieses Abkommen beibehalten, aber China einbeziehen. [3]

Schon beim Ausstieg aus dem INF-Vertrag dürfte Washington neben Rußland auch China ins Fadenkreuz genommen haben, das in den 1980er Jahren nicht zu den Supermächten gehörte und daher in keine Verträge zur Rüstungskontrolle eingebunden ist. Wie US-Verteidigungsminister Mark Esper nach Kündigung des INF-Abkommens behauptete, bestehe das chinesische Arsenal zu etwa 80 Prozent aus Raketen, die dieser Vertrag verboten hätte. Die USA würden nun konventionelle Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 5000 Kilometern in Asien stationieren. Daß Washington auch bei der Kündigung des "Open Skies"-Abkommens China mit im Auge haben könnte, deutete Trumps Äußerung an, es sei gut möglich, daß es in Zukunft ein neues Abkommen gebe, das "Open Skies" ersetzt. Wegen der sechsmonatigen Kündigungsfrist werden sich die USA noch bis Oktober an den Vertrag halten, wobei sie ihren Ausstieg angeblich revidieren würden, sofern sich die russische Seite entschließe, "den Vertrag strikt einzuhalten".

Im Fall von "Open Skies" werfen die USA Rußland dreierlei vor. Erstens verweigere Moskau häufig die Genehmigung für die von NATO-Staaten beantragten Überflüge oder mache Auflagen zu Mindestflughöhen, obwohl es verpflichtet sei, die Flüge zu erlauben. Das betreffe insbesondere das Gebiet Kaliningrad, wo Rußland womöglich neue Atomwaffen stationiert hat, die sich gegen Deutschland und andere europäische Staaten richten; weiter die Region um Tschetschenien, wo Waffen geschmuggelt werden, sowie entlang der Grenzen der Republiken Abchasien und Südossetien, die sich von Georgien abgespalten haben.

Zweitens nutze Moskau die Überflüge nicht nur für den vorgesehenen Zweck, militärische Bewegungen und Stationierungen zu überwachen, sondern kartiere dabei wichtige Standorte von Industrie und Infrastruktur als Angriffsziele für den Kriegsfall. Drittens unterlaufe Rußland den Zweck von "Open Skies", die Überwachung militärischer Bewegungen zur Konfliktprävention, wenn es westliche Aufklärungsflüge gerade dann verweigere, wenn Manöver abgehalten würden. Zudem vertrat Washington die Auffassung, es handle sich nur noch um eine symbolische Vereinbarung, da man heute mit Satelliten eine viel schnellere und bessere Aufklärung betreiben könne. US-Außenminister Michael Pompeo brachte sogar das groteske Argument vor, Moskau habe das Auftanken der US-Flieger auf einem Flugplatz auf der Krim angeboten, um Washington zur faktischen Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zu Rußland zu nötigen.

Diese geballte Vorwurfslage erweist sich bei näherer Überprüfung als eine recht dünne Suppe aus Halbwahrheiten und fingierten Vorwänden. So haben die USA ihrerseits russische Flüge über Alaska und dem Pazifik eingeschränkt. Vor nicht einmal einem Jahr nahm die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Hamburg einen umgebauten Airbus A319 für die Bundeswehr entgegen, der ausgefräste und verglaste Öffnungen an der Unterseite des Rumpfs erhielt. Durch sie können Spezialkameras Fotos machen, auch ein Infrarotsensor ist an Bord. Mehr als 20 Einsätze pro Jahr solle der Flieger über dem Territorium Rußlands absolvieren und dabei eine Art legale Spionage betreiben. Die Beobachtung aus Flugzeugen bleibt ein wichtiges Instrument der Sicherheitsarchitektur, zumal nicht alle beteiligten Staaten über direkten Satellitenzugang verfügen. Was die strittigen Regionen im Südkaukasus angeht, so ist Georgien bereits 2012 aus dem Abkommen ausgestiegen. Rußland warf Polen vor, Flüge über der Enklave Kaliningrad unnötig auszudehnen, und noch am 2. März bestätigte der US-Botschafter bei der OSZE, James Gilmore, daß Rußland Anfang des Jahres bei einem Überflug der USA über der Region Kaliningrad "kooperativ" gewesen sei.

Die Vorwürfe, Rußland halte sich nicht an das Abkommen, standen bereits seit dem NATO-Gipfeltreffen von 2018 im Raum. Das Wall Street Journal berichtete im Oktober 2019, der US-Präsident debattiere einen Ausstieg, und noch im Herbst verschickte Washington Fragebögen an die Mitglieder der Allianz, um deren Meinung dazu einzuholen. Außenminister Heiko Maas schrieb daraufhin einen Brief an Mike Pompeo. Mit Briten und Franzosen übersandten die Deutschen darüber hinaus eine Demarche, Botschafterin Emily Haber wurde im Weißen Haus vorstellig. Im März setzten die Europäer mit einem Brief nach, wobei diesmal auch die Polen dabei waren. Dies sollte Washington demonstrieren, daß selbst die gegenüber Rußland besonders skeptischen Osteuropäer keinen Ausstieg aus dem Abkommen wollen. [4]

Die USA haben dennoch die nach dem Vertrag erforderliche offizielle Mitteilung hinterlegt, daß sie in sechs Monaten das Abkommen verlassen werden. Außenminister Mike Pompeo begründete die Entscheidung von Präsident Donald Trump damit, daß Rußland "schamlos und fortgesetzt über Jahre den Vertrag in verschiedener Art und Weise verletzt hat". Alexander Gruschko, der stellvertretende russische Außenminister, wies diesen Vorwurf entschieden zurück und warnte, daß sich nach Kündigung des Überflugvertrages durch die US-Regierung die Sicherheitslage in Europa verschlechtern werde. Das Instrument sei "seit über 20 Jahren im Interesse der Erhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa im Einsatz" und "ein integrierter Bestandteil des Systems militärischer Sicherheit, in dem alle Elemente aufeinander abgestimmt sind".

Anders als beim INF-Vertrag, wo die europäischen Regierungen die Bezichtigung Rußlands uneingeschränkt mitgetragen hatten, versuchen sie bei "Open Skies" zu bremsen. Wie Heiko Maas erklärte, gebe es "auf der Seite Russlands in der Tat Schwierigkeiten bei der Umsetzung". Dennoch "rechtfertigt dies aus unserer Sicht aber keine Kündigung". Das Abkommen trage "zu Sicherheit und Frieden auf praktisch der gesamten Nordhalbkugel bei". Die Kontrollflüge, bei denen Russen neben Soldaten der NATO-Staaten sitzen, trügen zur Vertrauensbildung bei. Zudem lasse sich über das Bildmaterial mit Moskau sehr offen reden, da die Quelle unstrittig sei. Man wolle sich mit "gleichgesinnten Partnern" dafür einsetzen, daß die USA ihre Entscheidung überdenken. Die Außenminister von Belgien, Tschechien, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Spanien, Schweden und Deutschland erklärten gemeinsam, an dem Vertrag festzuhalten. Zugleich riefen sie Rußland auf, in einen Dialog zu treten und zur vollständigen Umsetzung zurückzukehren.

Zu einer klaren Kritik an der US-Regierung oder gar substantiellen Forderungen konnten sich die NATO-Botschafter aber nicht durchringen. Sie wurden per Videokonferenz von Marshall Billingslea, Trumps Sondergesandtem für Abrüstungsfragen, informiert, worauf Generalsekretär Jens Stoltenberg in einer Erklärung mitteilte, daß die NATO weiter "ein konstruktives Verhältnis" zu Rußland anstrebe, sofern Moskaus Handeln dies erlaube. Rußlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow erklärte dazu: "Es gibt keine Perspektiven für ein neues Abkommen, um den Vertrag zu ersetzen." Der bisherige Vertrag funktioniere ohne Probleme und gewährleiste die europäische Sicherheit. Moskau fühle sich dem Vertrag weiterhin verpflichtet und plane bis auf weiteres keinen Ausstieg.

Daher könnte das Abkommen zwischen den europäischen NATO-Staaten und Rußland weitergeführt werden. Unklar ist jedoch, ob die USA trotz ihres Ausstiegs künftig als NATO-Mitglied an den Ergebnissen der Überwachungsflüge partizipieren würden. In den USA selbst ist die Maßnahme der Regierung parteipolitisch umstritten. Der Rückzug aus dem Vertrag "untergräbt die Glaubwürdigkeit Amerikas in der Weltgemeinschaft weiter und macht Amerikaner weniger sicher", rügte die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi. Der Schritt mache Amerika "blind" und ermutige Feinde der USA. [5] Ein Bekenntnis zu Abrüstung und friedlicher Koexistenz hört sich anders an. Hoffnung in die Präsidentschaftswahl am 3. November zu setzen ist auch aus diesem Grund keine Option. Die USA gehen unter Donald Trump mit Handelskriegen, dem Ausstieg aus internationalen Vertragswerken und wachsendem militärischen Druck zum offenen Angriff über. Die europäischen Verbündeten einschließlich der Bundesrepublik beschränken sich auf zahnlose Kritik, da sie zu Recht eine eskalierende Kriegsgefahr fürchten, aber die Aussicht auf ihren Anteil an der Beute nicht missen möchten.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Wir-werden-aussteigen-bis-sie-sich-daran-halten-4726877.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/378771.open-skies-abkommen-wegen-99-luftballons.html

[3] www.tagesspiegel.de/politik/trump-kuendigt-ruestungskontroll-abkommen-open-skies-ausstieg-verschaerft-konflikt-mit-nato-partnern/25853062.html

[4] www.sueddeutsche.de/politik/usa-open-skies-abkommen-ausstieg-1.4915079

[5] www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/usa-open-skies-abkommen-verteidigung-ausstieg

25. Mai 2020


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