Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/660: Grüße an Diana Buttu (Uri Avnery)


Grüße an Diana Buttu

von Uri Avnery, 3. Juni 2017


VOR EIN paar Tagen wurde eine fast unbekannte palästinensische Frau auf ungewöhnliche Weise geehrt. Einer ihrer Artikel wurde oben auf der ersten Seite der auf der Erde am meisten geachteten Zeitung veröffentlicht: der New York Times.

Die Herausgeber stellten die Verfasserin Diana Buttu als "Rechtsanwältin und ehemalige Beraterin des Verhandlungsteams der Palästinensischen Befreiungsorganisation" vor.

Ich lernte Diana Buttu kennen als sie 2000 das erste Mal auf der palästinensischen Szene erschien, zu Beginn der Zweiten Intifada. Sie wurde in Kanada geboren und war die Tochter von palästinensischen Immigranten, die sich große Mühe gaben, sich in ihrer neuen Heimat zu assimilieren und sie erhielt eine gute kanadische Erziehung und Bildung.

Als sich der Kampf in den besetzten Gebieten intensivierte, kehrte sie in die Heimat ihrer Eltern zurück. Die palästinensischen Teilnehmer an den Verhandlungen mit Israel, die nach dem Oslo-Abkommen begannen, waren von der jungen Anwältin, die ausgezeichnet Englisch sprach, beeindruckt und baten sie, an den nationalen Bemühungen teilzunehmen.

Als die Verhandlungen klinisch tot waren, verlor ich Diana Buttu aus den Augen. Bis zu ihrem dramatischen Erscheinen in der letzten Woche.


DIE PLATZIERUNG und die Überschrift des Artikels zeigen, wie wichtig ihre Argumentation den amerikanischen Herausgebern zu sein scheint. Die Schlagzeile war "Brauchen wir eine palästinensische Behörde?" und danach heißt es in einer weiteren Überschrift: "Die Palästinensische Behörde schließen".

Das Argument von Diana Buttu verführt durch ihre Einfachheit: Die Nützlichkeit der palästinensischen Behörde ist vorbei. Sie sollte beseitigt werden. Jetzt.

Die Palästinensische Behörde, so sagt sie, war für einen bestimmten Zweck eingerichtet worden: für Verhandlungen mit Israel wegen eines Endes der Besatzung und der Schaffung des erhofften palästinensischen Staates. Das war eine zeitlich begrenzte Aufgabe.

Laut dem Oslo-Abkommen sollten die Verhandlungen über den Frieden 1999 ihr Ziel erreicht haben. Seitdem sind 18 Jahre vergangen, ohne Fortschritt in Richtung auf eine Lösung. Das einzige, was sich bewegt hat, war die Siedlungsbewegung, die jetzt monströse Dimensionen erreicht hat.

Unter diesen Umständen, sagt Buttu, ist die palästinensische Behörde ein Sub-Unternehmer der Besatzung geworden. Die Behörde hilft Israel, die Palästinenser zu unterdrücken. Stimmt, zwar beschäftigt sie eine große Anzahl von Personal für Bildung und Medizin, aber mehr als ein Drittel ihres Budget - etwa 4 Milliarden Dollar - gehen für die "Sicherheit" drauf. Die palästinensischen Sicherheitskräfte arbeiten eng mit den israelischen Kollegen zusammen. Das bedeutet, dass sie die Besatzung aufrecht erhalten.

Buttu klagt auch über den Mangel an Demokratie. Seit 12 Jahren hat keine Wahl stattgefunden. Mahmud Abbas' Herrschaft verletzt das palästinensischen Grundgesetz.

Ihre Lösung ist einfach: "Es ist Zeit, dass die Behörde geht". Um die Behörde abzuschaffen muss die Verantwortung für die besetzte palästinensische Bevölkerung dem israelischen Besatzer zurückgegeben werden und eine neue palästinensische Strategie angenommen werden.

Was für eine Strategie genau?

Bis zu diesem Punkt waren Buttus Argumente einleuchtend und logisch. Aber von hier an wurden sie unklar und nebulös.


BEVOR ICH nun fortfahre, muss ich ein paar persönliche Bemerkungen machen.

Ich bin ein Israeli. Ich definiere mich als ein israelischer Patriot. Ich denke, als ein Sohn der Besatzungsnation habe ich kein Recht, der besetzten Nation Ratschläge zu geben.

