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KOLLATERAL/018: Indien - Verstümmelung und Tod, Landminen bedrohen Kaschmirer (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2013

Indien: Verstümmelung und Tod - Tausende Landminen bedrohen Kaschmirer

von Athar Parvaiz


Bild: Athar Parvaiz/IPS

Qadir Sheikh, ein Landminenopfer aus Warsun
Bild: Athar Parvaiz/IPS

Srinagar, Indien, 21. Mai (IPS) - Aadil Khan und seine beiden Geschwister spielten hinter ihrem Elternhaus in Diver, 110 Kilometer nördlich der Hauptstadt des indischen Teils von Kaschmir, als mit einem Schlag ihr junges Leben und das ihrer Eltern in Trümmern lag. Sie stießen auf eine Landmine, die sie für ein Spielzeug hielten.

Die drei Geschwister können sich nur noch bruchstückhaft an das erinnern, was sich am 17. Dezember zugetragen hat. Den behandelnden Ärzten zufolge hatten sie großes 'Glück', noch unter den Lebenden zu sein. Aadil und Mashoq wurden schwer verletzt, ihre Schwester kam mit dem Schrecken davon, wie der Vater der Kinder, Sharief Khan, berichtet.

Die Tragödie zwang das Oberhaupt der siebenköpfigen Familie zu einer folgenschweren Entscheidung. Um die medizinische Behandlung der Heranwachsenden bezahlen zu können, musste der Bauer einen Teil seines Landes verkaufen. "Wer hätte einem armen Mann wie mir denn schon viel Geld geliehen", begründet er die Entscheidung, 2.700 Quadratmeter Land für 800 US-Dollar herzugeben.

Keine sechs Monate später sollte der Familie das Opfer, das sie gebracht hat, schmerzhaft bewusst werden. Das, was sie auf ihrer verbliebenen Parzelle anbaut, reicht nicht mehr zum Leben. Und so kommt es immer wieder vor, dass Eltern und Geschwister hungern.


700 Landminenopfer

Khans Söhne sind zwei von 700 Landminenopfern in Kaschmir, einem malerischen Tal zwischen dem Himalaja und dem Gebirgszug Pir Panjal, Sie zahlen den Preis für einen Konflikt, der auf die Teilung Indiens nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht im Jahre 1947 zurückgeht.

Sowohl Indien als auch der damals neu entstandene Staat Pakistan erhoben Anspruch auf das ressourcenreiche Kaschmir. Nach einer damaligen Resolution der Vereinten Nationen sollten die Bewohner der mehrheitlich muslimischen Region zwischen drei Optionen wählen: dem Beitritt ins hinduistisch dominierte Indien, dem Anschluss an das muslimisch geprägte Pakistan oder der Unabhängigkeit. Doch von dieser letzten Option konnten die Kaschmirer nie Gebrauch machen. Vielmehr wurde ein Drittel der Region Pakistan und der große Rest Indien zugeschlagen.

Seit Jahrzehnten wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen das von Indien und Pakistan erzwungene Arrangement. Nach dem Aufstand im Jahre 1989 bildete sich eine Widerstandsbewegung heraus, seitdem wurden mindestens 60.000 Menschen getötet.

Gefahr droht nicht nur von Kämpfen und Selbstmordattentaten, sondern auch von dem, was die Kriegsparteien seit Jahrzehnten in die Erde pflanzen: Landminen und Blindgänger. Vor allem Bauern und Kinder, die in den Kampfgebieten von Rebellen und indischer Armee leben, sind bedroht. Experten zufolge geht die Zahl der Sprengfallen in die Tausende.

Bei einer Explosion in Chattabandy, einer Ortschaft im Bezirk Bandipora, wurden am 3. Februar vier Kinder verletzt. "Sie hatten einen Blindgänger auf einem Reisfeld entdeckt und daran herumgespielt", berichtet der Dorfbewohner Mohammad Ramzan, ein Augenzeuge. Solche Zwischenfälle seien inzwischen alltäglich, fügt er hinzu. "Allein in unserem Dorf sind etliche Personen, vorwiegend Kinder, getötet oder verletzt worden."

