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STANDPUNKT/589: Deutschlands Kriegsbilanz - Teil 3 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 26. September 2016
(german-foreign-policy.com)

Deutschlands Kriegsbilanz (III)


BERLIN/TRIPOLIS - Fünf Jahre nach den NATO-Angriffen auf Libyen rechnet ein Ausschuss des britischen Parlaments schonungslos mit dem Krieg und den angeblichen Kriegsursachen ab. Die Kernbegründung der im März 2011 gestarteten westlichen Intervention, Muammar al Gaddafi habe ein Massaker an der Bevölkerung von Benghazi geplant, das verhindert werden müsse, sei nicht mit belastbaren Argumenten zu belegen und vermutlich falsch, urteilt der Parlamentsausschuss unter Berufung auf international renommierte Experten. Tatsächlich hätten äußere Interessen die entscheidende Rolle gespielt. Über Frankreich etwa heißt es unter Berufung auf französische Geheimdienstoffiziere, es sei Präsident Nicolas Sarkozy um stärkeren Zugriff auf libysches Erdöl, größeren politischen Einfluss in Nordafrika und die Demonstration militärischer Macht gegangen. Der Zerfall des libyschen Staates und das Erstarken militanter Islamisten seien von Anfang an zu erwarten gewesen. Die Vorwürfe treffen auch Berlin: Während die Bundesregierung dem Krieg offiziell ihre Zustimmung verweigert hat - nicht zuletzt aus Gründen deutsch-französischer Rivalität -, hat sie sich an ihm mit der Entsendung von mehr als hundert deutschen Soldaten in die kriegführenden NATO-Hauptquartiere beteiligt. Der Krieg hat das Land ökonomisch, sozial und politisch in hohem Maße zerstört; Libyen steht vor dem Absturz in einen langandauernden, umfassenden Bürgerkrieg.


Deutsche Kriegsbeteiligung

Der NATO-Krieg gegen Libyen, der im März 2011 vor allem auf französische Initiative gestartet wurde, ist mit aktiver deutscher Unterstützung geführt worden. Zwar hat die Bundesregierung sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die Einrichtung einer "Flugverbotszone" über Libyen enthalten und anschließend auch keine Kampf-, Aufklärungs- oder Tankflugzeuge für die Angriffe auf das Land bereitgestellt - in Fortführung ihrer Strategie, zwar für Militäreinsätze in deutschem Interesse insbesondere in Südosteuropa Unterstützung aus der EU einzufordern, Kriege in französischem Interesse aber nach Möglichkeit zu verhindern.[1] Zugleich hat Berlin jedoch unmittelbar nach Kriegsbeginn der Entsendung zusätzlicher deutscher Soldaten nach Afghanistan zugestimmt, um dort Militärs anderer NATO-Staaten für den Libyen-Krieg freizusetzen. Zudem hat sie nicht nur Bundeswehr-Offiziere in den NATO-Kommandostrukturen belassen, die den Krieg steuerten; sie hat darüber hinaus 66 Offiziere und 37 Unteroffiziere in die kriegführenden NATO-Hauptquartiere entsandt. Wie das Bundesverteidigungsministerium ausdrücklich bestätigt, hatten Soldaten der Bundeswehr nicht nur mit der Kommunikation im libyschen Luftraum zu tun, sondern auch mit der "Zielauswahl".[2] Zudem haben Politiker, die heute an exponierter Stelle tätig sind, die Bundesregierung wegen der Enthaltung im UN-Sicherheitsrat scharf kritisiert. Werde man von Rebellen gegen Despoten zu Hilfe gerufen, dann dürfe man "nicht als erstes die Angst haben, wo es endet", sondern müsse "Freude" zeigen, "dass es beginnt", und die Revolten unterstützen, sagte Joachim Gauck, heute Bundespräsident, Anfang Juni 2011 mit Blick auf Libyen.[3]