Es stimmt, dass ich in den letzten 79 Jahren mein Leben dem Frieden zwischen den beiden Völkern gewidmet habe - einem Frieden - so glaube ich, der eine existentielle Notwendigkeit für beide ist.

Seit Ende des 1948er-Krieges predige ich die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates, Seite an Seite mit dem Staat Israel. Einige meiner Feinde in der extremen israelischen Rechten beschuldigen mich sogar, die "Zwei-Staaten-Lösung" erfunden zu haben, (so dass ich den Titel "Verräter" verdiene).

Trotz alledem habe ich mich immer zurückgehalten, den Palästinensern einen Rat zu geben. Sogar als Yassir Arafat mehrere Male öffentlich erklärte, dass ich sein "Freund" sei, sah ich mich nicht als Berater. Ich habe wohl meine Ansicht viele Male geäußert, auch in Gegenwart von Palästinensern, aber das ist vom Erteilen von Ratschlägen weit entfernt.

Auch jetzt bin ich nicht bereit den Palästinensern allgemein und Diana Buttu im Besonderen einen Rat zu geben. Aber ich nehme mir die Freiheit, einige Bemerkungen über ihren revolutionären Vorschlag zu machen.

Als ich ihren Artikel zum zweiten und zum dritten Mal las, gewann ich den Eindruck, dass er ein Missverhältnis zwischen Diagnose und Therapie enthält.



WAS SCHLÄGT sie den Palästinensern vor?

Der erste Schritt ist klar: baut die palästinensische Behörde ab und übergebt alle Organe der palästinensischen Selbst-Regierung dem israelischen Militärgouverneur.

Das ist einfach. Was wäre das nächste?

Diana Buttu äußert mehrere allgemeine Vorschläge. "Gewaltlose Massen-Proteste", "Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen" (BDS), "das Recht der palästinensischen Flüchtlinge (aus dem 1948er Krieg) ansprechen" und das Thema "palästinensische Bürger Israels" behandeln.

Sie erwähnt zustimmend, dass schon mehr als ein Drittel des palästinensischen Volkes in den besetzten Gebieten eine Ein-Staat-Lösung unterstützt - was einen bi-nationalen Staat bedeutet.

Mit gebührendem Respekt: Werden diese Mittel - alle zusammen und jedes für sich - das palästinensische Volk befreien?

Es gibt keinen Beweis dafür, dass dies helfen wird.

Die Erfahrung zeigt, dass es für die Besatzungsbehörden leicht ist, einen "gewaltfreien Massen-Protest" in einen sehr gewalttätigen zu verwandeln. Das geschah in beiden Intifadas und besonders bei der zweiten. Es begann mit gewaltfreien Aktionen und dann riefen die Militärbehörden die Scharfschützen. Innerhalb weniger Tage wurde die Intifada gewalttätig.

Der Nutzen von Boykotten? Jetzt gibt es in der Welt die große BDS-Bewegung gegen Israel. Die israelische Regierung fürchtet sie und kämpft mit allen, auch lächerlichen, Mitteln dagegen. Diese Furcht bezieht sich nicht auf wirtschaftliche Schäden, die diese Bewegung anrichten kann, sondern auf den Schaden, den sie Israels Image zufügen kann. Ein solches Image kann verletzen, aber es tötet nicht.

Wie viele andere auch benutzt Buttu hier das Beispiel Südafrika. Das ist ein Fantasie-Beispiel. Der weltweite Boykott war tatsächlich eindrucksvoll, aber nicht er tötete das Apartheidsregime. Das ist eine Illusion des Westens, die seine Verachtung der "Eingeborenen" widerspiegelt.

Das rassistische Regime in Südafrika wurde nicht von Ausländern besiegt, so nett diese auch waren, sondern von jenen verachteten "Eingeborenen". Die Schwarzen begannen mit Kampagnen eines bewaffneten Kampfes (ja, der große Nelson Mandela war ein "Terrorist") und Massenstreiks, die die Wirtschaft trafen. Der internationale Boykott spielte eine willkommene Unterstützungsrolle.

Buttu setzt große Hoffnungen in "palästinensische Boykotte". Können sie wirklich der israelischen Wirtschaft schaden? Man kann immer eine Million chinesischer Gastarbeiter hereinholen.

Buttu erwähnt auch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Das Problem ist, dass die jüdische Psyche abgehärtet ist gegen "goyische Justiz". Sind die Goyim nicht alle Antisemiten? Israel spuckt auf sie, wie es seinerzeit auch auf die UNO-Resolutionen spuckte.


