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STANDPUNKT/546: Die große BDS-Debatte (Uri Avnery)


Die große BDS-Debatte

von Uri Avnery, 12. März 2016


HILFE! Ich betrete ein Minenfeld. Ich kann nicht anders.

Das Minenfeld hat einen Namen: BDS - Boykott-De-Investment-Sanktionen.

Ich werde oft gefragt, welche Haltung ich dieser internationalen Bewegung, die von palästinensischen Aktivisten initiiert wurde und sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt verbreitet hat, gegenüber einnehme.

Die israelische Regierung betrachtet diese Bewegung, wie mir scheint, als größere Bedrohung als Daesh (IS) oder den Iran. Die israelischen Botschaften in der ganzen Welt werden mobilisiert, sie zu bekämpfen.

Das Hauptschlachtfeld ist die akademische Welt. Fanatische Anhänger von BDS führen heftige Debatten mit genau so fanatischen Anhängern Israels. Beide Seiten bedienen sich erfahrener Disputanten, verschiedener Propagandatricks, falscher Argumente und kompletter Lügen. Es ist eine hässliche Debatte, die immer hässlicher wird.


BEVOR ICH meine eigene Einstellung dazu zum Ausdruck bringe, möchte ich den Grund erklären. Worum geht es hier eigentlich?

Die letzten 70 Jahre, seit meinem 23. Lebensjahr, habe ich mein Leben dem Frieden gewidmet - dem jüdisch-arabischen Frieden, dem israelisch-palästinensischen Frieden.

Viele Leute auf beiden Seiten der Kluft sprechen von Frieden. Inzwischen ist, um Dr. Johnson zu paraphrasieren, "Frieden" zur letzten Zuflucht der Hassprediger geworden.

Doch was bedeutet Frieden? Frieden wird zwischen zwei Feinden geschlossen. Er setzt die Existenz beider voraus. Wenn eine Seite die andere zerstört, wie Rom Kartago zerstörte, setzt sie dem Krieg ein Ende. Aber es ist kein Friede.

Frieden bedeutet, dass beide Seiten nicht nur die gegenseitigen Feindseligkeiten beenden, sondern sich versöhnen und hoffentlich miteinander kooperieren und Seite an Seite leben und schließlich gegenseitige Zuneigung entwickeln. Deshalb ist es nicht das Wahre, wenn man den Wunsch nach Frieden zwar äußert, aber gleichzeitig Hasskampagnen gegeneinander führt. Was es auch sein mag, jedenfalls ist es alles andere als ein Kampf um Frieden.


BOYKOTT IST ein legitimes Mittel in einem politischen Kampf.

Es ist auch ein fundamentales Menschenrecht. Jeder hat das Recht, das, was er will, zu kaufen oder nicht zu kaufen. Jeder hat das Recht, andere zu bitten, eine gewisse Ware zu kaufen oder nicht zu kaufen, egal aus welchem Grund.

Millionen von Israelis boykottieren Läden und Restaurants, die nicht "kosher" sind. Sie glauben, Gott habe ihnen das befohlen. Da ich ein strikter Atheist bin, folgte ich nie diesem Gebot. Aber ich respektiere die Haltung der Religiösen.

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, organisierten amerikanische Juden einen Boykott deutscher Waren. Die Nazis reagierten darauf, indem sie einen Tag des Boykottes jüdischer Läden in Deutschland proklamierten. Ich war 9 Jahre alt und ich erinnere mich noch deutlich an den Anblick: Nazis in braunen Hemden standen vor jüdischen Läden und hielten Schilder hoch, auf denen stand: "Deutsche wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!"

Der erste Boykott gegen die Besatzung wurde von Gush Shalom proklamiert, der israelischen Friedensorganisation, der ich angehöre. Das war lange bevor BDS entstand.

Unser Aufruf wandte sich an die israelische Öffentlichkeit. Wir riefen zum Boykott der Waren aus den Siedlungen in der Westbank, des Gazastreifens und der Golanhöhen auf. Um es zu vereinfachen, veröffentlichten wir eine Liste aller betroffener Betriebe.

