Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/353: Kapitän Boykott reitet wieder (Uri Avnery)


Kapitän Boykott reitet wieder

von Uri Avnery, 22. Februar 2014



ES IST immer ein geheimes Ziel von mir gewesen, einen Bagatz zu haben, der meinen Namen trägt.

Bagatz ist das hebräische Acronym für "Oberster Gerichtshof", die israelische Entsprechung für ein Verfassungsgericht. Es spielt eine sehr wichtige Rolle im öffentlichen Leben Israels.

Wenn eine bahnbrechende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nach jemandem benannt wird, verleiht ihm das eine gewisse Unsterblichkeit. Lange nach seinem Hinscheiden werden Anwälte seinen Fall zitieren und ihn weiter diskutieren.

Man denke nur an Roe gegen Wade, zum Beispiel. Wann immer in den USA von Abtreibung die Rede ist, wird über Roe gegen Wade (1973) debattiert, obwohl sich nur wenige daran erinnern, wer Jane Roe und Henry Wade tatsächlich waren. Nun gibt es "Uri Avnery und andere gegen die Knesset und den Staat Israel", ein Fall, der in dieser Woche vor den israelischen Obersten Gerichtshof kam. Es ging um das Anti-Boykott-Gesetz, das von der Knesset erlassen wurde.

Ein paar Stunden, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, reichten Gush Shalom und ich persönlich unser Antragsformular ein, um dieses annullieren zu lassen. Wir hatten unsere rechtlichen Argumente schon im Voraus vorbereitet. Darum trägt es meinen Namen. Die Antragsteller, die respektlos "die anderen" genannt wurden, sind ein Dutzend Menschenrechtsorganisationen, jüdische wie arabische, die sich uns anschlossen.

Nach diesem Ego-Trip lasst uns zur Hauptsache kommen.


DIE GERICHTSSITZUNG war ziemlich ungewöhnlich. Anstelle der üblichen drei Richter, die sich normalerweise mit solchen Antragsformularen befassen, waren es diesmal neun Richter - fast die ganze Mannschaft des Gerichtes saß am Tisch. Fast ein Dutzend Anwälte stritten für beide Seiten. Unter ihnen war auch unsere eigene Anwältin Gabi Lasky, die den Fall für die Antragsteller eröffnete.

Die Richter waren keine passiven Zuhörer, die wie üblich gegen Langeweile ankämpfen. Alle neun Richter intervenierten ständig, stellten Fragen, unterbrachen mit provozierenden Bemerkungen. Offensichtlich waren sie sehr daran interessiert.

Das Gesetz erklärt Boykotte als solche nicht für ungesetzlich. Der ursprüngliche Hauptmann Charles Boykott wäre nicht darin verwickelt gewesen.

Boykott war der Vertreter eines nicht ortsansässigen Grundbesitzers in Irland, der jene Pächter vertrieb, die nicht in der Lage waren, ihre Pacht während der irischen Hungersnot von 1880 zu zahlen. Statt mit Gewalt gegen ihn vorzugehen, riefen irische Führer ihre Leute auf, ihn zu ächten. Er wurde "boykottiert" - keiner sprach mit ihm, arbeitete für ihn, trieb Handel mit ihm oder lieferte ihm gar seine Post aus. Pro-britische Freiwillige wurden geholt, um für ihn zu arbeiten; geschützt wurden sie von tausend britischen Soldaten. Aber bald breitete sich das "Boykottieren" aus und wurde in die englische - und andere - Sprachen integriert.

Jetzt bedeutet Boykott natürlich eine Menge mehr, als eine einzelne Person zu ächten. Es ist ein Hauptmittel des Protestes, das beabsichtigt, das Objekt moralisch und wirtschaftlich zu schädigen, etwa wie in der Industrie ein von Arbeitern angezettelter Streik.

