Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/923: Bonapartismus von links - die Bedeutung der Thüringenwahl für progressive Politik (spw)


spw - Ausgabe 6/2019 - Heft 235
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Bonapartismus von links - die Bedeutung der Thüringenwahl für progressive Politik

von Klaus Dörre


Bonapartismus bezeichnet ein politisches Interregnum. Die Kräfte des Neuen sind noch zu schwach, um sich durchzusetzen, die der Beharrung nicht mehr stark genug, um das Rad der Geschichte vollständig zurückzudrehen. Beherrschte Klassen ohne Fähigkeit zur Selbstorganisation neigen in solchen Konstellationen zur Delegation ihrer Interessen an starke Persönlichkeiten und Parteien, die neben sozialen Verbesserungen vor allem Ordnung, Stabilität und Verlässlichkeit versprechen. In einer brillanten Analyse hatte zuerst Karl Marx begründet, weshalb sich Napoleon Bonaparte III., gestützt auf die Mehrheit der französischen Parzellbauern, in demokratischen Wahlen durchsetzen konnte, um sodann die Monarchie zu restaurieren.(1) Jahrzehnte später versuchten August Thalheimer und Otto Bauer mit Hilfe einer auf die neue historische Situation zugeschnittenen Bonapartismusthese, den Faschismus ihrer Zeit zu erklären.(2) Gegenwärtig gelangt die Bonapartismusanalyse bei der Erklärung des Rechtspopulismus zu neuen Ehren.(3) Seit der Thüringer Landtagswahl wissen wir: Bonapartismus funktioniert auch von links. Sicher wäre es vermessen, den Ministerpräsidenten eines kleinen Bundeslandes ernsthaft mit einem Louis Bonaparte III. zu vergleichen. Der Thüringer Miniatur-Bonapartismus offenbart jedoch Mechanismen, die weit über das Land hinaus bedeutsam sind.


Ein politisches Patt

In Thüringen haben neben Anhänger*innen von Grünen und SPD selbst Teile des liberalkonservativen Bürgertums taktisch gewählt. Sie haben ihre Interessen an einen Ministerpräsidenten delegiert, der, auch wenn es Wahlplakate verschweigen, Mitglied der Linkspartei ist. Wer einen Durchmarsch der völkischen Höcke-AfD verhindern wollte, stimmte für Bodo Ramelow, der sich als Garant von Ordnung, Stabilität und Verlässlichkeit präsentiert. Wegen des Ministerpräsidenten-Bonus kann die Linkspartei triumphieren, während die Partner in der rot-rot-grünen Landesregierung (r2g) schwächeln. Mit deutlich unter zehn Prozent der Stimmen ist die SPD auf ein Rekordtief abgerutscht (8,2 Prozent); die Grünen mussten gar um ihren Wiedereinzug in den Landtag zittern (5,2 Prozent). Trotz des Wahlsiegs der Linkspartei (31 Prozent) hat das Regierungsbündnis seine Mehrheit verloren. Auch die bürgerliche Opposition ist jedoch nicht in der Lage, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Neben dem Aufstieg der AfD, die ihr Ergebnis mehr als verdoppelte (23,4 Prozent), liegt das vor allem an der Schwäche der CDU. Jahrzehntelang die Thüringer Regierungspartei und kommunal noch immer dominant, ist die Partei nun hinter die AfD zurückgefallen (21,7 Prozent). Der äußerst knappe Wiedereinzug der Liberalen in das Landesparlament (5,0 Prozent) kann die Schwäche der Christdemokraten nicht kompensieren.

