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STANDPUNKT/520: Gedanken am Strand (Uri Avnery)


Gedanken am Strand

von Uri Avnery, 5.12.2015


ES WAR wunderbar.

Ich ging zum ersten Mal nach meiner Operation vor drei Wochen wieder zum Strand. Es sind fünf Minuten zu Fuß von meiner Wohnung.

Das Meer war still, ganz ruhig. Eine milde Sonne schien am Horizont, nicht zu heiß, nicht zu kalt, gerade so, wie wir es gern haben. Ein kühler, nicht zu kalter Wind wehte.

Ich trank einen Becher "americano"-Kaffee und dachte: Alles ist gut in der besten aller möglichen Welten.


ABER NATÜRLICH war es das nicht. Tatsächlich war gar nichts gut in der schlimmsten aller möglichen Welten.

Jenseits des blauen Meeres im weit entfernten Paris beriet sich die größte Versammlung der Führer der Welt, wie der Planet vor der Klimakatastrophe gerettet werden kann. Unser eigener Benjamin Netanjahu war dort mit einer riesengroßen Delegation, obwohl die meisten Israelis, einschließlich Netanjahu, nichts als Verachtung für dieses Problem übrig haben. Sie betrachten es als ein aufgebauschtes Problem verwöhnter Länder, die keine wirklichen Probleme haben, von denen wir allerdings sehr viele haben.

Er ging nur hin, um Hände zu schütteln und um sich fotografieren zu lassen, wie er allen großen Führern der Welt die Hand schüttelte, auch Arabern, womit er alle die Lügen strafte, die Israels zunehmende Isolation in der Welt beklagen.

Aber all dies war Augenwischerei. Israel, das Land das ich liebe, ist in großer Gefahr. Tatsächlich ist es in mehr als einer Gefahr.

Während ich auf das Meer hinausschaute, dachte ich über die drei großen Gefahren nach, die ich spürte und die ich selbst im Krankenhaus nicht vergessen konnte.

Die erste Gefahr: Israel wird ein Apartheidstaat (Was schon in den besetzten palästinensischen Gebieten der Fall ist.)

Früher oder später wird die eingebildete Grenze zwischen Israel und "den Gebieten" völlig verschwinden. Juristisch gibt es sie noch. Doch wie lange noch?

Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan leben israelische Juden und palästinensische Araber in ungefähr gleicher Anzahl - jede Gruppe umfasst etwa 6,5 Millionen. Dies wird ein Apartheidstaat in der schlimmsten Bedeutung des Wortes.

Falls Israel schließlich gezwungen werden könnte, den arabischen Bewohnern die gleichen Rechte zu gewähren, wie das Recht zu wählen (etwas das sehr, sehr weit entfernt zu sein scheint), würde dies ein Staat mit ständigem Bürgerkrieg sein. Diese beiden Völker haben weder sozial noch kulturell noch religiös noch ökonomisch irgendetwas gemein - außer ihrem gegenseitigen Hass.

Die zweite Gefahr stellt Daesh (IS, ISIL, ISIS) dar. Alle benachbarten Staaten könnten sich unter dem schwarzen Banner von Allah vereinigen und sich gegen uns wenden. Vor 900 Jahren vereinigte der große Salah-ad-Din (Saladin) die arabische Welt gegen die Kreuzfahrer und warf sie ins Meer. (Saladin war kein Araber, sondern ein Kurde aus dem nördlichen Irak.)

In Erwartung dieser Möglichkeit wird Israel bis an die Zähne bewaffnet bleiben, massenweise Atombomben haben und sich zunehmend militarisieren. Es wird spartanisiert und religiös fanatisch und damit zu einem jüdischen Spiegelbild des islamischen Kalifats.

Die dritte Gefahr mag die schlimmste sein: Eine wachsende Zahl von jungen, wohl erzogenen, talentierten Israelis wird in die USA und nach Deutschland auswandern und die weniger gebildeten, primitiveren, weniger produktiven Teile der Bevölkerung zurücklassen. Dies geschieht schon. Fast alle meine Freunde haben Söhne und Töchter, die im Ausland leben.

Übrigens scheint die Entfernung den "Patriotismus" wachsen zu lassen - tatsächlich bemüht sich Netanjahu jetzt darum, Israelis, die ständig im Ausland leben, das Wahlrecht zu gewähren. Er glaubt offensichtlich, dass die meisten von ihnen die extreme Rechte wählen.

Und wie steht es um die Zukunft des Planeten? Zur Hölle mit ihm!


SEHR WENIG Leute reden über diese Gefahren. Stillschweigend stimmen sie darin überein, dass es da keine Lösung gibt. Warum sollen wir uns also darüber die Köpfe zerbrechen?

Aber da gibt es noch eine Gefahr, über die jeder endlos redet: das Auseinanderbrechen der israelischen Gesellschaft.

Als ich jung war und der israelische Staat noch nicht geboren, waren wir entschlossen, eine neue Gesellschaft zu schaffen, tatsächlich eine neue Nation, eine hebräische Nation. Wir mieden das Wort "jüdisch", weil wir anders waren als die jüdische Welt - erdgebunden, territorial, national.