In Israel gibt es eine Anzahl von Boykotts, die die ganze Zeit weiter gehen. Die Rabbiner rufen fromme Juden auf, Läden zu boykottieren, die nicht koschere Lebensmittel verkaufen, oder Hotels, die heiße Mahlzeiten am heiligen Sabbat servieren. Konsumenten, die sich über zu hohe Kosten von Lebensmitteln aufregten, boykottierten Hüttenkäse, was im Sommer 2011 zu Massenprotesten führte. Keiner hat sich darüber entrüstet.

Bis er die Siedlungen erreichte.


1997 ERKLÄRTE Gush Shalom, die Bewegung, zu der ich gehöre, den ersten Boykott gegen die Siedlungen. Wir riefen die Israelis auf, keine Waren zu kaufen, die von Siedlern in den besetzten palästinensischen Gebieten produziert werden.

Es verursachte keinen Aufruhr. Als wir zu einer Pressekonferenz aufriefen, kam kein einziger israelischer Journalist - etwas, das ich nie vorher und danach erlebte.

Um die Aktion in Gang zu bringen, veröffentlichten wir eine Liste mit den Unternehmen, die in den Siedlungen sitzen. Zu unserer großen Überraschung fragten Zehntausende von Konsumenten nach der Liste. So kam der Ball ins Rollen.

Wir riefen nicht zu einem Boykott von Israel auf. Im Gegenteil. Unser Hauptziel war, den Unterschied zwischen dem eigentlichen Israel und den Siedlungen zu betonen. Auf einem unserer Stickers steht: "Ich kaufe nur Produkte aus Israel - nicht die Produkte der Siedlungen!"

Während die Regierung alles Mögliche tat, um die Grüne Linie (die ehemalige Grenze) verschwinden zu lassen, war es unser Ziel, sie wieder ins Gedächtnis der israelischen Öffentlichkeit zu bringen.

Es war auch unser Ziel, die Siedlungen wirtschaftlich zu schädigen. Die Regierung arbeitet Tag und Nacht daran, Leute in die Siedlungen zu locken, indem sie jungen Paaren, die sich keine Wohnung im eigentlichen Israel leisten können, private Villen anbietet, sowie ortsansässige und ausländische Investoren mit riesigen Subventionen und Steuernachlässen ködert. Der Boykott beabsichtigte, diesen finanziellen Anreizen entgegen zu wirken.

Uns faszinierte auch das Wesen eines Boykotts: Er ist demokratisch und gewaltlos. Jeder kann ihn im Stillen in seinem privaten Leben betreiben, ohne sich selbst andern gegenüber dazu bekennen zu müssen.


DIE REGIERUNG entschied, den Schaden so gering wie möglich zu halten, indem sie uns ignorierte. Aber als unsere Initiative sich auch im Ausland ausbreitete, waren sie alarmiert. Besonders, als die EU sich entschied, die Bestimmungen ihrer Handelsabkommen mit Israel zu erfüllen. Dies bringt große Vergünstigungen für Israels Exporte, schließt aber die Siedlungen aus, die nach dem Internationalen Gesetz eindeutig illegal sind.

Die Knesset reagierte wütend und widmete dieser Sache einen ganzen Tag. (Falls mir ein zweiter Egotrip erlaubt ist: Ich entschied mich, an dieser Sitzung teilzunehmen. Als früheres Mitglied wurden mir und Rachel als Ehrengäste Plätze in der Galerie angeboten. Als uns ein Sprecher des rechten Flügels bemerkte, wandte er sich um, und nach eklatantem Bruch der parlamentarischen Etikette, zeigte er auf uns und knurrte: "dort sitzt ja das königliche Paar der Linken!")

Auch im Ausland zielte der Boykott anfangs auf die Siedlungen, aber unter dem Eindruck der Erfahrungen mit dem Anti-Apartheids-Kampf verwandelte er sich langsam in einen allgemeinen Boykott Israels. Ich unterstütze diesen nicht. Meiner Meinung nach ist er kontraproduktiv, da er die normale Bevölkerung in die Arme der Siedler treibt, nach dem alten Slogan: "die ganze Welt ist gegen uns".

Das wachsende Ausmaß der verschiedenen Boykotte konnte nicht länger ignoriert werden. Die israelische Rechte entschied zu handeln - und sie tat es in sehr kluger Weise.

Sie nutzte den Aufruf zum Boykott Israels aus, um den Aufruf zum Boykott der Siedlungen zu ächten, denn genau dieser Teil war es, der ihnen wirklich Sorgen bereitete. Das ist das Wesentliche des Gesetzes, das vor zwei Jahren verabschiedet wurde.


DAS GESETZ verurteilt nicht die einzelnen Boykottierenden. Es verurteilt jeden, der öffentlich zu einem Boykott aufruft.

Und zu was für einer Strafe! Keiner Gefängnisstrafe, die uns zu Märtyrern machen würde. Das Gesetz sagt, dass jedes Individuum, das meint, es sei durch den Boykott geschädigt worden, den Boykottaufrufer auf unbegrenzten Schadensersatz verklagen kann, ohne den Schaden nachweisen zu müssen. Das könnten Hunderte so machen. Auf diese Weise könnten die Initiatoren eines Boykotts dazu verurteilt werden, Millionen von Schekel zu zahlen.

Das gilt nicht für jeden Boykott. Boykotte gegen Schweinefleisch oder Hüttenkäse fallen nicht darunter. Es geht nur um Boykotte, die sich gegen Institutionen oder Leute richten, die mit dem Staat Israel oder - hier kommen die drei schicksalshaften hebräischen Wörter - "einem von Israel regierten Gebiet" verbunden sind.

Klar, das ganze rechtliche Gebäude wurde nur wegen dieser drei Worte gebaut. Das Gesetz schützt nicht Israel. Es schützt die Siedlungen. Das ist der einzige Zweck.

Dutzende von Fragen, die sich vor allem um diesen Punkt drehten, prasselten auf unsere Anwälte nieder.

Würden wir mit dem Streichen dieser drei Worte zufrieden sein? (Gute Frage. Natürlich würden wir damit zufrieden sein. Aber wir konnten dies nicht so sagen, weil unser Hauptargument war, dass das Gesetz die freie Meinungsäußerung einschränkt. Das gilt für das ganze Gesetz).

Hätten wir ein Gesetz angefochten, das gegen den arabischen Boykott gerichtet wäre, der gegen Israel während ihrer frühen Jahre durchgeführt wurde? (Die Umstände waren völlig andere).

Sind wir gegen die Redefreiheit der Rabbiner, die verbieten, Wohnungen an arabische Bürger zu vermieten? (Das ist kein Boykott, sondern krasse Diskriminierung.)

Nach stundenlanger Debatte vertagte das Gericht die nächste Sitzung. Das Urteil wird zu irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt gesprochen. Wahrscheinlich wird es eine Mehrheits- und mehrere Minderheitsentscheidungen geben.

Wird das Gericht es wagen, ein Gesetz der Knesset aufzuheben? Das würde wirklichen Mut verlangen. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Mehrheit der Richter sich entscheiden wird, das Gesetz so zu lassen, wie es ist, aber die Worte zu streichen, die die Siedlungen betreffen.

Anderenfalls wäre das ein weiterer Schritt, Israel in einen Siedler-Staat zu verwandeln - einen Staat der Siedler durch die Siedler und für die Siedler.

Dafür gibt es Beispiele in der Geschichte. Der hoch angesehene britische Historiker Arnold Toynbee - einer meiner Favoriten - stellte einmal eine Liste zusammen von Ländern, die von den Bewohnern ihrer Grenzregionen übernommen wurden. Diese sind in der Regel kühner und fanatischer als die verwöhnten Bewohner des Kernlandes. Zum Beispiel übernahmen die Preußen, die damals die Bewohner einer entfernten Grenzregion waren, zuerst halb Deutschland und dann den Rest. Das Grenzgebiet Savoy schuf das moderne Italien.


WAS AUCH immer da herauskommen mag: die Entscheidung im Falle "Uri Avnery und andere gegen die Knesset und den Staat Israel" wird wohl noch lange zitiert werden.

Das ist wenigsten eine gewisse Befriedigung.


Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

*

Quelle:
Uri Avnery, 22.02.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2014