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STANDPUNKT/464: Die wirkliche Nakba (Uri Avnery)


Die wirkliche Nakba

von Uri Avnery, 6.6.2015


VOR DREI Wochen war Nakbatag - der Tag, an dem Palästinenser innerhalb und außerhalb Israels an ihre "Katastrophe" denken - den Exodus von mehr als der Hälfte des palästinensischen Volkes aus den von Israel besetzten Gebieten im Krieg von 1948.

Jede Seite hat ihre eigene Version dieses folgenschweren Ereignisses.

Nach der arabischen Version kamen die Juden aus dem Nichts, griffen ein friedliebendes Volk an und vertrieben die Menschen von ihrem Land.

Nach der zionistischen Version akzeptierten die Juden den Kompromiss-Teilungsplan der UN, die Araber lehnten ihn jedoch ab und begannen einen blutigen Krieg. Während des Krieges sind sie von den arabischen Staaten überredet worden, ihre Häuser zu verlassen, um dann mit den siegreichen arabischen Armeen zurückzukehren.

Beide Versionen sind blanker Unsinn - eine Mischung von Propaganda, Legende und verdrängten Schuldgefühlen.

Während des Krieges war ich Mitglied einer mobilen Kommando-Einheit, die auf der ganzen Südfront aktiv war. Ich war ein Augenzeuge der dortigen Geschehnisse.

Ich schrieb während des Krieges ein Buch ("In den Feldern der Philister") und eines direkt nach dem Krieg ("Die Kehrseite der Medaille"). Sie erschienen zusammen 1948 auf Deutsch unter dem Titel "Die Kehrseite der Medaille". Ich schrieb auch in der ersten Hälfte meiner Autobiografie (Optimistisch), die letztes Jahr auf Hebräisch erschienen ist, ein Kapitel über diese Ereignisse. Ich werde zu berichten versuchen, was wirklich geschah.


ZU ALLERERST müssen wir uns davor hüten, 1948 mit den Augen von 2015 zu sehen. So schwierig es auch sein mag, wir müssen versuchen, uns in die Realität von damals zu versetzen. Anders sind wir nicht in der Lage, das zu verstehen, was tatsächlich geschah.

Der Krieg von 1948 war einmalig. Er war eine Folge historischer Ereignisse, die nirgendwo eine Parallele hatten. Es ist unmöglich zu verstehen, was damals geschah, wenn man nicht den historischen, psychologischen, militärischen und politischen Hintergrund berücksichtigt. Weder die Auslöschung der Ureinwohner Amerikas durch die weißen Siedler noch die verschiedenen kolonialen Genozide ähneln dem.

Die unmittelbare Ursache war die UN-Resolution vom November 1947: die Teilung Palästinas. Sie wurde von den Arabern, die die Juden als fremde Eindringliche ansahen, sofort abgelehnt. Die jüdische Seite akzeptierte diese Teilung. Aber David Ben Gurion rühmte sich später damit, er hätte nicht die Absicht gehabt, mit den Grenzen von 1947 zufrieden zu sein. Als der Krieg Ende 1947 begann, lebten im britisch beherrschten Palästina über 1.250.000 Araber und 635.000 Juden. Sie lebten in enger Nachbarschaft miteinander, aber in den Städten (Jerusalem, Tel-Aviv-Jaffa, Haifa) in getrennten Vierteln und nebeneinander in benachbarten Dörfern.

Der Krieg von 1948/49 bestand tatsächlich aus zwei Kriegen, die ineinander übergingen. Vom Dezember 1947 bis Mai 1948 war es ein Krieg zwischen den Arabern und der jüdischen Bevölkerung innerhalb Palästinas, von Mai 1948 bis zum Waffenstillstand Anfang 1949 war es ein Krieg zwischen der neuen israelischen Armee und den Armeen der arabischen Länder, vor allem Jordaniens, Ägyptens, Syriens und des Irak.


IN DER ersten und entscheidenden Phase war die palästinensische Seite in zahlreichen Dörfern klar überlegen. Die arabischen Dörfer beherrschten fast alle Landstraßen; die Juden konnten sich nur in eilig gepanzerten Bussen und mit bewaffneten Wächtern bewegen.

Doch die jüdische Seite hatte eine geeinte Führung unter Ben Gurion und stellte eine geeinte disziplinierte Militärmacht auf, während die Palästinenser nicht in der Lage waren, eine geeinte Führung und eine geeinte Armee aufzustellen. Das erwies sich als ausschlaggebend.

Auf beiden Seiten gab es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Kämpfern und den Zivilisten. Die arabischen Dorfbewohner besaßen Gewehre und Pistolen und eilten herbei, wenn eine vorbeifahrende jüdische Fahrzeugkolonne angegriffen werden sollte. Die meisten Juden waren in der Haganah organisiert, der bewaffneten Untergrund-Verteidigungstruppe. Die beiden "terroristischen" Organisationen, der Irgun und die Stern-Gruppe, vereinigten sich mit der gemeinsamen Kraft, der Haganah.

Auf beiden Seiten wusste man, dass dies ein existentieller Kampf war.

Auf der jüdischen Seite bestand die unmittelbare Aufgabe darin, die arabischen Dörfer an den Landstraßen zu beseitigen. Das war der Beginn der Nakba.

Von Anfang an warfen Gräueltaten böse Schatten. Wir sahen Araber, die in Jerusalem mit abgetrennten Köpfen unserer Kameraden marschierten. Es gab auch Gräueltaten, die von unserer Seite begangen wurden, die ihren Höhepunkt in dem berühmten Deir Yassin-Massaker erreichten. Die in der Nähe Jerusalems gelegene Ortschaft Deir Yassin wurde von einer Irgun-Stern-Truppe angegriffen. Viele ihrer männlichen Einwohner wurden getötet und die Frauen wurden im jüdischen Teil Jerusalems zur Schau gestellt. Zwischenfälle wie diese schufen die Atmosphäre des Existenzkampfes.