Bewusst feierten wir den "Sabra"-Prototyp. Sabra ist der hebräische Name einer Kaktuspflanze, von der wir dachten, sie wäre in unserem Land heimisch (tatsächlich ist sie allerdings eine Einwandererin aus Mexiko). So bezeichneten wir die neue, im Land geborene Generation. Der oder die Sabra sollte praktisch, sachlich und weit entfernt von jüdischer Sophisterei sein. Unbewusst gingen wir davon aus, dass der neue Typ aschkenasisch sein werde: blauäugig und von europäischer Herkunft.

Unter diesem Banner schufen wir das, was wir als neue hebräische Kultur ansahen. Diese Kultur bestand für uns nicht nur aus Literatur, Dichtung, Musik und Ähnlichem, sondern, auch aus militärischen und zivilen Normen.

Da gab es eine Menge Dünkel, aber wir waren stolz, etwas völlig Neues zu schaffen. Es verhalf uns dazu, auf unseren eigenen Füßen zu stehen, den 1948er-Krieg (allerdings knapp) zu gewinnen und den Staat zu gründen.

Wir brachten eine riesige Welle neuer Einwanderer ins Land und damit begannen die Schwierigkeiten. Beim "Ausbruch des Staates", wie wir auf Hebräisch im Spaß sagen, waren wir rund 650.000 Seelen. Innerhalb kurzer Zeit holten wir mehr als eine Million neuer Einwanderer ins Land, und zwar nicht nur die vom Holocaust in Europa Übriggebliebenen, sondern auch fast alle Juden aus muslimischen Ländern.

Den Zögernden wurde auf die Sprünge geholfen. Im Irak legten israelische Geheimagenten in einigen Synagogen Bomben, um die dort lebenden Juden zu überzeugen, dass sie das Land verlassen müssten.

Wir erwarteten, dass die neuen Immigranten so werden würden wie wir - wenn nicht sofort, so doch in einer Generation. Dies geschah aber nicht. Die "Orientalen" hatten ihre eigene Kultur und ihre eigenen Traditionen; sie hatten nicht den Wunsch "Sabras" zu werden.

Die Hoffnung von Leuten wie David Ben Gurion, dass sich das Problem innerhalb weniger Jahre von alleine lösen würde, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, Abneigung und gegenseitige Antipathie wuchs mit der Zeit. Heute ist eine dritte und vierte Generation sich dessen bewusster als je eine zuvor.


DANN GIBT es noch das "national-religiöse" Lager, diejenigen, die die gestrickte Kippah tragen.

Als der Staat ausbrach, erwartete jeder, dass die Religion aussterben würde. Der hebräische Nationalismus hatte übernommen; die jüdische Religion gehört in die Diaspora und wird mit den alten Leuten, die in diesem Land noch daran festhalten, verschwinden. Sie wurden mit freundlicher Verachtung behandelt.

Das Gegenteil geschah. Nach dem 1967er-Krieg, der die israelischen Soldaten zu den antiken biblischen Orten führte, lebte die Religion sprunghaft wieder auf. Sie schuf die Siedlerbewegung, übernahm das rechte Lager und ist jetzt eine vorherrschende Macht im israelischen Leben und in der Politik. Langsam erfasst sie auch die allmächtige Armee.

Die "Gestrickten" - wie wir sie nennen - unterscheiden sich von den Orthodoxen. Sie sind eine eigenständige Bevölkerungsgruppe, die in abgeschlossenen Vierteln lebt, schwarze Hüte und Kleidung trägt. Sie lehnen den Zionismus ganz und gar ab, nutzen aber ihr Wahlrecht, um den Staat zu zwingen, ihre zahllosen Kinder zu unterstützen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichte eine riesige Welle russisch-jüdischer Immigranten das Land. Etwa jeder fünfte Israeli ist jetzt ein "Russe" (Alle früheren sowjetischen Länder eingeschlossen). Die meisten von ihnen verachten alles, was nach Sozialismus oder Links riecht und tendieren zur äußersten Rechten, zum Nationalismus und sogar zum Rassismus.

Dazu kommen noch die etwa 20 Prozent israelische Bürger, die Araber sind und die einerseits dazugehören und andererseits nicht dazugehören. Sie haben sich mehr integriert als viele realisieren, werden aber von vielen als Feinde angesehen. Der Ruf "Tod den Arabern" wird bei Fußballspielen routinemäßig geschrien.

Der Traum von einer vereinten, homogenen neuen hebräischen Nation ist schon seit langer Zeit ausgeträumt. Israel ist jetzt eine sehr heterogene Nation, eher wie eine Föderation von getrennten "Sektoren", die einander nicht sehr mögen: Aschkenasis, Orientalen, National-Religiöse, Orthodoxe, Russen und Araber mit vielen Untergruppen.

Das einzige Band, das die meisten dieser Sektoren miteinander verbindet, ist die Armee, in der sie alle (außer den Orthodoxen und den Arabern) zusammen dienen.

Und dann, natürlich gibt es den einen großen Einiger: den Krieg.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 5.12.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2015

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