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LAIRE/1118: US-Verteidigungsminister klagt über Europas "Friedfertigkeit" (SB)


Tiefgreifende Kritik von Robert Gates an den europäischen NATO-Verbündeten

Das Militärbündnis soll reformiert werden und besser für zukünftige Konflikte gewappnet sein


Die Erklärung des US-Verteidigungsministers Robert Gates, daß sich "die Demilitarisierung Europas ... von einem Segen im 20. Jahrhundert zu einem Hindernis für das Erlangen echter Sicherheit und dauerhaften Friedens im 21." Jahrhundert gewandelt habe, zeugt von keinem neuen Geist im Pentagon, doch von einer Bündelung der Kräfte im Vorfeld zu erwartender globaler Auseinandersetzungen. Seit langem hebt sich die NATO-Führungsmacht USA militärtechnologisch von den europäischen Verbündeten ab und seit langem fordert die US-Regierung die Europäer zu einem stärkeren Engagement bei der "Friedenssicherung" und dem "globalen Kampf gegen den Terror" auf. Insofern wird Gates mit seiner Erklärung beim Treffen von NATO-Militärs und Sicherheitsexperten diese Woche in Washington niemanden überrascht haben. Der Pentagon-Chef knüpft damit an die Aussage seines Vorgängers Donald Rumsfeld an, der sich gern in der Rolle des Zuchtmeisters sah und mit seiner Unterscheidung zwischen einem neuen (konfliktbereiten) und alten (zögerlichen) Europa die NATO-Verbündeten gegeneinander ausspielen wollte, um letztlich beide Seiten enger an die Kandare nehmen zu können.

Man konnte den Eindruck gewinnen, als zitiere Gates, der schon die kriegerischen Aktivitäten der republikanischen Vorgängerregierung mitgestaltet hat, aus dem Lehrbuch für Frischlinge an einer der Militärakademien der USA, als er mit Blick auf das seiner Meinung nach mangelnde Engagement der Europäer den Standpunkt vertrat, daß echte oder vermutete "Schwäche" eine Versuchung für "Fehleinschätzung und Aggression" sein könne. Er lastete den Europäern sogar die Verantwortung auf, wenn aufgrund der Mitteleinsparungen kaum noch miteinander vorgegangen und zusammen gekämpft werden könne, "um gemeinsamen Bedrohungen zu begegnen", berichtete die britische Zeitung "The Guardian" (23.2.2010, online).

Fraglos bildet der Bruch der niederländischen Koalitionsregierung, die sich nicht auf eine Aufstockung des Kontingents für den Afghanistan-Krieg einigen konnte, da ursprünglich ein Rückzug vereinbart worden war, den aktuellen Anlaß für Gates' harsche "Gardinenpredigt". Er will die Reihen geschlossen halten, denn die Europäer werden noch für weitere Kriegszüge gebraucht. Die Angriffskriege gegen Jugoslawien, Irak und Afghanistan, die Aufnahme ehemaliger Ostblockstaaten in NATO und EU, die Stationierung von Raketenstellungen in der Nähe der russischen Grenze, die Aufrüstung Georgiens und vermehrte NATO-Präsenz im Schwarzen Meer sowie das Konzept, Rußland mit mobilen, seegestützten Abfangraketen zu bedrohen, lassen unschwer erraten, wofür die USA ein starkes Europa benötigen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Fundamentalaussage des US-Verteidigungsministers, demzufolge die Schwierigkeiten von der NATO und den Europäern "Teil eines größeren kulturellen und politischen Trends" der Allianz seien, die mit "sehr ernsten, langfristigen, systemischen Problemen" konfrontiert sei.

Das könnte man fast so deuten, als wolle Gates der unbedingten Bündnistreue eine Absage erteilen und die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die USA und die Europäer eines Tages so erhebliche Meinungsverschiedenheiten haben werden, daß sie getrennte Wege gehen. Einmal angenommen, was niemand annehmen möchte, nämlich daß es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Rußland und der NATO kommt. Dann wäre Europa das erste Schlachtfeld, wohingegen Nordamerika wohl nicht gänzlich verschont würde, aber doch sehr viel besser geschützt gegenüber Angriffen wäre. Die von Gates getroffenen Feststellung "sehr ernster, langfristiger, systemischer Probleme" wirkt so, als sei das ein vorweggenommener Erklärungsversuch für ein künftiges Zerwürfnis. Nach dem Motto: Weil die Europäer von Anfang an nicht mitgezogen haben, wie wir wollten, nötigen sie uns, im Alleingang zu handeln. Nun, da russische Raketen auf Europa niederregnen, müssen sie die Suppe selber auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben. Hätten die Europäer auf uns gehört und ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut, hätte es nicht dazu kommen müssen.

Derart dissonante Töne sind allerdings noch Zukunftsmusik im schlechtesten Sinne. Zunächst geht es Gates und Außenministerin Hillary Clinton, die ins gleiche Horn stieß, darum, daß die Europäer in Afghanistan bei der Stange bleiben und zu ihren Aufrüstungsplänen stehen. Während im US-Haushalt des nächsten Jahres mehr als 700 Milliarden Dollar für die "Verteidigung" ausgewiesen sind, was einem Anteil von fast fünf Prozent am Bruttosozialprodukt (BSP) entspricht, besitzen von 26 europäischen NATO-Verbündeten nur vier einen Militärhaushalt von über zwei Prozent des BSP, merkte Gates an und behauptete, daß die bislang noch nicht eingehaltene Zusage der Europäer, mehr Transportflugzeuge und Hubschrauber anzuschaffen, unmittelbaren Einfluß auf die "Operationen" in Afghanistan habe. Die NATO bedürfe "ernsthafter, weitreichender und sofortiger Reformen", um einer Krise zu begegnen, die seit Jahren gewachsen sei. Die Einschätzung wird in wesentlichen Zügen auch vom NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen geteilt.

Von ungleich geringerer Bedeutung und in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der umfassenden Kritik des US-Verteidigungsministers an den Europäern, aber doch den Standpunkt der US-Administration und die fortschreitende Militarisierung des Landes aufzeigend, teilte am Montag das Pentagon dem Kongreß seine Absicht mit, weiblichen Seeleuten auch den Dienst auf U-Booten zu gestatten. Man mag es als eine Form der Gleichberechtigung ansehen, daß Frauen auch diese letzte männliche Bastion der US-Navy erstürmen, doch das hieße, die herrschaftlichen Absichten dieses Vorgangs zu mißdeuten. Hier wird die Fessel der Geschlechterdiskriminierung nicht gelockert, sondern straff gezogen. Die Frau gebärt nicht mehr nur das Kanonenfutter von morgen, sondern dienert sich zusätzlich mit Leib und Seele selbst dazu an.

Im übrigen irrt Robert Gates, wenn er die Ansicht vertritt, daß die mutmaßliche militärische Schwäche der Europäer zur Fehleinschätzung und Aggression einlädt, und damit unterstellt, daß das gleiche nicht auch von einer Stärke gesagt werden könnte. Galt nicht jahrzehntelang das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens als Garant des Friedens in Europa? Nun streben die Vereinigten Staaten die globale militärische Überlegenheit an und sagen das auch unumwunden. Volle Dominanz im gesamten Spektrum der Streitkräfte zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im Weltraum, lautet die Devise. Dieses Streben könnte auf der anderen Seite die Hemmschwelle, einen militärischen Konflikt zu beginnen, senken, da unterlegene Kräfte zu dem Schluß gelangen könnten, es sei gut, die Initiative zu ergreifen und die USA und ihre Verbündeten früher als später, wenn die Siegchancen noch geringer sind, anzugreifen.

25. Februar 2010