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KRIEG/1797: Kriegsverwerter Türkei ... (SB)



Wir hatten unsere ersten Gespräche mit den Taliban, sie dauerten dreieinhalb Stunden. Wenn nötig, werden wir weitere Verhandlungen führen.
Recep Tayyip Erdogan [1]


Wo die Kriegsmaschine der westlichen Mächte überfallene Länder ins Chaos gestürzt und ihr blutiges Werk verrichtet hat, um dann nach fluchtartigem Rückzug auf neue Schlachtfelder weiterzuziehen, steht Recep Tayyip Erdogan Gewehr bei Fuß. Wie in Syrien und Libyen will er nun auch in Afghanistan in die Bresche springen, um als Sieger aus diesem Krieg hervorzugehen, indem er einen drohenden regionalen Flächenbrand einzudämmen und eine weiträumige Fluchtbewegung drangsalierter Menschen abzuwürgen verspricht. Im Armdrücken der Großmächte, die auf eine westlicherseits vorangetriebene finale Konfrontation zusteuern, versteht er es ein ums andere Mal, sich mit fatalen Folgen für die Mehrzahl der Menschen im eigenen Land wie auch in der engeren und weiteren Nachbarschaft unentbehrlich zu machen und der Rückendeckung seitens der Nato- und EU-Staaten zu versichern.

Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Türkei reichen bis ins Jahr 1919 zurück, war doch die türkische Republik einer der ersten Staaten, die Afghanistan nach seiner Unabhängigkeit diplomatisch anerkannten. Man schickte Lehrer und Offiziere nach Kabul. "Kemal Atatürk war für uns ein großes Vorbild", meldete sich kürzlich India, die hochbetagte Tochter des ersten afghanischen Königs Amanullah Khan aus dem italienischen Exil zu Wort. Aber leider hätten die Rückständigen in ihrem Land letztendlich immer die Oberhand gewonnen. Das solle allen eine Mahnung sein. [2]

Die Zeiten haben sich insofern geändert, als die Türkei 20 Jahre lang Teil des westlichen Okkupationsregimes im Land der "Rückständigen" war, zeitweise mit rund 2000 Soldaten. Sie stellte mit ihrem damaligen Außenminister Hikmet Çetin den ersten politischen Vertreter der Nato in Afghanistan, und vom Juni 2002 bis Februar 2003 sowie vom Februar 2005 bis August 2005 wurden die internationalen Besatzungstruppen aus 43 Staaten von einem türkischen General kommandiert. Die türkische Entwicklungsagentur Tika errichtete oder renovierte nach Angaben des Senders TRT für über eine Milliarde Dollar Krankenhäuser, Schulen und Moscheen, der staatliche Energiekonzern TPAO investierte in die bescheidene Öl- und Gasförderung im Norden des Landes. Bis zum Schluss waren rund 500 türkische Soldaten am Hindukusch stationiert, dem Namen nach keine Kampftruppen. Und am Ende schaffte es die Türkei, alle ihre Landsleute rechtzeitig zu evakuieren und dabei sogar einige Afghaninnen mit an Bord zu nehmen.

Zentrales Element des türkischen Auftrags war seit sechs Jahren die Absicherung des Flughafens in Kabul und eben dies soll der Schlüssel für die Regierung in Ankara sein, auch künftig den Fuß in die Tür zu setzen. Dass die Idee einer Vermittlerrolle nicht spontan erwuchs, sondern von langer Hand geplant war, zeigte die Einladung der Türkei im Frühjahr 2021 zu Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Istanbul, was letztere jedoch ablehnten. Am Rande des Nato-Gipfels im Juni besprach Erdogan mit US-Präsident Joe Biden, dass das türkische Militär nach Abzug der Amerikaner die Sicherung des Flughafens übernehmen könne. Wenngleich der rasante Durchmarsch der Taliban einen geordneten Rückzug zunichte machte, bleibt auch unter veränderten Vorzeichen die türkische Karte ein Trumpf.

Die neue Führung in Kabul dürfte sich im Klaren darüber sein, dass viele dringend benötigten Waren wie auch unverzichtbare internationale Hilfsgelder nur über einen funktionsfähigen und sicheren Flughafen ins Land kommen können. Die Versorgung der Bevölkerung ist wiederum eine wesentliche Voraussetzung, die Situation zu stabilisieren und eine Massenflucht zu bremsen. Das deckt sich mit dem Interesse der westlichen Staaten, die ihre Evakuierung abschließen, dann aber den Durchlass am liebsten versiegeln würden. Daraus erwächst für Erdogan eine verlockende Möglichkeit, seine Kontroversen mit Washington und Brüssel zu deckeln und sich als Retter in der Not zu profilieren. Der Türkei komme "eine Schlüsselrolle" zu, unterstrich denn auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, während Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian darauf drängten, die Flughafenpläne zügig in die Tat umzusetzen. Von einem Wiederaufbau Afghanistans könnten im übrigen auch türkische Baukonzerne mit Milliardenaufträgen profitieren, wobei die großen Firmen der Branche überwiegend in der Hand Erdogan nahestehender Unternehmer sind.

Nach Auffassung westlicher Beobachter könnte die Türkei als mehrheitlich muslimisches Land eine Sonderrolle in Gesprächen mit den Taliban einnehmen. Diese haben offenbar bei der Türkei und Katar angefragt, ob sie den Flughafen wieder in Betrieb nehmen könnten. Erdogan scheint bereit zu sein, das Taliban-Regime als legitime Regierung von Afghanistan anzuerkennen. Allerdings hat Taliban-Sprecher Suheyl Shaheen noch vor wenigen Wochen deutlich gemacht, dass sich "alle ausländischen Streitkräfte, Auftragnehmer, Berater, Trainer aus dem Land zurückziehen" sollten. Ende August ruderte er dann im türkischen Fernsehen zurück und betonte, dass man sich ein gutes Auskommen mit der Türkei wünsche. Die Länder seien doch "Brüder im Glauben". Erdogan griff das Argument gerne auf und erklärte, es gebe in der Türkei nichts, was dem Glauben der Taliban widerspreche.

Das rief jedoch heftigen Widerspruch in den Sozialen Medien auf den Plan, wo der Hashtag #TalibanKardesimDegildir ("Die Taliban sind nicht mein Bruder") die Runde machte und es unter #SensinTaliban ("Du bist der Talib") zu einem regelrechten Shitstorm gegen Erdogan kam. Einen der meistgeteilten Tweets verfasste der bekannte Schauspieler, Filmregisseur und Autor Ilyas Salman. Bezogen auf die Stimmung im Land, so Salman, brauche man sich nichts vormachen. Abgesehen von einem "sehr kleinen und radikalen Prozentsatz" würden selbst Anhänger des Präsidenten ein Leben wie in Afghanistan nicht wollen. [3]

Die AKP/MHP-Regierung sieht sich gezwungen, auf eine zunehmend fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung zu reagieren. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP, kündigte an, im Falle eines Sieges bei den nächsten Wahlen alle Flüchtlinge binnen zwei Jahren nach Hause zu schicken. Kurz nach dieser Äußerung kam es zu einer Hetzjagd auf Migranten in einem Stadtteil von Ankara. Auch in der AKP nehmen Ressentiments gegen Flüchtlinge zu, worin einer aktuellen Umfrage zufolge 70 Prozent der Parteimitglieder ein Problem sehen. Erdogan wettert zwar gegen die Opposition, die er als hinterlistig und gefährlich abkanzelt, unterstreicht aber seinerseits, dass der Staat vor allem für die Sicherheit und den Wohlstand der eigenen Bürger verantwortlich sei. Die Türkei beherberge bereits fünf Millionen Flüchtlinge und könne sich eine zusätzliche Migrationslast aus Syrien oder Afghanistan nicht leisten. Das ist ein klares Signal an die EU, dass ein neues Flüchtlingsabkommen, das auch die Afghanen einschließt, einen hohen Preis hat und eine Ausweitung der Zollunion wie auch Visafreiheit beinhalten sollte. [4]