WAS BLEIBT? Da gibt es nur eine Alternative, die Buttu klugerweise nicht erwähnt: Terrorismus.

Viele Völker der Geschichte begannen Befreiungskriege, gewaltsame Kämpfe gegen ihre Unterdrücker. Im israelischen Jargon nennt man dies "Terror".

Ignorieren wir einen Augenblick den ideologischen Aspekt und konzentrieren wir uns nur auf den praktischen Aspekt: glaubt jemand, dass eine "terroristische" Kampagne des besetzten Volkes gegen das Besatzungsvolk - unter bestehenden Umständen - Erfolg haben kann?

Ich bezweifle es, ich bezweifle es sogar sehr. Die israelischen Sicherheitsdienste haben bis jetzt eine beträchtliche Fähigkeit im Kampf gegen bewaffneten Widerstand gezeigt.

Falls es so ist, was bleibt den Palästinensern noch? In einem Wort: Durchzuhalten.

Und das ist das besondere Talent von Mahmoud Abbas. Er ist ein Großer im Durchhalten. Er führt ein Volk, das einer schrecklichen Zerreißprobe unterworfen ist, einer Zerreißprobe an Leiden und Demütigung, und das nicht aufgibt. Abbas gibt nicht auf. Falls jemand in der Zukunft seinen Platz einnehmen wird, wird auch er nicht aufgeben. Zum Beispiel Marwan Barghouti.

Als junger Mann war ich Mitglied der militärischen Untergrundorganisation Irgun. Während des Zweiten Weltkrieges organisierte meine Kompanie einen "Prozess" gegen Marschall Phillip Petain, der nach dem Zusammenbruch Frankreichs zum französischen Regierungschef gemacht worden war. Diese "Regierung" hatte ihren Sitz in Vichy und nahm Befehle von der deutschen Besatzung entgegen.

Ganz gegen meinen Willen wurde ich zum Verteidiger ernannt. Ich nahm diese Aufgabe sehr ernst und zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass Petain die Logik auf seiner Seite hatte. Er rettete Paris vor der Zerstörung und ermöglichte es den meisten Franzosen, die Besatzung zu überleben. Als das Nazireich zusammenbrach, schloss sich Frankreich unter De-Gaulle den Siegern an.

Natürlich beruft sich Buttu nicht auf dies emotionsgeladene historische Beispiel. Aber man sollte sich daran erinnern.


VOR EIN paar Tagen, noch vor der Veröffentlichung des Artikels von Diana Buttu, hat der Führer der israelischen faschistischen Rechten, Bezalel Smotrich, ein stellvertretender Vorsitzender der Knesset, den Palästinensern ein Ultimatum gestellt.

Smotrich schlug den Palästinensern drei Möglichkeiten vor: a) das Land zu verlassen, b) ohne Bürgerrechte im Land zu leben oder c) bewaffneten Widerstand zu leisten - dann "würde die israelische Armee schon wissen, was zu tun ist."

In einfachen Worten: die Wahl besteht zwischen a) der Massenvertreibung von sieben Millionen Palästinensern aus der West Bank (einschließlich Ost-Jerusalem), Israel und dem Gazastreifen, was auf Völkermord hinausläuft, b) als Sklavenvolk unter einem Apartheidregime zu leben oder c) einem regelrechten Völkermord.

Die undeutlichen Vorschläge Buttus bedeuten in der Praxis die zweite Möglichkeit. Sie erwähnt, dass viele Palästinenser die "Ein-Staat-Lösung" bevorzugen. Sie scheut vor einer eindeutigen Behauptung zurück und versteckt sich hinter einer Formel, die dieser Tage Mode geworden ist: "Zwei Staaten oder ein Staat", etwa wie: "schwimmen oder ertrinken".

Das ist Selbstmord. Ein dramatischer Selbstmord. Ein ruhmreicher Selbstmord.

Selbstmord - nichts weniger als dies.

Beide - Buttu und Smotrich führen in die Katastrophe.

Nach all diesen Jahren bleibt die einzige praktische Lösung dieselbe wie die, die von Anfang an da war: Zwei Staaten für zwei Völker. Zwei Staaten, die Seite an Seite in Frieden oder vielleicht sogar in Freundschaft leben.

Es gibt keine andere Lösung.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

*

Quelle:
Uri Avnery, 03.06.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang