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FLUCHT/034: Jemen - Massenflucht vor dem Bürgerkrieg, Europa für die wenigsten erreichbar (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. September 2015

Jemen: Massenflucht vor dem Bürgerkrieg - Europa für die wenigsten erreichbar



Foto: © Almigdad Mojalli/IRIN

Die meisten Jemeniten wollen so schnell wie möglich das Land verlassen, um dem Bürgerkrieg zu entkommen Foto: © Almigdad Mojalli/IRIN

SANAA/BEIRUT/BERLIN (IPS/IRIN*) - Während der Massenexodus aus Syrien in Richtung Europa anhält, bahnt sich auch im weiter südlich gelegenen Jemen eine Flüchtlingskrise an. Doch für diese Menschen sind die Chancen, den Westen zu erreichen, gleich null.

Vor den Ticketschaltern in der Hauptstadt Sanaa bilden sich lange Warteschlangen. Anhörige der Ober- und Mittelschicht wollen möglichst schnell ein Flugzeug besteigen und das Land verlassen. Zurzeit steht ihnen täglich nur eine Flugverbindung in die jordanische Hauptstadt Amman zur Verfügung. Wer heute bucht, kann allerdings erst frühestens in sechs Wochen abfliegen.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR sind bereits mehr als 100.000 Menschen aus dem Jemen geflohen, nachdem ein von Saudi-Arabien angeführtes Bündnis seit März Luftangriffe gegen die pro-iranische Houthi-Rebellen fliegt. 40.000 Flüchtlinge sind Jemeniten, der überwiegende Rest Ostafrikaner, die inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

UNHCR-Sprecher Andreas Needham geht von einer hohen Dunkelziffer aus, da die Statistik nur diejenigen erfasst, die sich um Hilfe an das Flüchtlingshilfswerk oder die jemenitischen Behörden wenden.


Anderthalb Millionen Vertriebene

Innerhalb des Landes sind etwa 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes sieht der Jemen fünf Monate nach Ausbruch des Konflikts so aus wie Syrien nach fünf Jahren. Nur wenige Flüchtlinge, die den Jemen auf dem Luftweg verlassen können, wollen in Jordanien bleiben. Ihre Wunschziele sind unter anderem die USA, Saudi-Arabien und Malaysia.

Der 32-jährige Ingenieur Osama Nabil möchte mit seiner Familie in die Vereinigten Arabischen Emirate gehen. "Ich habe meine Arbeit in einer Telekommunikationsfirma verloren, und das von den Saudis angeführte Bündnis hat unser Viertel in Sanaa und unser Dorf im Bezirk Ibb bombardiert. Deshalb muss ich das Land verlassen und einen sicheren Ort für meine Familie finden", berichtet Nabil. Sein kleiner Sohn braucht zudem dringend medizinische Hilfe. So bald wird er aber keine Tickets bekommen. Im Büro der Fluggesellschaft 'Yemenia Airways' sagte man ihm, er solle in anderthalb Monaten wiederkommen.

Trotz der brenzligen Lage sind politische Beobachter überzeugt, dass es in nächster Zeit zu keiner Massenmigration aus dem Jemen nach Europa kommen wird. Denn Jemeniten haben kaum eine Chance, Visa für Europa zu erhalten. Anders als Syrer bekommen sie auch nicht automatisch Einreisevisa für die Türkei, von wo aus sich die meisten Flüchtlinge und Migranten auf den Weg nach Westen machen. Daher ist es für Jemeniten äußerst schwierig, die illegalen Routen der Menschenschmuggler zu erreichen.


Knapp 100 Jemeniten in Griechenland angekommen

Die griechische Küstenwache teilte mit, dass in diesem Jahr erst 94 Jemeniten in das Land gekommen seien. Eine Alternative wäre die weitaus gefährlichere Route über Libyen und das Mittelmeer. Doch selbst nach Libyen zu gelangen, ist vom Jemen aus ein großes Problem.

Da der Jemen ein viel ärmeres Land als Syrien ist, können sich die meisten Menschen keine Flugtickets leisten. Ein Flug von Sanaa nach Amman kostet knapp 700 US-Dollar. Das können nur Wohlhabende bezahlen. Zudem akzeptieren Reisebüros momentan nur Dollar. Im Jemen sind jedoch so gut wie keine Devisen verfügbar.

Der 34-jährige Kareem Jamal hat fast seinen gesamten Besitz verkauft, um für sich und seine dreiköpfige Familie Flugtickets kaufen zu können. "Es ist sehr schwierig geworden, irgendwo ein Darlehen zu bekommen. Deshalb habe ich mein Auto verkauft, etwas anderes blieb mir nicht übrig", erklärt er.

Auch diejenigen, die nicht das Flugzeug nehmen wollen, müssen sich auf hohe Kosten gefasst machen. Hanibal Abiy Worku, der die Aktivitäten des Norwegischen Flüchtlingsrats im Jemen koordiniert, weiß, dass sogar eine Passage auf einem maroden Boot in Richtung Dschibuti inzwischen nur noch für Reiche erschwinglich ist.


In der Falle

Einige versuchen zumindest, auf dem Landweg über die Grenze im Norden nach Saudi-Arabien zu kommen. Um von dort aus nach Europa zu gelangen, müssten sie allerdings Syrien durchqueren, was angesichts der derzeitigen Umstände kaum möglich ist.

Mohammed Nassar will sich mit Mutter, Frau und drei Kindern zu seinem Bruder nach Saudi-Arabien durchschlagen. "Mein Land ist vollständig zerstört und wird in den nächsten Jahrzehnten nicht wiederaufgebaut werden können. Es gibt keine Bildungschancen und keine Arbeit, die wirtschaftliche Lage ist schlecht", meint er resigniert.

"Die meisten Jemeniten sitzen in der Falle. Nur wenige sind finanziell in der Lage, das Land zu verlassen.", sagt Adam Baron, ein Jemen- Experte beim Rat für Auswärtige Angelegenheiten der Europäischen Union. "Aus geografischen Gründen ist es für sie wesentlich schwieriger als für Syrer oder Libyer, Europa zu erreichen." Abiy Worku ist allerdings davon überzeugt, dass sich viele Jemeniten auf den Weg machen würden, sobald sie von anderen hörten, dass sie tatsächlich in einem europäischen Land angekommen sind. (Ende/IPS/ck/24.09.2015)

*IRIN ist ein UN-Informationsdienst.

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IPS-Tagesdienst vom 24. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2015

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