Interventions-PR

Eine schonungslose Abrechnung mit solchen Äußerungen, wie sie damals auch in deutschen Medien verbreitet waren, hat in diesem Monat ein Ausschuss des britischen Parlaments vorgelegt. Der Ausschuss war beauftragt worden zu prüfen, ob die 2011 genannten Kriegsgründe triftig und die Politik der kriegführenden Mächte von der erforderlichen Umsicht gesteuert waren. Um diese Fragen zu klären, lud der Ausschuss international führende Libyen-Experten vor - und bekam von ihnen Bemerkenswertes zu hören. Demnach war eine international renommierte Wissenschaftlerin, als sie 2011 mit zuständigen Stellen im Foreign Office über die Entwicklung in Libyen konferierte, "schockiert" über das Ausmaß an Unkenntnis über Gesellschaft, Geschichte und Politik des Landes, mit dem sie bei kriegsplanenden Stellen konfrontiert wurde.[4] Sie und andere Fachleute hielten es im März 2011 für äußerst unwahrscheinlich, dass Muammar al Gaddafi ein Massaker im aufständischen Benghazi anordnen würde; mit einem solchen Szenario waren damals die westlichen Angriffe auf Libyen begründet worden. Gaddafi habe weder bei früheren Unruhen noch bei der Einnahme aufständischer Städte wie Ajdabiya im März 2011 Massenmorde an Zivilisten verüben lassen, bestätigten unabhängige Experten dem Parlamentsausschuss. Anderslautende Behauptungen seien vor allem von interessierten Exil-Libyern und von Medien aus Gaddafi gegenüber feindlich eingestellten Staaten wie Qatar (Al Jazeera) verbreitet worden. Politik und Medien Großbritanniens hätten sie freilich gerne geglaubt.


Die Kriegsziele

In diesem Zusammenhang benennt der Ausschussbericht ausführlich die französischen Interessen, die der Ende Februar 2011 gestarteten Kriegsinitiative des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy zugrunde lagen. Als Quelle werden französische Geheimdienstoffiziere genannt. Diesen zufolge ging es Sarkozy darum, einen stärkeren Zugriff auf die libysche Erdölproduktion zu bekommen, "Frankreichs Einfluss in Nordafrika zu vergrößern", dem französischen Militär Gelegenheit zu bieten, der Welt seine Stärke zu demonstrieren, und Gaddafis Pläne zu durchkreuzen, Paris als Vormacht im französischsprachigen Afrika abzulösen. Auch das Bestreben, innenpolitisch Prestige zu gewinnen - Sarkozy konnte sich damals bei der Lösung der Eurokrise nicht gegen die deutsche Kanzlerin behaupten und war in der Defensive -, hat demnach eine Rolle für die Entscheidung zum Krieg gespielt. Diese Interessen, die in London nicht nur auf Verständnis, sondern teils auch auf identische Absichten stießen, ließen die Frage, ob in Benghazi im März 2011 wirklich ein Massaker drohte, ziemlich gleichgültig erscheinen - zur Kriegslegitimation war die Behauptung, man müsse eines befürchten, allemal geeignet. US-Medien haben die damalige Kriegsbegründung inzwischen denn auch mit der Erfindung angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak des Jahres 2003 parallelisiert.[5]


Staatskollaps und Jihadisten

Der britische Parlamentsausschuss hält darüber hinaus fest, dass der totale Zusammenbruch des libyschen Staates nach Gaddafis Sturz alles andere als überraschend gewesen sei. Libyen sei ein Land ohne stabile staatliche Strukturen gewesen, bestätigte dem Ausschuss die Libyen-Expertin Allison Pargeter: Es sei klar gewesen, dass man, indem man "Gaddafi entfernte, alles entfernte". In der Tat kollabierten die Repressionsbehörden, das Rechtswesen und die staatlichen Behörden in kürzester Zeit. Klar ist Experten zufolge auch gewesen, dass im libyschen Aufstand von Anfang an militante Islamisten ein bedeutender Faktor waren. Dass sie nach dem Umsturz bald eine führende Rolle in Libyen spielten und inzwischen sogar Raum für den "Islamischen Staat" (IS/Daesh) sowie für weitere Jihadisten geschaffen haben, kam für aufmerksamere Beobachter in der Tat keinesfalls unerwartet (german-foreign-policy.com berichtete [6]).