Im Ergebnis können starke regierungsfähige Mehrheiten unter Ausschluss der AfD nur gebildet werden, wenn CDU und Linke koalieren. Trotz entsprechender Voten aus der Zivilgesellschaft schließen beide Parteien das gegenwärtig aus. Zu Recht fürchten sie, eine solche Koalition könne Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen sein. Letzteren geht es darum, die "CDU in absurde Lagen" zu zwingen, "die erweisen, wo diese 'Chucks' (gerupfte Hühner, KD) wirklich stehen".(4) Eine Koalition mit AfD und FDP, für die u. a. CDU-Fraktionsvize Heym warb, ist in der tief gespaltenen Christdemokratie vorerst nicht mehrheitsfähig. Gleiches gilt für die Wahl eines CDU-Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD. Wichtige Kommunalpolitiker der CDU, allen voran der altgediente Landrat aus dem erzkonservativen Eichsfeld, sehen den Regierungsauftrag zu Recht bei Bodo Ramelow und der Linkspartei. Pragmatische Konservative wollen stabile Verhältnisse und betrachten ein r2g-Minderheitenkabinett wohl als das kleinere Übel. Unter dem Strich bleibt ein politisches Patt. Die AfD verfügt über eine Sperrminorität, die linke Mehrheiten ausschließt. Das zwingt die demokratischen Parteien zu politischen Innovationen. Derzeit ist eine rot-rot-grüne Minderheitenregierung, die jedoch zwecks Nutzung plebiszitärerer Elemente wohl auf Verfassungsänderungen angewiesen wäre, die Wunschvorstellung der Linkspartei. Der Ministerpräsident hat eine "technische Regierung" mit parteilosen Experten als zusätzliche Option ins Spiel gebracht.


Regierungskunst ohne Hegemonie

Doch gleich ob sich eine dieser Varianten durchsetzt oder am Ende doch Neuwahlen anstehen, stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Thüringen-Wahl für linke Politik. Meine Antwort lautet: r2g steht vielleicht für hohe Regierungskunst, aber keinesfalls für eine erfolgreiche Ausübung linker Hegemonie. Dafür sprechen schon die Fakten: 2009 - r2g war noch nicht durchsetzbar - verfügten Linke (27,4 Prozent), SPD (18,5 Prozent) und Grüne (6,2 Prozent) über eine klare parlamentarische Mehrheit. Davon sind sie inzwischen ein gutes Stück entfernt. Das ist aber nur die wahlarithmetische Dimension des Problems. Hegemonie entsteht, wenn organisierte Kräfte Definitionsmacht über die Zukunftsprobleme einer Gesellschaft erlangen und darauf basierend ihre politischen Ideen mehrheitsfähig machen. Das ist derzeit nirgendwo der Fall. Die Dramatik einer sozial-ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution(5) findet im politischen System keine angemessene Repräsentation. Thüringen bietet nur eine Variation dieser allgemeinen Problematik. Der Regierung Ramelow kam zugute, dass das kleine Bundesland eine erstaunliche Entwicklung hinter sich hat. Mit der Optoelektronik oder der Auto- und Zulieferindustrie haben sich ökonomische Wachstumsbranchen herausgebildet, die gemeinsam mit sozialen Dienstleistungen zu Beschäftigungsaufbau und dem Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit beigetragen haben. Wie im gesamten Osten beruhte der wirtschaftliche Erfolg in Thüringen über viele Jahre auf einem Modell, das Wettbewerb mit niedrigen Löhnen und "überzähligen" Fachkräften erlaubte. Selbst bei vergleichbaren Qualifikationen und Tätigkeiten liegen die Löhne im gesamten Osten noch immer um mehr als 16 Prozent unter Westniveau. In der Thüringer Zulieferindustrie beträgt der Abstand gar 33 Prozent. Man mag dies mit nachgelagerten Positionen in Wertschöpfungsketten, fehlenden Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und vornehmlich kleinbetrieblichen Strukturen begründen. Für qualifizierte junge Leute ist das aber kein Grund, im Land zu bleiben. Der Arbeitsmarkt hat sich von einem Käufer- zu einem Anbietermarkt gemausert. Deshalb wachsen die Ansprüche an Entlohnung und Arbeitsbedingungen. Doch Gewerkschaften, betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung sind zu schwach, um diese Ansprüche durchzusetzen. So musste die IG Metall jüngst die Tarifverhandlungen zur Einführung der 35Stunden-Woche ergebnislos abbrechen. Die gewerkschaftlichen Kräfte reichen nicht aus, um im Osten flächendeckend durchzusetzen, was im Westen längst Standard ist.

