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STANDPUNKT/475: Die zweite Schlacht von Trafalgar (Uri Avnery)


Die zweite Schlacht von Trafalgar

von Uri Avnery, 4.7.2015


EINE MÄCHTIGE Seeschlacht fand diese Woche auf den Wogen des Mittelmeers statt. Sie wird in die Geschichte eingehen wie die von Salamis oder Trafalgar.

Durch ein gewagtes Unternehmen fing die Marine des Staates Israel den Feind ab, der aus der Jacht "Marianne von Gotenburg" und 18 Leuten an Bord bestand. Israels Marinekommandos fingen das Schiff ab und schleppten es in den Hafen von Ashdod.

Der Admiral, der diese ruhmreiche Aktion leitete, ist bescheiden anonym geblieben. Deshalb können wir ihn nicht mit einer Säule mitten in Tel Aviv ehren, wie Admiral Horatio Nelsons Denkmal auf Londons Trafalgar-Platz. Schade.

Doch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lobte den Mut der Sieger in glühenden Worten, die die Dankbarkeit und Bewunderung der Nation für ihre tapfere Tat zum Ausdruck brachten.


ICH WÜRDE gern in dieser Weise fortfahren, aber selbst der Sarkasmus hat seine Grenzen.

Die ganze Affäre war ein Meisterstück an Dummheit.

Vor fünf Jahren versuchten einige Boote Gaza zu erreichen. Das sollte ein symbolischer Akt der Unterstützung der belagerten Enklave sein - und die israelische Marine ließ sie passieren. Niemand hat die Angelegenheit je wieder erwähnt.

Dann kam die "türkische Flotilla". Mehrere Boote wurden von dem größeren türkischen Schiff Mavi Marmara mit Hunderten türkischer und internationaler Friedensaktivisten an Bord geleitet. Dieses Mal waren Netanjahu und seine Lakaien entschlossen, der Welt zu zeigen, dass Israel die Wellen beherrscht. Er befahl einen Angriff auf die Flotilla.

Israelische Marinesoldaten wurden von einem Hubschrauber zum Deck der Marmara herabgelassen. In dem anschließenden Handgemenge wurden neun Türken (einer davon auch ein amerikanischer Bürger) erschossen. Ein Zehnter starb später an seinen Verletzungen. Alle waren unbewaffnet, aber sie leisteten gewalttätigen Widerstand.

Die anderen Boote wurden ohne gewaltsamen Widerstand gekapert. Alle wurden in den Hafen von Ashdod gebracht.

Die internationale Reaktion war ungeheuerlich. Für viele wurde die Marmara ein Symbol für israelische Brutalität. Die Propaganda-Katastrophe zwang Netanjahu, alle gefangenen Aktivisten und die Mannschaft frei zu lassen und sie nach Hause zu schicken.

Was ein unbedeutender, schnell vergessener Zwischenfall hätte sein können, wurde zu einem großen Sieg für die Aktivisten. Die ganze Welt nahm daran teil. Die Gaza-Blockade wurde zum Mittelpunkt des internationalen Interesses.


NOCH SCHLIMMER waren die politischen Konsequenzen. Die Türkei wurde zum Feind.

Viele Jahre war die Türkei - und besonders das türkische Militär - ein zuverlässiger Verbündeter Israels. Die beiden nicht-arabischen Mächten im Nahen Osten knüpften geheime Beziehungen. Während der Herrschaft von David Ben-Gurion wurde eine "Theorie der Peripherie" zum Eckpfeiler von Israels Regionalpolitik. Dieser Politik entsprechend schloss Israel inoffiziell eine Allianz mit den nicht-arabischen Staaten, die die arabische Welt umgab: die kemalistische Türkei, der Iran des Shah, Äthiopien, Tschad etc.

Israel verkaufte den Türken Waffen. Gemeinsame Manöver wurden abgehalten. Schließlich wurden diplomatische Beziehungen geknüpft.