Zerstörtes Land

Der von ökonomisch-politischen Interessen der NATO-Mächte geleitete und darüber hinaus durch die Ignoranz westlichen Machtbewusstseins begünstigte Krieg hat Libyen in erschütternde Verhältnisse gestürzt. Allein durch die Kriegshandlungen des Jahres 2011 kamen Schätzungen zufolge rund 20.000, vielleicht sogar deutlich mehr Menschen ums Leben. Die Zahl der Todesopfer, die seither zu verzeichnen sind, ist unbekannt; die Zahl der Binnenflüchtlinge wird aktuell auf rund 400.000 geschätzt. Die libysche Wirtschaft ist abgestürzt; verzeichnete das Land 2010 noch ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 75 Milliarden US-Dollar (12.250 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung, vergleichbar mit manchen europäischen Staaten), so wies es 2014 ein BIP von rund 41 Milliarden US-Dollar (7.820 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung) auf. Mittlerweile ist die libysche Wirtschaft noch weiter eingebrochen; verlässliche Zahlen liegen nicht vor. Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen ist Libyen von Rang 53 (2010) auf Rang 94 (2015) gesunken - mit weiterhin fallender Tendenz. Laut den Vereinten Nationen ist ungefähr die Hälfte der 6,3 Millionen Libyer unmittelbar von den bewaffneten Konflikten im Land betroffen; 2,4 Millionen Menschen benötigen humanitärer Hilfe in der einen oder anderen Form. Aktuell steht das schwer zerstörte Land vor einer erneuten Eskalation des Bürgerkriegs, in dem sich Milizen aller Art und hochgerüstete Jihadisten an zahllosen Fronten gegenüberstehen.


Kein Erfolg

Bei alledem haben die westlichen Mächte ihre Kriegsziele in Libyen nicht erreicht und versuchen nun - bislang vergeblich und ohne größere Erfolgsaussichten -, das Land mit Hilfe einer von außen eingesetzten "Übergangsregierung" unter Kontrolle zu bekommen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Sogar der traditionelle Erdölfluss ist stark reduziert und beispielsweise im Falle des deutschen Erdöl- und Erdgaskonzerns Wintershall vollständig zum Erliegen gekommen.[8] Das mindert freilich die Kriegsschuld der NATO-Mächte, an der auch die Bundesrepublik Anteil hat, nicht.


Mehr zum Thema:
Deutschlands Kriegsbilanz (I).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59435
und Deutschlands Kriegsbilanz (II).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59440


Anmerkungen:

[1] S. dazu Die Abkopplung Frankreichs.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58733

[2] Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesverteidigungsministerium, Thomas Kossendey, auf eine schriftliche Frage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele. Berlin, 08.09.2011.

[3] Christian Geyer: Frech und frei. www.faz.net 05.06.2011.

[4] Zitate hier und im Folgenden: House of Commons, Foreign Affairs Committee: Libya: Examination of intervention and collapse and the UK's future policy options. Third Report of Session 2016-17. London, September 2016.

[5] Hillary Clinton's WMD moment: US intelligence saw false narrative in Libya. The Washington Times 29.01.2015.

[6] S. dazu Wichtiger als Menschenrechte
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58136
und Eine Atmosphäre der Straflosigkeit.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58226

[7] S. dazu Gegen Terror und Migration
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59243
und Gegen Terror und Migration (II).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59317

[8] S. dazu Die Erdöl-Schutztruppe.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58717

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
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E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2016

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