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KOLLATERAL/022: Pakistan - Zivilisten im Norden in der Schusslinie von Extremisten und Armee (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. November 2014

Pakistan: Tod an allen Fronten - Zivilisten im Norden in der Schusslinie von Extremisten und Armee

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Vertriebene kommen im Norden Pakistans in Zelten unter
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, Pakistan, 11. November (IPS) - Die Menschen in Khyber, einer der sieben Verwaltungseinheiten, die die pakistanischen Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA) bilden, befinden sich in einer schier aussichtslosen Situation: Ganz gleich, wie sie sich verhalten, riskieren sie ihr Leben.

Während das Militär seine Offensive gegen die islamistische Gruppe 'Tehreek-e-Taliban Pakistan' (TTP) von Nord-Waziristan in Richtung Khyber ausweitet, müssen sich die Zivilisten entscheiden, ob sie das von den Taliban verhängte Reiseverbot befolgen. Bleiben sie, laufen sie Gefahr, bei Angriffen der Armee gegen die Terroristen getötet zu werden. Fliehen sie, ziehen sie den Zorn der Extremisten auf sich, die sie als lebende Schutzschilde missbrauchen.

Das Militär hat sich die Vernichtung der TTP in den pakistanisch-afghanischen Grenzregionen auf die Fahnen geschrieben. Dort treiben die selbsternannten Gotteskrieger seit ihrer Vertreibung von den Schalthebeln der Macht in Afghanistan im Jahr 2001 straffrei ihr Unwesen.

Ende Oktober gaben TTP-Mitglieder ein Verbot an die Bewohner von Khyber aus, den Bezirk zu verlassen. Sollten die Menschen den Evakuierungsbefehlen der Armee Folge leisten, würden ihre Häuser in die Luft gesprengt, hieß es.

Die Streitkräfte hatten im Vorfeld eines dreitägigen Ultimatums an die Taliban, sich zu ergeben, Flugblätter aus Hubschraubern über Khyber abgeworfen, in denen die Zivilbevölkerung aufgefordert wurde, sich aus der Schusslinie zu bringen. Die Zivilisten stehen nun vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Einige halten sich an die Anordnungen der Taliban, während andere ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Kampfzone zu verlassen.

Zahir Afridi aus der Ortschaft Tirah in Khyber konnte sich vor kurzem bis zu dem Flüchtlingslager Jallozai, etwa 35 Kilometer von Peshawar entfernt, durchschlagen. Wie er berichtet, ist seine zweijährige Tochter krank und dringend auf medizinische Hilfe angewiesen.


Zerstörung von Hab und Gut

"Die Taliban ließen uns unter der Bedingung gehen, dass wir nach der Genesung unseres Kindes zurückkommen. Das werden wir jedoch nicht tun, da wir um unser Leben fürchten müssten", sagt er. "Die Menschen haben Angst vor den Taliban, weil diese die Häuser von 50 Stammesangehörigen zerstört haben, die vergangenes Jahr die Region verlassen hatten." Afridi zufolge sitzen die Menschen in Khyber in der Falle. Der einzige Ausweg sei die Emigration.

Die Zivilbevölkerung ist für die Islamisten unverzichtbar, weil sie ihnen als menschlicher Schutzschilde dient. Khadim Hussain, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation BKTEF, spricht von einer wohlkalkulierten Strategie der TTP, die Zivilisten in den Kampfgebieten festzuhalten. Laut Hussain wenden die Extremisten "vielfältige Taktiken" an, um ihre Machtposition zu erhalten. Dazu gehörten Entführungen gegen Lösegeld, Erpressungen und Morde.

Der Einsatz menschlicher Schutzschilde ist in der Region nichts Neues. Shams Rehman, Politologe am Regierungscollege in Peshawar, berichtet, dass die Taliban im Bezirk Swat in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa ähnlich vorgegangen seien, wo sie zwischen 2007 und 2009 herrschten. Die von der Armee 2009 begonnene Militäroperation in Swat habe zunächst nicht zum Erfolg geführt, weil sich die Taliban hinter den Einwohnern verschanzt hätten.

Anfang 2010 forderte die Regierung die Bevölkerung im Vorfeld einer Militäraktion schließlich dazu auf, in Lagern im nahegelegenen Bezirk Mardan Zuflucht zu suchen. Auf diese Weise habe "die Regierung die Kämpfer isoliert und besiegt", sagt Rehman. Nach dem gleichen Muster geht sie derzeit in Nord-Waziristan vor, wo während der vergangenen zehn Jahre Mitglieder von TPP und des Terrornetzwerks Al Qaeda eine feste Basis geschaffen haben, von der aus sie ihre Aktionen planen.


So manches Gebiet entvölkert

Jahrelang war die Regierung machtlos gegen dieses inoffizielle Machtzentrum, da zahlreiche Zivilisten mitten unter den Terroristen lebten. Mushtaq Khan von der Partei Jamaat-e-Islami erklärt, dass inzwischen auf fast 19 Prozent der Fläche Nord-Waziristans keine Zivilisten mehr lebten. Die Regierung führe dort massive Angriffe durch, um alle Extremisten zu vertreiben.

Die am 15. Juni begonnene Offensive hat bisher mehr als 500.000 Einwohner von Nord-Waziristan in die Flucht geschlagen. Die Menschen halten sich nun in Lagern in der benachbarten Provinz Khyber Pakhtunkhwa auf. Der Weg bis in die Zeltstädte ist äußerst beschwerlich. Vielen Vertriebenen haben die stundenlangen Fußmärsche unter sengender Sonne das Leben gekostet. Die Temperaturen in der Region können im Sommer bis zu 45 Grad Celsius erreichen.

Oftmals werden die Vertriebenen von ihren Angehörigen getrennt. Diejenigen, die Bannu sicher erreichen, könnten sich glücklich schätzen, wären die Lebensbedingungen in den Lagern nicht so grauenhaft. Es fehlt an Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und sanitären Anlagen. Auch die Verfügbarkeit von Ärzten, Pflegepersonal und Medikamenten ist begrenzt.

Den Bewohner von Khyber sind nun in einer ähnlich dramatischen Lage. Muhammad Shad, der vor kurzem mit seiner zwölfköpfigen Familie Peshawar erreichte, berichtet, dass man erst nach einem fünfstündigen Fußmarsch von einem Fahrzeug mitgenommen worden sei. "Wir fühlten uns alle bedroht", sagt der 55-jährige Lohnarbeiter, der jetzt im Lager Jallozai lebt. Viele Freunde und Nachbarn würden von den Taliban als Geiseln festgehalten.

Laut Shad machen die Extremisten ihre Drohungen wahr. Mitte August habe die TPP in Khyber 20 Häuser ehemaliger Kämpfer niedergebrannt, nachdem diese ihre Waffen der Armee übergeben hätten. Bisher haben etwa 95.000 Menschen den Bezirk verlassen, um der Kontrolle der Islamisten zu entkommen.

"Das Leben unter den Taliban ist nicht einfach", sagt Shahabuddin Khan aus Süd-Waziristan, der mit seiner Familie vor zwei Monaten nach Peshawar geflohen ist, um der Gewalt und den Drohungen der Islamisten zu entkommen. Insgesamt sind mehr als eine Million Menschen im Norden Pakistans vertrieben worden und mussten in anderen Provinzen Zuflucht suchen.

Militärsprecher Asim Bajwa zufolge hat das "entschlossene Handeln" der Regierung zur Befreiung einiger Gebiete geführt. Dort lebten die Menschen nun in Frieden. "Die Bevölkerung muss mit der Armee kooperieren. Dann können wir die Milizionäre für immer bekämpfen." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/choosing-between-death-and-death-in-pakistan/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2014