Durchweg war es ein ethnischer Kampf zwischen zwei Seiten, die beide das ganze Land als ausschließlich ihr eigenes Heimatland beanspruchten und die Berechtigung der Ansprüche der jeweils anderen Seite leugneten. Lange bevor der Ausdruck "Ethnische Säuberung" aufkam, geschah dies während des ganzen Krieges. Nur wenige Araber blieben in den von Juden eroberten Gebieten (im Etzion Block, in der Altstadt von Jerusalem). In den wenigen von arabischer Seite eroberten Stadtteilen blieben überhaupt keine Juden.

Als der Mai näher kam und die Erwartung, dass die arabischen Armeen in den Konflikt eintreten würden, stieg, versuchte die jüdische Seite eine Zone zu schaffen, aus der alle nicht jüdischen Bewohner entfernt wurden.

Man muss verstehen, dass die arabischen Flüchtlinge nicht "das Land verließen". Als ihre Dörfer beschossen wurden - gewöhnlich bei Nacht - flohen sie mit ihren Familien ins nächste Dorf, das dann auch unter Feuer genommen wurde, und so weiter. Am Ende befand sich zwischen ihnen und ihrem Heim die Grenze einer Waffenstillstandslinie.


DER PALÄSTINENSISCHE Exodus war kein geradliniger Prozess: Er veränderte sich von Monat zu Monat, von Ort zu Ort und von Situation zu Situation.

Einige Beispiele: Die Bevölkerung von Lod wurde durch wahllosen Beschuss in die Flucht getrieben. Als Safed erobert wurde, geschah - so der Kommandant - Folgendes: "Wir vertrieben sie nicht, wir öffneten nur einen Korridor, durch den sie fliehen konnten".

Bevor Nazareth besetzt wurde, unterschrieben die örtlichen Führer eine Kapitulationsurkunde und den Stadtbewohnern wurde daraufhin Leben und Eigentum garantiert.

Dem jüdischen Kommandeur, einem kanadischer Offizier mit Namen Dunkelman, wurde dann mündlich befohlen, sie zu vertreiben. Er weigerte sich und verlangte einen schriftlichen Befehl, der niemals ankam. Darum ist Nazareth noch heute eine arabische Stadt.

Als Jafa erobert wurde, flohen die meisten Einwohner übers Meer nach Gaza. Diejenigen die nach der Übergabe blieben, wurden auf Lastwagen geladen und in Richtung Gaza geschickt.

Während der große Teil der Vertreibung aus militärischer Notwendigkeit geschah, gab es sicher einen unbewussten, halb bewussten oder bewussten Wunsch, die arabische Bevölkerung loszuwerden. Der "lag" der zionistischen Bewegung sozusagen "im Blut". Lange bevor ihr Gründer Theodor Herzl über Palästina auch nur nachdachte, schlug er im ursprünglichen Entwurf seines bahnbrechenden Buches "Der Judenstaat" vor, seinen jüdischen Staat in Patagonien (Argentinien) zu gründen und und forderte, alle einheimischen Bewohner zu vertreiben.

Nachdem sich die arabischen Armeen im Mai in den Krieg eingemischt hatten, wurden die Ägypter nur 22 km vor Tel Aviv gestoppt. Mit der UN wurde eine einmonatige Feuerpause verabredet, die von der israelischen Seite genutzt wurde, sich zum ersten Mal mit schweren Waffen (Artillerie, Panzern, Kampffliegern) auszurüsten, die Stalin Israel verkauft hatte. Im sehr heftigen Kampf im Juli verschob sich das Gleichgewicht und die israelische Seite gewann die Oberhand.

Von da an wurde die politische Entscheidung - die von der militärischen unterschieden werden muss - getroffen, die arabische Bevölkerung zu vertreiben. Die militärischen Einheiten bekamen den Befehl, auf jeden Araber zu schießen, der versuchte, in sein Heimatdorf zurückzukehren.

Der entscheidende Moment kam zum Ende des Krieges, als entschieden wurde, den Flüchtlingen die Rückkehr zu verwehren. Es gab keine offizielle Entscheidung. Die Idee kam nicht einmal auf, als die jüdischen Flüchtlinge aus Europa, die Überlebenden des Holocaust, das Land überfluteten und die Orte füllten, die von den Arabern verlassen worden waren.

Die zionistische Führung war sicher, dass innerhalb einer oder zweier Generationen die Flüchtlinge vergessen sein werden. Das war ein Irrtum.


ES SOLLTE daran erinnert werden, dass all dies nur wenige Jahre nach der Massenvertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und den baltischen Staaten geschah, einer Vertreibung, die als ganz natürlich akzeptiert wurde.

Die Nakba wurde aufgrund des Charakters aller Beteiligten, Tätern wie Opfern, zu einer griechischen Tragödie aufbereitet.

Jede Lösung des "Problems" müsste mit einer aufrichtigen Entschuldigung Israels für die Rolle, die es in der Nakba gespielt hat, beginnen.

Zur praktischen Lösung muss die symbolische Rückkehr wenigstens einer vereinbarten Anzahl von Flüchtlingen in israelisches Gebiet gehören, dazu eine Wiederansiedlung der Mehrheit der Flüchtlinge im Staat Palästina, sobald er zustande gekommen ist, und großzügige Entschädigungen für die, die beschließen zu bleiben, wo sie sind, oder die anderswohin auswandern wollen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 06.06.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2015

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