Der permanenten Veränderungen müde, sehen sich die materiell benachteiligten und in ihrer Selbstwahrnehmung kulturell abgewerteten Teile der Thüringer Bevölkerung nun mit den Herausforderungen der nächsten großen Transformation konfrontiert. In der Auto- und Zulieferindustrie des Landes mit ihren ca. 67.000 Arbeitsplätzen ist das Jobwachstum seit 2017 vorbei. Westthüringen hat in der Branche bereits mehr als 2.400 Arbeitsplätze verloren. In naher Zukunft werden die Herausforderungen für die Unternehmen nicht nur dieses Wirtschaftszweigs weiter zunehmen. In der kleinteiligen Zulieferbranche ist das Gros der Betriebe weder auf die Digitalisierung noch auf die Umsetzung von Dekarbonisierungszielen vorbereitet. Während der Automobilcluster in Sachsen darauf hoffen kann, bei VW, BMW und Porsche durch die Umstellung auf Elektromobilität zu gewinnen, sieht das in Thüringen deutlich anders aus. Viele Betriebe haben sich von vollen Auftragsbüchern blenden lassen. Weil sich die Abkehr vom Niedriglohnmodell nur schleppend vollzieht, fehlt es an Fach- und Arbeitskräften. Strategische Kompetenzen, welche erlauben würden, die im Gange befindliche Transformation als Chance zu betrachten, sind kaum vorhanden. Dies vor Augen, tendieren erhebliche Teile der Beschäftigten zur Konservierung des Bestehenden. Je näher man dem Wertschöpfungssystem Automobil rückt, desto lauter werden Stimmen, die vor Klimahysterie und überstürzten Veränderungen warnen.(6) Hegemoniefähigkeit hieße, über Lösungen zu diskutieren, die es erlaubten, strukturelle Verwerfungen im Sinne sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit anzugehen. Davon ist r2g in Thüringen noch sehr weit entfernt.


Erfolgreiche Machttechnik

Von Gewerkschaften, Betriebsräten und Wirtschaftsvertretern seit Jahren mit absehbaren Krisenphänomenen konfrontiert, herrschte lange Problemverdrängung. Nur gute Nachrichten passten zur Regierungspolitik. Diese Art der politischen Kommunikation beruhte offenbar auf einem sorgfältig durchdachten Konzept. Dass die knappste aller möglichen Mehrheiten für r2g fünf Jahre überstanden hat, zeugt tatsächlich von hoher Regierungskunst. SPD und Grüne wurden von der Staatskanzlei auf Augenhöhe an der Politikentwicklung beteiligt. Das Bündnis pflegte einen Stil, dessen Hauptziel darin bestand, bis ins bürgerliche Lager hinein zu integrieren. Für Kritik von links oder von unten bot die Koalition keinen Raum. Nur wer sich positiv verhielt, konnte mit Belohnung rechnen. Politische Entscheidungen fielen im engen Kreis der politisch Eingeweihten. Ein pragmatischer Ministerpräsident sorgte mit außergewöhnlicher Landeskenntnis, einem fabelhaften Gespür für Details und einer authentischen Jedermanns- Sprache für die nötige Popularität.