All dies endete mit der Marmara-Affäre (mit Ausnahme des militärischen Teils, der im Geheimen weiterging.) Die Emotionen gingen hoch. Die türkische öffentliche Meinung reagierte mit Wut. Israel weigerte sich, die hohen Entschädigungssummen für die trauernden Familien zu zahlen. (Verhandlungen darüber gehen weiter.)

Recep Tayyip Erdogan, ein geschickter Politiker, nutzte den Vorfall, um die Fronten zu wechseln und den türkischen Einfluss auf arabische Länder, die zum ehemaligen Osmanischen Reich gehört hatten, wiederherzustellen.

Was hat Israel bei dem Vorfall gewonnen? Nichts.


HAT DIE israelische Regierung aus dem Debakel irgendwelche Schlüsse gezogen?

Wie konnten sie? Für sie war es überhaupt kein Debakel, sondern eher eine wunderbare Demonstration des israelischen Könnens und der Entschlossenheit. Der Vorfall dieser Woche war die unvermeidbare Folge. Und mehr wird folgen.

Um die Ergebnisse einer feindlichen Begegnung abzuwägen, muss man die Frage stellen, was jede der beiden Seiten ursprünglich erreichen wollte.

Die Organisatoren der Flotillen wollten provozieren, damit die Aufmerksamkeit der Welt sich auf die schändliche Blockade richtet. Von ihrem Gesichtspunkt aus dient die israelische Reaktion ihrem Zweck auf wunderbare Weise.

Netanjahu will, dass die Blockade weitergeht und so wenig wie möglich an Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die Angriffe auf die Schiffe kontraproduktiv, kurz gesagt: sie sind dumm.


DIE HAUPTFRAGE ist natürlich: Warum - um Gottes Willen - gibt es da überhaupt eine Blockade? Welchem Zweck dient sie?

Offiziell ist ihr Zweck, den Waffenschmuggel in den Gazastreifen zu verhindern, um so die Hamas daran zu hindern, Israel anzugreifen.

Wenn es so ist, warum das ganze Drama? Boote, die angeblich Medikamente und Nahrungsmittel nach Gaza bringen wollen, können mit gegenseitigem Einverständnis in den Abfahrtshäfen durchsucht werden. Die Organisatoren können sich dieser Forderung nicht widersetzen, ohne Verdacht zu erregen.

Oder: die Boote können auf hoher See gestoppt, durchsucht und dann entlassen werden. Solch eine Prozedur ist ganz normal.

Die israelische Regierung hat diese Möglichkeiten nicht genutzt und damit den Verdacht erregt, dass der Zweck der Blockade ein ganz anderer ist: Es geht darum zu vermeiden, dass irgendwelche Vorräte den Gazastreifen erreichen, sodass das übervölkerte Gebiet vollkommen von den Lieferungen, die aus Israel kommen, abhängig ist. Israel lässt nur das durch, was unbedingt zum Leben nötig ist.

Der verborgene Zweck ist, die 1,8 Millionen Bewohner - die Mehrheit sind Nachkommen der Flüchtlinge aus Israel - am Rande des Verhungerns dahinvegetieren zu lassen, um sie dazu zu bringen, die Machthaber der Hamas zu stürzen. Wenn das der Fall ist, war es ein elender Misserfolg. Im Gegenteil, unter dem grausamen Druck schließen sich die Einwohner nur umso enger der Hamas an. Schließlich ist die Hamas kein ausländischer Eindringling, sondern sie besteht aus Brüdern und Söhnen der Bewohner.

Lassen wir die Frage beiseite, ob die Blockade nach internationalem Recht legal ist oder nicht. Sie hat nicht das erfüllt, was Israel sich davon versprochen hat. Die Herrschaft der Hamas in Gaza scheint so solide wie immer zu sein.


WENN DAS so ist, könnte man die entgegengesetzte Möglichkeit aufgreifen. Warum nicht die Blockade im Ganzen aufheben? (Undenkbar!)

Ich kann mir eine Situation von offenen Grenzen und ein offenes Meer vorstellen. Nahrungsmittel, Medizin, Baumaterial und alles andere - außer Waffen - kommen aus allen Richtungen - übers Meer und übers Land von Ägypten und Israel.

Warum lässt man die Gazaner nicht einen Hafen bauen. Warum lässt man sie nicht ihren Flughafen neu errichten? Das wunderbare Gebäude, das sie einst nahe Dahariya bauten, wurde von unserer Armee zerstört. Warum nicht wieder aufbauen?

Die einfache Logik diktiert: je mehr die Leute von Gaza zu verlieren haben, umso weniger werden sie geneigt sein, einen weiteren Krieg zu provozieren. Wenn wir wirklich Ruhe und Frieden wollen, dann wäre dies der Weg.

Ja aber, wie steht es mit den Waffen? Eine strenge Überwachung durch internationale Kontrolleure müsste erfolgen. Das ist in der Geschichte schon vorher praktiziert worden. Kein Problem.


HINTER DER taktischen Dummheit dieser ganzen Affäre lauert eine viel größere strategische Dummheit.

Die Atmosphäre des Nahen Ostens ist voller Gerüchte über andauernde geheime Bemühung, einen Israel-Hamas-Waffenstillstand zu schmieden, ja, eine Art Bündnis.

Das gründet sich auf die Abneigung der israelischen Regierung, den Gazastreifen mit seinen 1,8 Millionen palästinensischen Arabern zurück zu erobern. Das ist nicht nur ein Sicherheitsproblem - ein Guerilla-Krieg der Hamas wäre gewiss -, es ist etwas viel Schlimmeres. Was wirklich alle israelischen Regierungen - die rechten wie die linken - erschreckt, ist die Demographie. 1,8 Millionen weitere Araber, die sich fortwährend vervielfachen? Ein Albtraum für Zionisten!

In all den Träumen über die Annexion der Westbank wird der Gazastreifen immer außen vor gelassen. Es stimmt zwar, dass er geographisch und historisch ein Teil von "Eretz Israel" ist, aber wer will ihn? Zum Teufel mit ihm!

Unsere jetzige Regierung, die zusammengesetzt ist aus extremen Rechten, will irgendwann die Westbank annektieren mit so wenig wie möglich arabischen Palästinensern. Deswegen ist Mahmoud Abbas ein weit gefährlicherer Feind für Netanjahu und seinesgleichen als die Hamas. Abbas findet international Anerkennung. Er erfreut sich wachsender UN- und US-Unterstützung.

Nach dieser Logik könnte von Netanjahu erwartet werden, dass er gegen Abbas kämpft und die Hamas unterstützt und dabei einen getrennten Ministaat in Gaza schafft. Aber er benimmt sich wie ein Kind, das zwischen zwei Süßigkeiten wählen soll, aber beide haben will.

Also versucht er, Abbas zu untergraben, während er gleichzeitig seine ruhmreiche Schlacht auf hoher See gegen die Hamas kämpft. Aber er steckt auch in geheimen Verhandlungen mit seinen neuen Freunden Saudi Arabien und Ägypten, um einen lang anhaltenden Waffenstillstand ("Hudna") mit der Hamas zu schmieden.

Kompliziert? Tatsächlich.

Noch etwas Persönliches: Ich bin gefragt worden, warum ich nicht auf dem Boot war, das in dieser Woche die Blockade zu durchbrechen versuchte.

Offen gesagt, ich hätte dies gern gemacht. Ich liebe das Meer. Ich liebe Boote. Ich hätte mich an der Gesellschaft des früheren tunesischen Ministerpräsidenten und des arabischen Knesset-Mitglieds erfreut, die auf dem Boot waren. Die Blockade zu brechen, hätte mich sehr gereizt.

Das Problem war, dass die Organisatoren dieser Flotilla auf einem politischen Programm bestanden, das die Existenz des Staates Israel negiert. Ganz wie die Organisatoren von BDS; sie bestehen auf dem Hirngespinst vom Einen Staat.

Ich glaube an Frieden. Frieden bedeutet Frieden zwischen zwei Staaten, Israel und Palästina. Ich unterstütze den palästinensischen Unabhängigkeitskampf als Teil meines Kampfes für ein friedliches demokratisches Israel.

Deshalb habe ich die Zweite Schlacht von Trafalgar verpasst.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.07.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2015

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