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STANDPUNKT/680: "Jeder, nur nicht Bibi" (Uri Avnery)


"Jeder, nur nicht Bibi"

von Uri Avnery, 12. August 2017


DIE AASGEIER kreisen am Himmel. Sie können einen verletzten Mann auf dem Boden liegen sehen und warten auf sein Ende.

Dies tun auch die menschlichen Raubtiere - die Politiker.

Sie singen sein Lob, schwören, ihn mit all ihrer Kraft zu verteidigen - aber in ihren Köpfen überlegen sie schon, wer der Nachfolger sein könnte. Jeder von ihnen murmelt dies vor sich hin: Warum nicht ich?

Benjamin Netanjahu steht vor der größten Krise seiner langen Karriere. Die Polizei ist im Begriff, ihre Untersuchungen abzuschließen. Der Generalstaatsanwalt steht unter riesigem Druck, offiziell Anklage zu erheben. Die ohnehin schon großen Demonstrationen in der Nähe der Wohnung des Generalstaatsanwaltes werden von Woche zu Woche größer.

Der Generalstaatsanwalt, der Generalinspekteur der Polizei und der Minister für Innere Sicherheit wurden alle persönlich von Netanjahu (und seiner Frau) ernannt. Selbst dies half nichts mehr. Der Druck ist zu stark.

Die Untersuchungen mögen sich noch einige Monate hinziehen, aber das Ende scheint sicher: Der Staat Israel wird gegen Benjamin Netanjahu vor Gericht ziehen.


WENN EIN Mitglied der Regierung wegen eines Verbrechens angeklagt wird, tritt er gewöhnlich zurück oder er lässt sich beurlauben. Nicht so Netanjahu.

Wenn er zurückträte, wer würde über Israel wachen und es vor den zahlreichen furchtbaren Gefahren bewahren, die dem Staat von allen Seiten drohen? Die Iraner versprechen seine Auslöschung, die bösen Araber rund um uns wollen uns töten, die Linken und andere Verräter bedrohen den Staat von innen. Wie können wir ohne Bibi überleben? Die Gefahr ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken.

Netanjahu selbst scheint dies zu glauben. Er, seine Frau und sein ältester Sohn benehmen sich wie eine königliche Familie. Sie kaufen ein, ohne zu bezahlen, reisen als Gäste von anderen, erhalten wie selbstverständlich teure Geschenke.

Der Volkshumor begleitet all diese Verstöße. Die Polizei folgt diesem Geist und ziert Netanjahus Akten mit vielen Nullen.

Akte 1000 befasst sich mit den Geschenken. Die Netanjahus sind von einer Menge Milliardären umgeben, die einander mit ihren Geschenken zu überbieten trachten. Viele Witze wurden über teure Zigarren und rosa Champagner gemacht, die der Familie geschenkt wurden - bis durchsickerte, dass ihr Wert Zehntausende von Dollar beträgt. Und die Geber etwas von den Beschenkten zurück erwarten.

Akte 2000: hier geht es um eine sonderbare Angelegenheit. Yedioth Aharonot ("Die letzten Nachrichten") war Israels größte Tageszeitung bis Israel Hayom ("Israel heute") erschien - eine kostenlos verteilte Zeitung. Sie wurde von Sheldon Adelson, einem Bewunderer von Netanjahu und dem Besitzer von sehr großen Kasinos in Las Vegas und Macao, gegründet. Sie ist der einzigen Aufgabe gewidmet, König Bibi zu rühmen.

Bei einem aufgenommenen privaten Gespräch bot Netanjahu Noni Moses, dem Besitzer von Yedioth ein Abkommen an. Israel Heute würde seine Größe und seine Verteilung reduzieren, wenn Yedioth anfangen würde, Bibi zu glorifizieren. Juristisch läuft dies auf Bestechung hinaus.

Und dann gibt es noch die Akte 3000 tief unter dem Meer. Der deutsche Schiffsbauer Thyssen Krupp (zwei Namen, die einen an Hitlers Waffenschmiede erinnern) baut unsere Unterseeboote. Drei, sechs, neun. Der Himmel - oder das Meer - ist die Grenze.

Wozu brauchen wir Unterseeboote? Nicht um die Flotte der Feinde zu versenken. Unsere Feinde, bzw. was von ihnen übriggeblieben ist, haben keine Flotte. Aber sie könnten nukleare Waffen erhalten. Israel ist ein sehr kleines Land und eine oder zwei Atombomben könnten es zerstören. Aber keiner wird auch nur im Traum daran denken, dies zu tun, wenn er weiß, dass im Meer Unterseeboote lauern, die mit nuklearen Raketen innerhalb Minuten reagieren würden.

Die deutsche Schiffswerft verkauft mit der Unterstützung der deutschen Regierung die Unterseeboote an die israelische Flotte. Dazu sind keine Vermittler notwendig. Aber es gibt Vermittler, die Millionen in die eigene Tasche stecken. Wie viele Taschen? Das ist der Punkt. Eine ganze Anzahl der Taschen gehören Leuten, die dem Ministerpräsidenten sehr nahe stehen.

Perverse Köpfe mögen sich vorstellen, dass einige zehn Millionen beim MP selbst angekommen seien, Gott bewahre.

In dieser Woche hat ein angesehener Fernsehsender ein Programm mit einer Untersuchung ausgestrahlt; das Bild war erschreckend. Die ganze militärische und zivile Umgebung scheint von Korruption angesteckt zu sein - wie in einem Failed State in Afrika.


EINE DER wenigen Lektionen, die ich in meinem Leben gelernt habe, ist, dass keiner den Gipfel seines Berufes erreicht, der sich diesem nicht absolut und vollkommen widmet.

Um stinkreich zu werden, muss man das stinkende Geld lieben. Nicht die Dinge, die man mit Geld kauft, sondern das Geld selbst. Wie der Geizhals von Moliere, der den ganzen Tag dasitzt und sein Geld zählt. Falls man noch etwas anderes will - Liebe oder Ruhm - wird man nie ein Multi-Multi-Milliardär werden.

Don Juan kümmerte sich nur um Frauen. Nicht um Liebe. Nur um Frauen.

David Ben Gurion wollte Macht. Nicht die Vergnügungen der Macht. Nicht Zigarren. Keinen Champagner. Keine Villen. Nur Macht. Alles andere wie zum Beispiel sein Bibelklub und dass er den Don Quijote auf Spanisch las, waren nur Vorwände. Er wollte Macht und hielt, solange er irgend konnte, daran fest. (Am Ende, als er sich mit einer Leibgarde von jungen Männern wie Mosche Dajan und Schimon Peres umgab, verbündeten sich seine Kollegen gegen ihn und warfen ihn raus, wobei ich ein wenig behilflich war.)

Eine Person, die politische Macht will, aber auch die Annehmlichkeiten des Lebens, mehrere Villen und eine Menge Geld wird nicht wirklich die Spitze erreichen. Netanjahu ist ein gutes Beispiel.

Er ist keine Ausnahme. Sein Vorgänger sitzt im Gefängnis und noch einige ehemalige Minister. Ein ehemaliger Präsident des Staates wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen (dort war er wegen Sexualvergehen).

Netanjahu wuchs in einer Familie auf, die nicht reich war. Auch Ehud Olmert und Ehud Barak und Moshe Dayan. Alle liebten das Geld zu sehr.

Sarah Netanjahu, die Frau des Ministerpräsidenten, wird wohl auch demnächst angeklagt. Sie wird beschuldigt, die Erfüllung ihrer ausschweifenden privaten Bedürfnisse mit Regierungsgeldern bezahlt zu haben. Sie wird nicht weithin geschätzt. Jeder nennt sie Sarah'le (kleine Sarah), aber nicht aus Liebe. Sie wuchs unter beschränkten Verhältnissen auf und war eine gering bezahlte Stewardess, als sie Bibi in einem Duty-free-Laden traf.