Ich nahm auch an Gesprächen mit der Europäischen Union teil, hier und in Brüssel und bat sie, nicht zum Aufbau israelischer Siedlungen auf erobertem Land zu ermutigen. Es dauerte lange, bis die Europäer beschlossen, dass Produkte aus den Siedlungen deutlich gekennzeichnet sein müssten.

Wodurch Kaufen oder Nichtkaufen auch motiviert sein mag, jedenfalls ist es eine Privatangelegenheit. Deshalb ist es sehr schwierig herauszubekommen, wie viele Israelis unserem Aufruf gefolgt sind. Unser Eindruck ist, dass es eine beträchtliche Anzahl von Israelis ist, die dem Aufruf folgte und folgt.

Wir haben die Menschen niemals aufgerufen, Israel an sich zu boykottieren. Wir betrachteten dies als kontraproduktiv. Mit einer Drohung gegen den Staat konfrontiert zu sein, vereinigt die Israelis. Dies würde bedeuten, dass anständige, wohlmeinende Bürger in die Arme der Siedler getrieben werden. Unser Ziel war genau das Gegenteil: die allgemeine Öffentlichkeit von den Siedlern zu trennen.


DIE BDS-Bewegung nimmt einen anderen Standpunkt ein. Sie wurde von palästinensischen Nationalisten ins Leben gerufen, wandte sich an die Weltöffentlichkeit und ist völlig blind für die Gefühle der Israelis.

Eine Boykott-Bewegung braucht kein genaues Programm. Das allgemeine Ziel, die Besetzung zu beenden und den Palästinensern zu ermöglichen, in den besetzten Gebieten ihren eigenen Staat zu errichten, hätte genügt. Aber BDS veröffentlichte von Anfang an ein eindeutig politisches Programm. Und da beginnt das Problem.

BDS hat drei erklärte Ziele: die Besetzung und die Besiedelung zu beenden, den Arabern in Israel Gleichberechtigung zu verschaffen und die Rückkehr der Flüchtlinge zu fördern.

Dies klingt harmlos, ist es aber nicht. Frieden mit Israel wird nicht als Ziel genannt. Ebenso wenig die Zwei-Staaten-Lösung. Der Hauptpunkt ist der dritte.

Der Exodus des halben palästinensischen Volkes aus seinen Häusern im Krieg von 1948 ist eine komplizierte Geschichte. Einige der Menschen flohen damals vor den Kämpfen in einem langen und schrecklichen Krieg und einige wurden vom israelischen Militär absichtlich vertrieben. Ich war ein Augenzeuge und habe ausführlich darüber in meinen Büchern geschrieben. (Der zweite Teil meiner Erinnerungen ist gerade auf Hebräisch erschienen). Der springende Punkt ist, dass den Geflohenen oder Vertriebenen nicht erlaubt wurde, nach dem Ende des Krieges heimzukehren und dass ihre Häuser und ihr Land jüdischen Einwanderern, von denen viele den Holocaust überlebt haben, übergeben wurden.

Die Forderung, diesen Prozess rückgängig zu machen, ist jetzt ebenso realistisch wie die Forderung, weiße Amerikaner sollten dorthin zurückkehren, woher ihre Vorfahren gekommen sind, und das Land sollte seinen ursprünglichen eingeborenen Besitzern zurückgegeben werden. Die Erfüllung dieser Forderung würde die Abschaffung des Staates Israel und die Gründung des Staates Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss bedeuten, eines Staates mit arabischer Mehrheit und jüdischer Minderheit.

Wie kann das ohne einen Krieg mit einem Israel, das in Besitz von Kernwaffen ist, geschehen? In welcher Beziehung steht das zu Frieden?

