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LAIRE/1234: Regeln für Landpachtungen - ein Trojanisches Pferd (SB)


Politik gegen Hunger - Politik des Hungers

Mit dem Recht auf Land wird die Landnahme befestigt


Angesichts der akuten Existenznot als Folge von Hunger, dem jährlich 25 - 35 Millionen Menschen erliegen, haben die Satten unterschiedliche Mechanismen der Vermeidung dieses Mangels entwickelt. Die gröbste Variante ist Chauvinismus: Der gut genährte Mensch hält sich für natürlicherseits dem hungernden überlegen und findet es nur angemessen, daß die Welt so geordnet ist, wie sie ist. Eine feinsinnigere Form der Vermeidung wird über die vermeintliche Anteilnahme zum Ausdruck gebracht und läßt sich an Aussagen festmachen wie: "Es ist ein Skandal, daß in der heutigen Zeit noch immer so viele Menschen hungern müssen." Oder auch: "Das Recht auf Ernährung ist ein Menschenrecht." Eine weitere Variante lautet: "Ungeregelte Landpachtungen haben dazu beigetragen, daß die Zahl der Hungernden in der Welt zugenommen hat. Wir brauchen eindeutige Regeln für Landpachtungen."

Auf der internationalen Konferenz "Politik gegen Hunger", die am vergangenen Donnerstag in Berlin eröffnet wurde, wurde reichlich Anteilnahme für die Hungernden in der Welt gezeigt, und es wurden eine Reihe von Forderungen, Analysen und Schlußfolgerungen diskutiert, bei denen die Behauptung, man sorge sich um die Hungernden, zugleich Ausdruck der Distanznahme blieb. So ist eine Pressemitteilung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) wie folgt überschrieben: "Dr. Gerd Müller: Sicherung der Welternährung ist die Überlebensfrage der Menschheit - Anstrengungen müssen verstärkt werden". [1]

Zur Ehrenrettung Dr. Müllers, der Parlamentarischer Staatssekretär beim BMELV ist, sei angemerkt, daß die Überschrift nicht das wiedergibt, was er gesagt hat. Denn die Menschheit als Ganzes ist nicht gefährdet, auch wenn mehr als eine Milliarde Menschen hungern, so wie es inzwischen der Fall ist. Müller hatte gesagt: "Die Ernährungsfrage ist die Überlebensfrage in vielen Regionen der Welt" [1]. Das gibt das Verhältnis zwischen Satten und Hungernden treffend wieder: in manchen Regionen wird gehungert, in anderen nicht. In der unzulässigen Verkürzung und Eindampfung der Aussage Müllers drückt sich aber recht anschaulich aus, wie weit die Verkennung des letztlich mittels politischer, juristischer und militärischer Gewalt aufrechterhaltenen Verhältnisses zwischen Satten und Hungernden organisiert wird. Die gezielte Verkennung beginnt an der Stelle, an der ein Begriff wie "Menschheit" ungeachtet der extrem unterschiedlichen Überlebenschancen verwendet wird.

Aber selbst die Erklärung Müllers und in ähnlicher Form vieler anderer der rund 250 Konferenzteilnehmer, daß "wir alle" dem Erreichen des Millenniumsziels "verpflichtet" sind, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren, lenkt davon ab, daß durch das Millenniumsziel die andere Hälfte der Hungernden bereits abgeschrieben wird. Nun könnte man einwenden, daß das realistisch ist und es immerhin lobenswert wäre, wenn es tatsächlich gelänge, die Zahl der Hungernden zu halbieren.

Abgesehen davon, daß heute weltweit rund 25 Prozent mehr Menschen hungern als noch vor drei Jahren, bevor es zu einer weltweiten Preisexplosion für Grundnahrungsmittel kam, und dieses Millenniumsziel wahrscheinlich nicht erreicht wird, sei daran erinnert, daß die satte Welt vor rund 50 Jahren in Aussicht gestellt hat, daß bis zum Jahr 2000 kein Mensch mehr hungern müsse, und daß im Laufe der Jahre immer mehr Abstriche von diesem Ziel gemacht wurden. Inzwischen werden Stimmen laut, wonach 2015 vermutlich nicht mehr als Zielmarke einzuhalten ist, aber bis 2020 oder 2030 könne man damit rechnen, daß die Zahl der Hungernden halbiert wird. Somit wird der faule Kompromiß, bei dem ohnehin zig Millionen Menschen nicht vor dem Hungertod bewahrt werden sollen, zeitlich weiter und weiter nach hinten geschoben.

Neben vielen anderen Ideen, was gegen die Hungerlage in der Welt zu tun wäre, wurde vorgeschlagen, daß es mehr Rechtssicherheit beim Zugang zu Land geben müsse. "Sichere Zugangsrechte zu Land und anderen produktiven Ressourcen sind für die Mehrheit der hungernden Menschen in ländlichen Gebieten überlebenswichtig und ein Schlüsselfaktor für die Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung", heißt es in einer weiteren Pressemitteilung des BMELV. [2]

Das leuchtet scheinbar ein: Nur wenn der Bauer ein Recht auf Land hat, kann er sein Recht auf Nahrung wahrnehmen. Hier wird allerdings übersehen, daß eben diese Verrechtlichung der Landfrage ein Türöffner für die Enteignung von Land sein kann. Was wird wohl eine Bäuerin denken, deren Familie oder Stamm zeit ihres Lebens in den nahen Wald gegangen ist, um Beeren oder Nüsse zu sammeln, davon halten, wenn ihr nun erklärt wird, daß sie ein Recht dazu hat, das zu tun? Muß sie nicht den Eindruck gewinnen, daß ihr irgendetwas weggenommen werden soll? Denn die Dorfbewohner brauchen kein Recht, um das zu tun, was sie schon immer getan haben. Erst mit dem Verfügungsinteresse anderer an dem Land werden Rechte vergeben und genommen.

Gewiß, gegenüber Formen der Landnahme, bei der beispielsweise die Hälfte der Agrarfläche Madagaskars auf 99 Jahre an den südkoreanischen Konzern Daewoo gehen sollte, der dafür als "Gegenleistung" kaum mehr als die infrastrukturellen Verbesserungen der Region hätte vornehmen müssen, die er sowieso zum Abtransport seiner Beute gebraucht hätte, dürfte ein rechtlicher Schutz vor solcherart Landraub zum Vorteil der madagassischen Bevölkerung gereichen. Die schwächere Seite kann es sich nicht leisten, in diesem profitorientierten Verwertungssystem auch nur einen Vorteil aus der Hand zu geben.

Die angebliche Bevorteilung der Landbevölkerung durch eine rechtliche Absicherung könnte sich allerdings als Trojanisches Pferd erweisen, müssen doch die Schwächeren das ihnen zugestandene Recht der Hand des Stärkeren entgegennehmen und dafür auch noch dankbar sein. Denn wie gesagt, die Bewohner ländlicher Räume brauchen kein Recht auf Land, es sind immer die anderen, die ihnen ihre Rechtsformen oktroyieren wollen.


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Anmerkungen:

[1] Pressemitteilung Nr. 98 vom 10.06.2010, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2010 unter POLTIK, ERNÄHRUNG
HUNGER/226: Sicherung der Welternährung ist die Überlebensfrage der Menschheit (BMELV)

[2] Pressemitteilung Nr. 101 vom 11.06.2010, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2010 unter POLTIK, ERNÄHRUNG
HUNGER/227: Internationale Konferenz "Politik gegen Hunger" in Berlin (BMELV)

14. Juni 2010