Die Opfer erhalten eine staatliche Entschädigung in Höhe von 1.500 Dollar. Doch der Betrag reicht noch nicht einmal für die grundlegenden Behandlungskosten, wie Hameeda Nayeem, Professorin an der Universität von Kaschmir, bemängelt. Außerdem bleibt unberücksichtigt, dass die Opfer oftmals lebenslang behindert sind. So gut wie alle stammen der Expertin zufolge aus armen Familien der entlegenen Gebiete, die mit einem Monatseinkommen von unter 95 US-Dollar auskommen müssen.

Qalandar Khan, ein ehemaliger Landarbeiter, der seit einer Granatenexplosion 2012 behindert ist, ist ein Beispiel dafür. Im vergangenen Jahr fielen für seine medizinische Versorgung Kosten in Höhe von 1.900 Dollar an. Nachdem die Ersparnisse der Familie aufgebraucht waren, sah sie sich zum Verkauf ihres Viehs genötigt. Inzwischen verfügen die Khans über kein nennenswertes Einkommen mehr. "Jetzt ist es an mir und meinen Kindern, für unseren Unterhalt zu sorgen", meint Qalandars Frau Reshma. "Manchmal haben wir nicht genug zu essen."


Kostenlose Behandlung selten

Kliniken, die Patienten kostenlos behandeln, sind dünn gesät. Eine Ausnahme ist das Hope-Zentrum für Behinderungen in Kaschmir, dass derzeit 150 der etwa 700 Landminenopfer medizinisch versorgt, wie der Zentrumsdirektor Sami Wani bestätigt. Am Hope-Zentrum werden die Patienten auch kostenlos mit Prothesen ausgestattet.

Bild: Athar Parvaiz/IPS

Am Hope-Zentrum für Behinderungen in Kaschmir werden Landminenopfer kostenlos betreut
Bild: Athar Parvaiz/IPS

Zahid Ahmad ist für das Zentrum im nordwestlichen Bezirk Kupwara unterwegs, hilfsbedürftige Minenopfer zu identifizieren. In dem Dorf Dardsun stieß er auf Qadir Sheikh. "Wäre Ahmad nicht gekommen, hätte ich keine Prothese", sagt Sheikh im IPS-Gespräch. Er hat im Hope-Zentrum gelernt, mit den künstlichen Gliedmaßen zu gehen.

Hilfsaktivisten sind der Meinung, dass die Regierung die Entschädigung für schwer verletzte Minenopfer erhöhen sollte. "Die meisten dieser Menschen sind von anderen abhängig", meint Khurram Parvez von der Koalition der Zivilgesellschaft (CCS) im Gespräch mit IPS. Sie sollten Entschädigungen erhalten, die ihnen und ihren Familien ein Leben in Würde ermöglichten.

Die Angehörigen der Opfer stehen gleichfalls unter einem enormen Druck. In der Ortschaft Marhama sitzt Habeed Lone neben seiner Frau Fata, der eine Mine auf dem Heimweg von der Familienfarm beide Beine weggerissen hat. "Wir haben sechs Kinder und die gesamte Verantwortung für meine Familie liegt nun allein bei mir."

Experten wie Parvez sind der Meinung, dass es Sache der Sicherheitsagenturen sein sollte, die Gebiete von Minen und Blindgängern zu säubern, in denen sie militärisch aktiv gewesen sind. Er fordert zudem die Durchführung von Aufklärungskampagnen, um die Menschen auf die im Boden lauernden Gefahren und deren Folgen aufmerksam zu machen. (Ende/IPS/kb/2013)


Link:

http://www.ipsnews.net/2013/05/explosives-shatter-lives-in-kashmir/

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IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2013