Ich hatte Glück: bis zu meinem 10. Lebensjahr war meine Familie in Deutschland reich. Als wir nach Palästina flohen, wurden wir arm wie Synagogenmäuse, aber viel glücklicher.


EINE ANDERE Lektion: keiner, der an der Macht ist, sollte dort länger als acht Jahre bleiben.

Leute an der Macht ziehen Schmeichler an. Jeden Tag, Jahr um Jahr wird ihnen erzählt, dass sie wunderbar seien. So weise, so klug und so attraktiv. Allmählich glauben sie es selbst. Schließlich können sich so viele gute Leute nicht irren.

Ihr kritischer Verstand stumpft ab. Sie gewöhnen sich daran, dass ihnen gehorcht wird, selbst Leute, die es besser wissen. Sie werden gegenüber Kritik immun, sogar wütend, wenn sie kritisiert werden.

Nach der 12 Jahre währenden Amtszeit Franklin Delano Roosevelds, einem klugen und erfolgreichen Präsidenten, änderte das amerikanische Volk seine Verfassung und begrenzte die Amtszeit des Präsidenten auf zwei, zusammen also acht aufeinander folgende Jahre. Sehr vernünftig.

Ich spreche aus Erfahrung. Ich wurde dreimal in die Knesset gewählt. Ich genoss die beiden ersten Amtszeiten - acht aufeinander folgende Jahre - weil ich das Gefühl hatte, dass ich die richtigen Dinge in der richtigen Art und Weise tat. Während meiner dritten Amtszeit hatte ich das Gefühl, weniger kühn, weniger innovativ, weniger originell zu sein. Also trat ich zurück.

Netanjahu ist jetzt in seiner vierten Amtszeit. Höchste Zeit für ihn, abzutreten.


DIE BIBEL ermahnt uns: "Freue dich nicht über den Fall deines Feindes und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück." (Sprüche 24,17). Ich freu mich nicht, aber ich werde froh sein, wenn er geht.

Ich hasse ihn nicht. Ich liebe ihn auch nicht. Ich denke, dass ich mit ihm bei nicht mehr als zwei oder drei Gelegenheiten in meinem Leben gesprochen habe. Einmal, als er mich seiner zweiten - nicht letzten - Frau vorstellte, einer jungen Amerikanerin, und einmal, als er mein Bild in der Ausstellung sah. Er sagte mir, ich sähe wie Errol Flynn aus.

Meine Haltung ihm gegenüber gründet sich nicht auf Gefühle. Sie ist rein politisch. Er ist ein talentierter Politiker, ein schlauer Demagoge. Aber ich bin davon überzeugt, dass er Israel langsam aber sicher in eine historische Katastrophe führt.

Die Leute glauben, dass er ohne Prinzipien ist, dass er alles tun würde - alles - um an der Macht zu bleiben. Das stimmt. Aber unter allem verbergen sich ein paar eiserne Überzeugungen - die Weltanschauung seines verstorbenen Vaters, des Geschichtsprofessors, dessen Spezialgebiet die Spanische Inquisition war. Vater Benzion Netanjahu war eine verbitterte Person, davon überzeugt, dass seine Kollegen ihn verachteten und seine Karriere wegen seiner extrem rechten Ansichten blockierten. Er war ein Fanatiker, für den sogar Vladimir Jabotinsky zu moderat war.

Der Vater bewunderte seinen ältesten Sohn, Yoni, ein Armeeoffizier, der bei dem berühmten Entebbe-Angriff getötet wurde; Bibi respektierte er nicht sonderlich. Er sagte einmal, dass er als Ministerpräsident nicht geeignet sei, doch könnte er ein guter Außenminister sein - eine sehr scharfsichtige Beobachtung.


WENN BIBI fällt, und das scheint möglich, wer wird ihn dann ersetzen?

Wie jeder kluge (und unsichere) Führer, hat Bibi jeden möglichen Rivalen rings um sich her vernichtet. Jetzt ist weit und breit kein Erbe in Sicht.

Aber viele Leute wiederholen jetzt einen Slogan: "Nur nicht Bibi!"



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 12.08.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2017

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