Den Ministerpräsidenten-Bonus auszubauen und einen mehrheitlich konservativen Staatsapparat nicht mit strategischer Politik zu überfordern, entsprach einer Machttechnik, die höchst erfolgreich implementiert wurde. Bodo Ramelow, den der damalige Vorstandsvorsitzende der Jenoptik AG anfangs nicht einmal zum Neujahrsempfang des Unternehmens einladen wollte, präsentierte sich erfolgreich als Ministerpräsident aller Thüringer*innen. Seine Partei, die ihm nahezu bedingungslos folgte, besetzte die politische Mitte. Punktuelle Verbesserungen in einzelnen Politikfeldern mussten genügen, um der Koalition die gesellschaftliche Basis zu sichern.(7) Tatsächlich hat diese Politik der kleinsten Schritte - darin der Merkel-Regierung im Bund und der schwarzgrünen Koalition in Baden- Württemberg ähnlich - den Konkurrenten im politischen Zentrum Themen und Angriffsfläche genommen. Mit ihrem Werben für ein Bündnis der Mitte attackierte die CDU im Wahlkampf daher einen Gegner, der längst selbst definierte, wer und was zum politischen Zentrum gehört. Wegen des gemäßigten Kurses hatte r2g im Land längst allen Schrecken verloren. Die "Lebenslüge"(8), linker und rechter Extremismus seien gleich gefährlich, verstellte den CDU-Strategen offenbar den Blick für die Realität. Attacken der konservativen Opposition verfehlten eine Landesregierung, die keineswegs sozialdemokratisch, sondern, etwa in der Sozial- und Migrationspolitik, eher linksliberal agierte.


Der politische Preis - Aufstieg der AfD

Das Besetzen der politischen Mitte verlangt jedoch einen Preis. Wie der "Merkelismus"(9) im Bund sorgt auch der Thüringen-Bonapartismus für eine Stillstellung politischer Gegensätze. Mit Blick auf Strukturprobleme wie die der Auto- und Zulieferindustrie hätten die demokratischen Parteien tatsächlich einen Grundkonflikt austragen können. Digitalisierung und sozialökologischer Umbau verlangen nach einer langfristig angelegten wirtschafts- und industriepolitischen Strategie. Selbst Vordenker schwarz-grüner Bündnisse räumen inzwischen ein, dass der sozial-ökologische Umbau ohne einen Staat als Innovator und Garanten sozialer Sicherheit kaum gelingen kann.(10) Diese Botschaften sind in der Thüringer CDU offenbar noch nicht angekommen. Ihr Wirtschaftsflügel operiert mit einem Marktverständnis, das selbst seriöse Ordoliberale verschrecken muss. Noch schlimmer ist es um die FDP bestellt. Ihr Votum für Sonderwirtschaftszonen Ost, würde, sollte es Wirklichkeit werden, auch noch die letzte qualifizierte Arbeitskraft aus dem Lande treiben.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Fehlkonzepten hätte sich für den Wahlkampf geradezu aufgedrängt. "Bodo Ramelow!", lautete stattdessen die wichtigste Losung der Linkspartei. Weniger Inhalt ist kaum möglich. Im Windschatten der großen Vereinnahmung, die den Streit um politische Richtungen nicht mehr kennen will, gedeiht - das eben ist der Preis - eine radikale Rechte, die als populistisch zu bezeichnen inzwischen einer Verharmlosung gleichkommt. Zwar hat sich die AfD im Wahlkampf gut bürgerlich präsentiert, wer wollte, konnte den Geist eines neuen Faschismus dennoch deutlich spüren. So warb der Landeschef Björn Höcke mit Goebbels-Attitüde für ein großangelegtes Re- Migrationsprojekt, bei dessen Durchsetzung "wohltemperierte Grausamkeit" kein Tabu sein soll. Mit ihrer Polemik gegen "Volkstod" und "großen Austausch" propagiert die AfD selbst in der gemäßigten Rhetorik ihres Wahlprogramms eine Ideologie, die in ihrer brutalsten Konsequenz nach ethnischen Säuberungen drängt. Dass eine offenkundig faschistoide AfD 23,4 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte, hat gewiss viele Gründe. Das Fehlen eines wirklichen Ringens um politische Alternativen im demokratischen Spektrum ist einer der wichtigsten.


Wohin soll die Reise gehen?

Umso schwerer wiegt, dass eine ernsthafte Aufarbeitung des AfD-Erfolgs im r2g-Spektrum bisher ausgeblieben ist. Man belässt es bei Selbstberuhigung. 20 Prozent der Bevölkerung seien für die Demokratie verloren, lauten fatale Fehleinschätzungen, die bei wichtigen Repräsentant*innen der Regierungsparteien Anklang finden. Hinweise, dass sich hinter den Wahlentscheidungen zugunsten der AfD auch sozialer Protest verbergen könnte, möchte die etablierte Heuristik des Verdachts nicht wahrhaben(11). Die Frage, weshalb die AfD ausgerechnet bei erwerbstätigen Arbeitern stärkste Partei werden konnte (39 Prozent), wird erst gar nicht gestellt.(12) Entsprechende Haltungen münden in einen hilflosen Antirassismus, der systematisch verkennt, dass die radikale Rechte nur zu besiegen ist, wenn man ihr den Problemrohstoff entzieht, mit dessen Hilfe sie gegenwärtig wächst und gedeiht. Problemrohstoff zu beseitigen heißt, die Gesellschaft in progressiver Weise zu verändern.

Über das dazu nötige Programm muss man nicht lange nachdenken. Auch Thüringen braucht einen Green New Deal. Das heißt beispielsweise: Soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele gehören, wie der BUND es fordert, in die Landesverfassung. Die Dekarbonisierung der Wirtschaft muss rasch und entschlossen durchgesetzt werden. Wer in der Zulieferindustrie oder anderen Karbonbranchen seinen Arbeitsplatz verliert, soll mit staatlichen Job-Garantien rechnen dürfen. Erziehende, bildende und pflegende Berufstätigkeiten gehören - auch als Beschäftigungsalternative - materiell wie ideell aufgewertet. Alternativ sollte es möglich sein, eine Bildungskarenzzeit (mindestens 60 Prozent des Lohns für das erste Studienjahr) in Anspruch zu nehmen. Um dergleichen zu ermöglichen, haben sich die Universitäten für Menschen aus der beruflichen Praxis zu öffnen. Der Klimawandel gehört in die Curricula von Schulen und Hochschulen. In der Landwirtschaft, dem Verkehr, dem Energie- und Gebäudesektor muss das Umsteuern hin zu Produkten aus ökologisch nachhaltiger Produktion gefördert werden. Das verlangt nach großvolumigen Investitionen und erfordert eine Abkehr von "schwarzer Null" und restriktiver Haushaltspolitik. Alle genannten Maßnahmen ließen sich beispielsweise in einer Modellregion "nachhaltige Mobilität" verzahnen. Ein solches Projekt könnte weit über die Landesgrenzen hinaus Räume integrieren, die vom Strukturwandel besonders hart gebeutelt sind.

Über entsprechende Richtungsentscheidungen ließe sich eine Auseinandersetzung um die Zukunft der Gesellschaft auch im Osten führen. Rasch würde deutlich, was die AfD an zukunftstauglichen Konzepten beizutragen hat - in der Regel gar nichts. Offen ist, ob die Parteien des demokratischen Spektrums die Kraft zum Streit über die dringend nötige Nachhaltigkeitsrevolution finden. Nur wenn sie entsprechende Auseinandersetzungen ermöglicht, ist eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung eine zukunftstaugliche Option. Bleibt es indes beim Miniatur-Bonapartismus, ist das Ende von r2g absehbar. Spätestens mit dem Abtreten jener Persönlichkeit, auf deren Ausstrahlung die erfolgreiche Machttechnik basiert, müsste die Koalition einer rechten Hegemonie weichen. Allerdings würde die Gesellschaft dann wohl noch stärker von jenem Geist beherrscht, den als faschistisch zu bezeichnen selbst für Thüringer Richter kein Tabu mehr ist.


Anmerkungen

(1) K. Marx (1982 [1852]): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 111-207.