Der türkische Staat gewährt afghanischen Flüchtlingen keinerlei Schutzstatus, auch in den Städten gehen die Behörden verschärft gegen "illegale" Einwanderer vor. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres wurden fast 36.000 Afghanen festgenommen, fast die Hälfte von ihnen wurde abgeschoben. Im Frühsommer versuchten täglich etwa 1000 Menschen die Grenze zur Osttürkei zu überwinden, die meisten von ihnen Afghanen. Bereits zuvor hatte die Türkei begonnen, ihre mehr als 500 Kilometer lange Grenze zum Iran besser zu sichern und den Bau einer fast 300 Kilometer langen Mauer zu beschleunigen, die zur Hälfte fertiggestellt ist. Schwere gepanzerte Fahrzeuge patrouillieren entlang der drei Meter hohen Absicherung aus Beton, alle zwei Kilometer steht ein Wachturm. In gebirgigen Abschnitten sollen Wärmebildkameras und Drohnen helfen, "illegale" Einwanderer aufzuspüren. Von Grenzwächtern aufgegriffene Flüchtlinge werden in einem von landesweit 25 Abschiebezentren hinter einem sechs Meter hohen Zaun, vergitterten Fenstern und stählernen Zellentüren gefangengehalten, bis wieder Abschiebungen nach Afghanistan möglich sind.

Grenzmauer und Abschiebezentren werden teilweise von der EU finanziert, die noch weit höhere Geldsummen auflegen will, um die Flüchtlingsabwehr bis nach Zentralasien vorzuverlagern. Auf einer Sondersitzung der EU-Innenminister in Brüssel wurden umfangreiche Finanzhilfen für den Aufbau von Internierungslagern, Aufrüstung der Sicherheitsorgane und polizeiliche Unterstützung in den afghanischen Nachbarstaaten wie dem Iran, Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan oder eben auch der Türkei beschlossen. Für diese Investitionen wurde mehr als eine Milliarde Euro zurückgestellt, wovon 600 Millionen für den Erhalt und die Wahrung von guten Beziehungen mit den Ländern in der Region vorgesehen sind, die afghanische Flüchtlinge aufnehmen. In einer "Erklärung zur Situation in Afghanistan" des Gipfels heißt es: "Auf der Grundlage der Lehren, die die EU und ihre Mitgliedsstaaten gezogen haben, sind sie entschlossen zu einem gemeinsamen Handeln, um das Wiederaufkommen unkontrollierter großer Migrationsbewegungen zu verhindern, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt haben." Handle man schnell, werde sich 2015 nicht wiederholen, rezitierte Horst Seehofer das agitatorische Leitmotiv.

30 Jahre lang haben die USA samt Verbündeten Länder im Nahen Osten und in Zentralasien mit Krieg überzogen, um ihnen ihre Hegemonie aufzuzwingen und die letztendlichen Angriffspläne gegen Russland und China zu befördern. Diese Kriege haben Millionen Menschenleben und Billionen Dollar gekostet wie auch die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst - 82,4 Millionen Menschen sind in dieser Zeit aus ihrer Heimat geflohen. Um diese fernzuhalten, hat die EU ein Netzwerk von Lagern in den Mittelmeerstaaten errichtet, in denen seit 2011 Millionen Flüchtlinge aus den Nato-Kriegen in Syrien und Libyen leben. Neben weiteren hunderttausenden Flüchtlingen, die in elenden Lagern wie im griechischen Moria oder auf den spanischen Kanaren festgehalten werden, befinden sich weitere Lager in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und Libyen. Vor allem die libyschen Lager sind dafür berüchtigt, dass dort Flüchtlinge misshandelt, sexuell missbraucht, ermordet oder als Sklaven verkauft werden. [5]

Dieses System der Abschreckung, Drangsalierung, Zurückweisung und oftmals Vernichtung geflohener Menschen soll nun in einem Kordon um Afghanistan ausgebaut werden - weit entfernt von der Festung Europa. Erdogan nahm schon im Flüchtlingsabkommen von 2016 eine Schlüsselfunktion ein, die er nun in Kabul abermals exekutiert und zu eigenen Gunsten perfektioniert. Mag sein Regime auch innenpolitisch auf tönernen Füßen stehen, ist er doch Bruder im Geiste jener imperialistischen Mächte, die ihn als Erfüllungsgehilfen zu schätzen und schützen wissen.


Fußnoten:

[1] www.rnd.de/politik/afghanistan-worueber-erdogan-jetzt-mit-den-taliban-verhandelt-TMT27OMWWBCR3LUFFVETOMGFFI.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/tuerkei-afghanistan-taliban-recep-tayyip-erdogan-fluechtlinge-flughafen

[3] www.dw.com/de/afghanistan-die-türkei-mittendrin/a-59041652

[4] www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-flucht-tuerkei-103.html

[5] www.wsws.org/de/articles/2021/09/02/euaf-s02.html

6. September 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 167 vom 11. September 2021


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