Alle ernsthaften palästinensischen Unterhändler haben in diesem Punkt bis jetzt stillschweigend nachgegeben. Ich sprach mehrmals mit Yasser Arafat darüber. Stillschweigendes Übereinkommen besteht darin, dass nach einem Friedens-Endabkommen Israel eine symbolische Anzahl von Flüchtlingen zurücknehmen wird und dass alle anderen und ihre Nachkommen - inzwischen etwa fünf bis sechs Millionen - eine angemessene Entschädigung bekommen werden. All dies ist Teil einer Zwei-Staaten-Lösung.

Das ist ein Friedensprogramm. Tatsächlich das einzige Friedensprogramm. Die BDS-Ziele bieten keines.


DIE ANDERE Seite dieser wütenden Debatte in Oxford und Harvard ist sogar noch weniger friedensorientiert.

Legionen von zionistischen "Aufklärern" - viele von ihnen bezahlte Experten - weisen die BDS-Attacke zurück. Sie beginnen damit, die offensichtlichsten Fakten zu leugnen: dass der Staat Israel das palästinensische Volk unterdrückt, dass eine gnadenlose, militärische Besatzung das Leben der Palästinenser ins Elend führt, dass "Frieden" in Israel zum Schimpfwort geworden ist.

Vor ein paar Tagen verkündete ein extrem rechter israelischer Fernseh-Kommentator halb im Scherz: "Die Gefahr des Friedens ist vorüber!"


DIE EINFACHSTE Art die BDS-Leute zu bannen und zu ächten, ist, sie des Antisemitismus' zu beschuldigen. Dies beendet jede sensible Diskussion, besonders in Deutschland und allgemein im Ausland. Leute, die den Holocaust leugnen, sind keine Gesprächspartner.

Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass die Mehrheit der BDS-Symphatisanten tatsächlich Antisemiten sind. Ich bin überzeugt davon, dass die große Mehrheit von ihnen hingebungsvolle Idealisten sind, deren Herzen für die unterdrückten Palästinenser schlagen, so wie Juden durch die Jahrhunderte Unterdrückten zur Hilfe geeilt sind, ob sie nun amerikanische Schwarze oder russische Muschiks waren.

Es muss jedoch auch gesagt werden, dass es einige BDS-Anhänger gibt, die sich unverkennbar antisemitisch äußern. Für einen waschechten Antisemiten der alten Schule ist BDS heute die einzige sichere Kanzel, von der er unter dem Deckmantel des Anti-Zionismus' und des Anti-Israelismus' sein abscheuliches Evangelium predigen kann.

Ich würde die Palästinenser und ihre wahren Freunde (noch einmal) warnen, dass die Antisemiten in Wirklichkeit ihre gefährlichen Feinde sind. Sie sind es, die Juden aus aller Welt nach Israel treiben. Diese Antisemiten kümmern sich einen Dreck um die Palästinenser, sie instrumentalisieren ihre Notlage, um sich ihrer eigenen uralten antijüdischen Perversion hinzugeben.

Und umgekehrt: Juden, die sich der neuen Welle der Islamophobie unter dem falschen Eindruck anschließen, dass sie damit Israel helfen, begehen einen ähnlich schweren Fehler. Die Islamhasser von heute sind die Judenhasser von gestern und morgen.


DIE PALÄSTINENSER brauchen den Frieden, um die Besatzung loszuwerden und um endlich Freiheit, Unabhängigkeit und ein normales Leben zu erlangen.

Die Israelis brauchen den Frieden, weil wir ohne ihn immer tiefer in den Morast eines ewigen Krieges sinken, die Demokratie verlieren, auf die wir so stolz waren, und zu einem verachteten Apartheid-Staat werden.

Die BDS-Debatte kann die gegenseitige Feindschaft zuspitzen, den Abgrund zwischen den beiden Völkern vertiefen und sie noch weiter voneinander entfernen. Nur aktive Zusammenarbeit zwischen den Friedenslagern beider Seiten kann das Einzige erreichen, was beide Seiten so dringend brauchen:

Den FRIEDEN.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 12.03.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2016

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