(2) A. Thalheimer (1976): Über den Faschismus, in: W. Abendroth/O. K. Flechtheim/I. Fetscher (Hrsg.): Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktionen des Faschismus, Frankfurt/Main und Wien, S. 19-38; O. Bauer, Werkausgabe, Band 4, Wien, S. 147.

(3) M. Beck/I. Stützle (Hrsg.) (2018): Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co verstehen, Berlin: Dietz Verlag.

(4) G. Kubitschek, in: Sezession vom 28. Oktober 2019.

(5) Vgl.: K. Dörre (2019): Die Gewerkschaften - progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution? In: spw. Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft. Heft 233, S. 38-46.

(6) M. Holzschuh et al. (2019): "Wir reiten das Pferd bis es tot ist!" Arbeitnehmerperspektiven auf die Konversionschancen der Thüringer Automobilindustrie (KonvAT), Jena: Ms.

(7) Vgl.: Gewerkschafter*innen für Rot-Rot-Grün.
https://sandrowitt.wordpress.com/2019/10/16/gewerkschafterinnen-fur-rot-rot-grun/
Aufgezählt werden: verbesserte Mitbestimmung der Beschäftigten von Land und Kommunen, zusätzliches Personal für Schulen und Polizei, ein weiteres beitragsfreies Kita-Jahr, 1.000 zusätzliche Stellen im Rahmen eines Förderprogramms für Langzeitarbeitslos sowie - sehr allgemein - eine Weichenstellung "in Richtung Arbeit, höhere Löhne und handlungsfähiger Sozialstaat".

(8) A. von Lucke (2019): Thüringen als Menetekel. Wie man aus Rechtsradikalen Bürgerliche macht. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/18, S. 5-8.

(9) St. Hebel (2019): Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft. Frankfurt a. M.: Westend Verlag.

(10) R. Fücks & Th. Köhler (Hrsg.) (2019): Soziale Marktwirtschaft ökologisch erneuern. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

(11) Exemplarisch: Ch. Richter et al. (2019): Rechtsradikale Landnahme. Analyse der AfD-Wahlerfolge zur Landtagswahl 2019 in den Thüringer Gemeinden. Jena: Ms. Das Problem dieser Studien ist, dass keiner der gewählten raumbezogenen Indikatoren (ebd., S. 5 f., 17 ff.) wirklich messen kann, was als Ergebnis behauptet wird - die geringe Relevanz soziodemographischer und sozialer Merkmale für Wahlentscheidungen zugunsten der AfD. Entscheidend sei das "Raumklima"; die AfD werde stark, wo zuvor die NPD Wahlerfolge eingefahren habe, lautet die zentrale Botschaft (ebd. S. 13). Benannt wird ein statistischer Zusammenhang, inhaltlich aber eine Tautologie. Auch die Wahlerfolge der NPD, die stets weit unter den AfD-Ergebnissen lagen, wären ja ursächlich zu erklären. Mit ähnlicher Methodik lässt sich indes auch die - ebenfalls eindimensionale - Modernisierungsverlierer-These begründen. Vgl.: R. Melcher (2019): Wer sind die AfD-Wähler*innen? In: W. Schroeder/B. Weßels (Hrsg.): Smarte Spalter. Bonn: J.H. W. Dietz. Beide Ansätze unterschätzen die Komplexität und Widersprüchlichkeit rechtspopulistischer Orientierungen, wie sich in qualitativen Untersuchungen etwa am Beispiel rechtsaffiner Arbeiter*innen nachweisen lässt. Vgl.: K. Dörre et al. (2018): Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte. In: Berliner Journal für Soziologie, Vol. 28(1-2), S. 55-89;
https://doi.org/10.1007/s11609-018-0352-z.

(12) H. Kahrs (2019): Die Wahl zum Thüringer Landtag am 27. Oktober 2019. Wahlnachtbericht und erster Kommentar. Berlin (RLS), S. 17.


Autor

Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2019, Heft 235, Seite 12-16
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Straße 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 7,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Europa Euro 49,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang