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STANDPUNKT/278: Geht in den Schuhen der anderen (Uri Avnery)


Geht in den Schuhen der anderen

von Uri Avnery. 6. April 2013



OBAMA IN ISRAEL. Jedes Wort richtig. Jede Geste echt. Jedes Detail an seinem richtigen Platz. Perfekt.

Obama in Palästina. Jedes Wort falsch. Jede Geste unpassend. Jedes einzelne Detail am falschen Ort. Perfekt.


ES FING schon mit dem ersten Augenblick an. Der Präsident der USA kam nach Ramallah. Er besuchte die Mukata'a, das Gebäude, das als Amtssitz des Präsidenten der Palästinensischen Behörde Mahmud Abbas dient.

Man kann die Mukata'a nicht betreten, ohne das Grab von Yasser Arafat, das wenige Schritte vom Eingang liegt, zu bemerken.

Es ist einfach unmöglich, dieses Wahrzeichen zu ignorieren, während man vorbeigeht. Obama gelang genau dieses.

Genausogut hätte er dem ganzen palästinensischen Volk ins Gesicht spucken können. Man stelle sich vor, ein ausländischer Würdenträger kommt nach Frankreich, ohne einen Kranz auf das Grab des unbekannten Soldaten zu legen. Oder er kommt nach Israel ohne Yad Vashem zu besuchen. Das ist mehr als eine Beleidigung. Das ist dumm.

Yasser Arafat ist für die Palästinenser das, was George Washington für die Amerikaner ist, Mahatma Gandhi für die Inder, David Ben Gurion für die Israelis. Der Vater der Nation. Selbst seine internen Opponenten auf der Linken und auf der Rechten halten das Gedenken an ihn in Ehren. Er ist das größte Symbol der modernen palästinensischen Nationalbewegung. Sein Bild hängt in jedem palästinensischen Büro und in jeder Schule.

Warum ihn also nicht ehren? Warum nicht einen Kranz auf sein Grab legen, wie es andere Führer vor ihm getan haben.

Weil Arafat in Israel dämonisiert und verleumdet worden war - wie kein anderes menschliches Wesen seit Hitler. Und so ist es noch heute.

Obama fürchtete einfach die israelische Reaktion. Nach seinem riesigen Erfolg in Israel fürchtete er, dass solch eine Geste die Wirkung seiner Rede vor dem israelischen Volk beeinträchtigen würde.


DIESE ÜBERLEGUNG begleitete Obama bei seinem kurzen Besuch auf der Westbank. Seine Füße waren in Palästina, sein Kopf war in Israel.

Er schritt durch Palästina. Er redete zu Palästina. Aber seine Gedanken waren bei den Israelis.

Selbst wenn er gute Dinge sagte, war sein Ton falsch, er konnte einfach nicht den richtigen Ton finden. Irgendwie fand er nicht das entscheidende Wort.

Warum? Weil ihm vollkommen die Empathie fehlte.

Empathie ist etwas, das schwer zu definieren ist. Ich bin in dieser Hinsicht verwöhnt worden, weil ich das Glück hatte, viele Jahre lang neben einem Menschen zu leben, der dies im Überfluss hatte. Rachel, meine Frau, traf bei jedem, ob vornehm oder einfach, ortsansässig oder ausländisch, ob alt oder sehr jung, den richtigen Ton.

Obama tat dies in Israel. Es war wirklich zu bewundern. Er muss uns gründlich studiert haben. Er kannte unsere Stärken und unsere Schwächen, unsere Wahnvorstellungen und Überempfindlichkeiten, unsere historischen Erinnerungen und Träume der Zukunft.

Und das ist kein Wunder. Er ist von zionistischen Juden umgeben. Sie sind seine engsten Berater, seine Freunde und seine Experten bezüglich des Nahen Ostens. Allein durch den Kontakt mit ihnen, übernimmt er offensichtlich viel von unserer Sensitivität.

