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STANDPUNKT/987: Die Epoche der Militärs (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. September 2021
german-foreign-policy.com

Die Epoche der Militärs

Brüssel und Berlin dringen auf beschleunigte Militarisierung der EU. Kramp-Karrenbauer sagt "Epochenwechsel" und stärkere Rolle der Außen- und Militärpolitik voraus.


BERLIN/BRÜSSEL - EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer verlangen einen "Sprung nach vorn" bei der Militarisierung der EU. Man trete "in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz" auf globaler Ebene ein, erklärte von der Leyen gestern in ihrer Rede zur Lage der Union; die EU müsse deshalb eigenständig militärisch operieren können - auch "ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO". Kramp-Karrenbauer stufte die Forderungen der Kommissionspräsidentin als "wichtig" ein. Erst kürzlich hatte sie für zukünftige EU-Militäreinsätze die Schaffung von "Koalitionen der Willigen" empfohlen, die auch von Berliner Regierungsberatern befürwortet wird. Vergangene Woche hat sie zudem einen aktuellen "Epochenwechsel" diagnostiziert, nach dem "Sicherheitspolitik viel stärker im Mittelpunkt stehen" werde als bisher; mit Blick auf Militäreinsätze müsse sich "Deutschlands strategische Kultur verändern". Im ersten Halbjahr 2022 soll ein EU-Verteidigungsgipfel neue Weichen stellen. Kramp-Karrenbauer schließt einen "robusten" Einsatz in Mali nicht aus.

"Eine neue Ära verstärkter Konkurrenz"

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am gestrigen Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der Union weitere Schritte zur Militarisierung der EU gefordert. Man trete "in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz" auf globaler Ebene ein, erklärte von der Leyen; daher müsse die Union militärisch handlungsfähig sein - und zwar auch "ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO". Es gelte, "in unserer Nachbarschaft" und darüber hinaus - "in unterschiedlichen Regionen" - "für Stabilität [zu] sorgen"; dazu sei eine "Europäische Verteidigungsunion" anzustreben.[1] Von der Leyen verlangt nicht nur, die "Interoperabilität" der Streitkräfte in der EU zu stärken. Dazu werde schon jetzt kräftig in gemeinsame Rüstungsprojekte "von Kampfflugzeugen bis hin zu Drohnen" investiert. Die Kommissionspräsidentin schlägt vor, den Aufbau einer eigenständigen EU-Rüstungsindustrie weiter zu beschleunigen durch "eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von Verteidigungsausrüstung, die in Europa entwickelt und hergestellt wurde". Darüber hinaus müsse aber endlich auch eine "Grundlage für unsere gemeinsame Entscheidungsfindung" über EU-Militäreinsätze geschaffen werden; neue Kampftruppen allein genügten nicht.

"Koalitionen der Willigen"

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die von der Leyens Forderungen nun ausdrücklich begrüßt, hatte sich bereits kürzlich ähnlich geäußert. Hintergrund waren Vorschläge, eine rund 5.000 Soldaten umfassende schnelle EU-Eingreiftruppe zu schaffen ("first entry force"), die für ein "sofortiges, kurzfristiges Einsatzszenario" zur Verfügung stehen soll. Kramp-Karrenbauer hatte am 2. September, während eines Treffens mit ihren EU-Amtskollegen, erklärt, dies allein genüge nicht; "die zentrale Frage für die Zukunft" der Außen- und Militärpolitik der EU sei vielmehr, wie man "unsere militärischen Fähigkeiten" tatsächlich nutze.[2] Kramp-Karrenbauer bezog sich damit auf die Tatsache, dass die EU ihre EU-Battlegroups, die seit 2007 voll einsatzfähig bereitstehen, noch nie eingesetzt hat - aufgrund politischer Differenzen, ob bzw. wo dies geschehen soll. Um trotz der divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten künftig rasch intervenieren zu können, schlug Kramp-Karrenbauer "Koalitionen der Willigen" vor. "Deutschland und Frankreich sind bereit, hier voranzugehen", teilte die Bundesverteidigungsministerin gestern mit; "andere Länder unterstützen diesen Plan."[3]

Spaltungsgefahr

Dem schließen sich auch Berliner Regierungsberater an - und stellen zugleich weiterreichende Forderungen. So heißt es etwa in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die militärische "Fortentwicklung der EU" dürfe "nicht länger von einigen wenigen Mitgliedstaaten behindert werden"; die Forderung nach "Koalitionen der Willigen" gehe in die richtige Richtung. Allerdings werde sich "mehr Flexibilität ... nur auszahlen", wenn sich die EU-Mitgliedstaaten außerdem "dazu bereit erklären, verbindliche Streitkräfteziele vorzugeben, um bestehende Fähigkeitslücken zu schließen". Der Ansatz, die Aufrüstung allein den einzelnen Ländern zu überlassen, sei "gescheitert".[4] Die SWP weist zudem darauf hin, dass das Setzen auf "Koalitionen der Willigen" zu neuen inneren Spannungen führen kann. Die Bundesregierung habe "flexiblere, pragmatischere oder auch ad hoc agierende Formate" bislang abgelehnt, da sie "die Gefahr" bärgen, "die EU zu spalten und so zu schwächen", stellt die SWP fest. Berlin müsse daher in Zukunft "eine neue Balance finden zwischen dem legitimen Ansatz, die EU-Integration ... zu vertiefen, und der Notwendigkeit, die EU in die Lage zu versetzen, Schritt zu halten mit den rasanten Veränderungen der internationalen Sicherheitspolitik".

"Vor großen Aufgaben"

Mit Blick auf die globale politische Lage urteilt Kramp-Karrenbauer darüber hinaus, "dass sich Deutschlands strategische Kultur verändern muss".[5] Aktuell stehe ein "Epochenwechsel" bevor, nach dem "Sicherheitspolitik viel stärker im Mittelpunkt stehen" werde "als früher", erklärte die Ministerin bei der Einweihung von IISS Europe, dem "Europabüro" des International Institute for Strategic Studies (London), am Pariser Platz in Berlin. Dabei entstehe "der Eindruck, dass sich die strategische Großwetterlage schneller verändert, als die Einstellung in Deutschland sich anpassen kann oder will". Es komme "viel auf uns zu"; deshalb werde die künftige Bundesregierung - "ganz gleich, wer sie bilden wird" - unmittelbar "vor großen Aufgaben stehen". Bei der "Gestaltung des Epochenwechsels" sei die Bundeswehr "ein Pfund", mit dem man "wuchern kann", erklärte die Ministerin. "Die Bedrohungen an den Außengrenzen Europas und der NATO wachsen", äußerte Kramp-Karrenbauer: im Osten etwa "durch Russland", in der Sahelzone "durch islamistische Extremisten". So werde "schon bald ... die Frage auf uns zukommen, ob wir bereit sind", im Sahel "mit einem robusten Mandat vor Ort in den Einsatz zu gehen".[6]

Europas Sprung nach vorn

Zur Planung konkreter Schritte kündigt EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen einen "Gipfel zur Europäischen Verteidigung" im ersten Halbjahr 2022 an; dann wird Frankreich den EU-Ratsvorsitz innehaben. Es sei "an der Zeit, dass Europa einen Sprung macht", sagte von der Leyen gestern.[7] Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer schloss sich an: "Ein deutlicher Sprung nach vorn für die europäische Verteidigung ist dringend notwendig."[8] Als Hindernis könnte sich freilich erweisen, dass der Gipfel von Frankreich ausgerichtet wird, dessen militärische und militärpolitische Vorstöße seit Jahren von der Bundesregierung systematisch ausgebremst werden. So hat sie bislang die von Paris angestoßene Initiative européenne d'intervention (IEI) - den Versuch, schnelle, flexible EU-Militäreinsätze zu ermöglichen - zugunsten des PESCO-Projekts systematisch ausgebremst (german-foreign-policy.com berichtete [9]) und sich dem französischen Drängen, den Kampfeinsatz in Mali stärker durch EU-Truppen zu unterstützen, verweigert. Ob Berlin sich im Frühjahr gegenüber Paris nachgiebiger zeigen wird oder ob Frankreich erneut zurückstecken muss, wird sich zeigen.


Anmerkungen:

[1] Rede der Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union - 2021. ec.europa.eu 15.09.2021.

[2] S. dazu EU-Kriegskoalitionen der Willigen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8694/

[3] Statement der Verteidigungsministerin zur Rede der EU-Kommissionspräsidentin. bmvg.de 15.09.2021.

[4] Ronja Kempin: EU-Sicherheitspolitik: Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. swp-berlin.org 14.09.2021.

[5], [6] Annegret Kramp-Karrenbauer zur strategischen Kultur in Deutschland und Europa. bmvg.de 08.09.2021.

[7] Rede der Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union - 2021. ec.europa.eu 15.09.2021.

[8] Annegret Kramp-Karrenbauer zur strategischen Kultur in Deutschland und Europa. bmvg.de 08.09.2021.

[9] S. dazu Die Koalition der Kriegswilligen (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7777/ und Vor neuen Konfrontationen. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7920/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 5. Oktober 2021

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