Soweit ich weiß, gibt es im Weißen Haus und seiner Umgebung keinen einzigen Araber, geschweige denn einen Palästinenser.

Ich vermute, dass er gelegentlich Memoranda über arabische Angelegenheiten vom Außenministerium bekommt. Aber solch trockene Mitteilungen wecken keine Empathie. Umso mehr als kluge Diplomaten jetzt gelernt haben müssen, keine Texte zu schreiben, die die Israelis kränken könnten.

Wie sollte also der arme Mann sich etwaige Empathie gegenüber den Palästinensern erworben haben?


DER KONFLIKT zwischen Israel und Palästina hat sehr triftige auf Tatsachen beruhende Gründe. Aber er ist auch schon zu Recht als ein "Zusammenstoß zwischen Traumata" beschrieben worden: das Holocaust-Trauma der Juden und das Nakba-Trauma der Palästinenser (Ohne die beiden Kalamitäten zu vergleichen.)

Vor vielen Jahren traf ich in New York einen guten Freund von mir. Er war ein arabischer Bürger Israels, ein junger Poet, der Israel verlassen und sich der PLO angeschlossen hat. Er lud mich ein, in einem Vorort von New York in seinem Haus einige Palästinenser zu treffen. Sein Familienname war übrigens derselbe wie Obamas mittlerer Name.

Als ich die Wohnung betrat, war sie überfüllt mit Palästinensern sämtlicher Couleur - aus Israel, dem Gazastreifen, der Westbank, den Flüchtlingslagern und aus der Diaspora. Wir hatten eine sehr emotional geladene Debatte, voll hitziger Argumente und Gegenargumente. Als wir gingen, fragte ich Rachel, was ihrer Meinung nach das vorherrschende Empfinden all dieser Leute war. "Das Gefühl von Ungerechtigkeit!" antwortete sie ohne zu zögern.

Das war genau das, was ich auch empfand. "Wenn Israel sich für das entschuldigen könnte, was wir dem palästinensischen Volk angetan haben, dann würde ein Riesenhindernis aus dem Weg des Friedens weggeräumt worden sein", sagte ich ihr.

Es wäre ein guter Anfang für Obama in Ramallah gewesen, wenn er diesen Punkt angesprochen hätte. Nicht die Palästinenser waren es, die sechs Millionen Juden getötet haben. Es waren die europäischen Länder und - ja, auch - die USA, die den Juden, die verzweifelt dem Schicksal, das ihnen bevorstand, zu entfliehen versuchten, herzlos die Tore verschlossen. Wohingegen die muslimische Welt hundert Tausende Juden aufnahm, die aus dem katholischen Spanien und vor der Inquisition vor etwa 500 Jahren flohen.


UNSER KONFLIKT ist tragisch, schlimmer als die meisten anderen. Eine seiner Tragödien ist, dass keine der beiden Seiten allein angeklagt werden kann. Es gibt nicht eine Sichtweise, sondern zwei. Jede Seite ist von seiner absoluten Richtigkeit überzeugt. Jede Seite nährt ihr überwältigendes Gefühl des Opferseins. Obgleich es keine Ebenbürtigkeit zwischen Siedlern und Einheimischen, zwischen Besatzern und Besetzten gibt. In dieser Hinsicht sind sie gleich.

Das Problem mit Obama ist, dass er voll und ganz die eine Sichtweise verinnerlicht hatte, während er die andere fast völlig vergaß. Jedes Wort, das er in Israel äußerte, gab Zeugnis seiner tief verwurzelten zionistischen Überzeugung. Nicht nur die Worte, die er sagte, sondern auch der Ton, die Körpersprache, alles trug Anzeichen von Ehrlichkeit. Offensichtlich hatte er die zionistische Version jedes einzelnen Details dieses Konflikts in sich aufgenommen.

Nichts davon war in Ramallah zu sehen. Einige trockene Formeln. Einige ehrliche Bemühungen, um tatsächlich das Eis zu brechen. Aber nichts, das die Herzen der Palästinenser berührt.

Er riet seiner israelischen Zuhörerschaft, "sie sollten in den Schuhen der Palästinenser gehen". Aber tat er es selbst? Kann er sich vorstellen, was es bedeutet, jede Nacht auf das brutale Klopfen gegen die Tür zu warten? Vom Lärm der sich nähernden Bulldozer geweckt zu werden und sich zu fragen, ob sie zum Zerstören seines Hauses kommen, zu sehen, wie die Siedlung auf seinem Land wächst und auf die Siedler warten, die ein Pogrom in seinem Dorf ausführen? Oder sich nicht auf seinen Landstraßen bewegen dürfen? Oder zu sehen, wie sein Vater an den Checkpoints gedemütigt wird? Steine auf bewaffnete Soldaten zu werfen und dann dem Tränengas, Gummi ummantelten Stahlkugeln und zuweilen scharfen Geschossen ausgeliefert zu sein?

Kann er sich gar vorstellen, viele, viele Jahre einen Bruder, einen Cousin, einen geliebten Menschen im Gefängnis zu haben, wegen seiner patriotischen Aktionen oder seiner Überzeugung, nachdem er die Willkür eines "Militärgerichts" oder gar keinen Gerichtsprozess durchlaufen hatte?

In dieser Woche starb ein Gefangener, Maisara Abu-Hamidiyeh, im Gefängnis und die Westbank explodierte vor Wut und Zorn. Israels Journalisten machten den Protest lächerlich, indem sie feststellten, dass der Mann an Krebs gestorben war und man daher Israel nicht die Schuld geben kann.

Könnte sich einer von ihnen einen Moment lang vorstellen, was es für einen Menschen bedeutet, Krebs zu haben und von jeder wirklichen Behandlung ausgeschlossen, von der Familie und Freunden abgeschnitten zu sein, während sich die Krankheit langsam in seinem Körper ausbreitet und er sich dem Tode nähert? Was, wenn es ihr Vater gewesen wäre?


DIE BESATZUNG ist keine abstrakte Angelegenheit. Es ist die tägliche Realität für zweieinhalb Millionen Palästinenser in der Westbank und Ostjerusalem, ganz zu schweigen von den Beschränkungen in Gaza.

Es betrifft nicht nur die Einzelnen, denen tatsächlich die Menschenrechte verweigert werden. Es betrifft hautsächlich die Palästinenser als Nation.

Wir Israelis fühlen vielleicht mehr als andere, was es heißt, zu einer Nation im eigenen Land mit einer eigenen Fahne zu gehören und dass dies ein Grundrecht jedes menschlichen Wesens ist. In der gegenwärtigen Epoche ist es ein Teil der menschlichen Würde. Kein Volk wird sich mit weniger begnügen.

Die israelische Regierung besteht darauf, dass die Palästinenser Israel als den "Nationalstaat des jüdischen Volkes" anerkennen müssen. Sie weigert sich Palästina als "Nationalstaat des palästinensischen Volkes" anzuerkennen. Welche Position bezieht Obama zu diesem Punkt?


NACH DEM Besuch arbeitet nun John Kerry hart daran, die "Grundlage" für eine "Wiederaufnahme" der "Friedensgespräche" zwischen Israel und der PLO vorzubereiten. (Viele Gänsefüßchen für so etwas Fadenscheiniges.)

Diplomaten können hohle Phrasen an einander reihen, um die Illusion des Fortschrittes zu beschwören. Das ist einer ihrer Haupttalente. Aber nach einem 130 Jahre dauernden Konflikt kann es keinen wirklichen Fortschritt in Richtung Frieden zwischen den beiden Völkern geben, wenn es keinen gleichwertigen Respekt vor ihrer nationalen Geschichte, ihren Rechten, Gefühlen und Hoffnungen gibt.

So lange die US-Führung nicht zu dieser Auffassung kommt, bleibt die Chance, in diesem gequälten Land zum Frieden beizutragen, nahezu bei null.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Quelle:
Uri Avnery, 06.04.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2013