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LAIRE/1304: Gedenkennutz und Mauerbau (SB)


Die Bundesrepublik gedenkt des Mauerbaus in Berlin vor 54 Jahren


Am frühen Sonntagmorgen des 13. August 1961 begannen Sicherheitskräfte auf Anordnung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) an den Sektorengrenzen zwischen Ost- und Westberlin Stacheldrahtsperren zu errichten. Anschließend ließ sie Grenzbefestigungen bauen und eine Mauer errichten. Familien wurden auseinandergerissen und Freunde für immer getrennt, nur weil laut westlicher Propaganda die DDR-Führung unter Walter Ulbricht im Rahmen eines geopolitischen Ringens, das bis zur Atomkriegsandrohung aufgeschaukelt war, dem massenhaften "Brain Drain" aus dem Osten einen Riegel vorschieben wollte. So die Lesart heutiger Geschichtsschreibung mit dem nicht unerwünschten Nebeneffekt, damit massiv zur Verschleierung bundesrepublikanischer und US-amerikanischer Beteiligung am Kalten Krieg mit all seinen zugrundeliegenden Widersprüchen beigetragen zu haben.

Anläßlich des Gedenktags zu 54 Jahre Mauerbau schreibt die Bundesregierung: "Auch heute bleibt es notwendig, an das Unrecht der SED-Diktatur zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Gerade junge Menschen müssen über diese Zeit und die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur aufgeklärt werden." [1]

Gibt es einen Grund zu der Annahme, Demokratie und Diktatur seien so leicht zu verwechseln? Ähneln sie sich so sehr? Würden junge Menschen nicht darüber "aufgeklärt", liefen sie dann Gefahr, diesen doch unermüdlich betonten Unterschied nicht zu erkennen, daß die DDR ein Unrechtsstaat zu sein hat, der die Menschen nicht herausgelassen hat, wohingegen die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist, der die Menschen lediglich nicht hineinläßt?

An der Grenze zu Österreich marschieren zwar gegenwärtig massiv Sicherheitskräfte auf, aber dort werden bislang noch keine Flüchtlinge erschossen, und daß jedes Jahr mehr von ihnen im Mittelmeer ertrinken - ein Schelm, wer da Vergleiche zieht -, als während der gesamten DDR-Diktatur beim Versuch, das rettende Ufer der freien Welt zu erreichen, ums Leben kamen, sollte niemanden in Unruhe versetzen und zu Fragen Anlaß geben. Sind nicht die Umstände heute vollkommen andere?

Noch vor dreißig Jahren beispielsweise, als das Wohlstandsgefälle zwischen Nordafrika und Europa bei eins zu drei lag, brauchte man keine Grenzbefestigung von den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu Marokko. Die Grenze durfte nach Belieben in beide Richtungen begangen werden. Heute hingegen, da sich das Wohlstandsgefälle auf eins zu zehn erhöht hat, muß die Grenze mit einem sechs bis sieben Meter hohen, stacheldrahtbewehrten und streng bewachten Doppelzaun gesichert werden. Andernfalls kämen immer mehr Flüchtlinge.

Niemand hat die Absicht, einen Zaun zu errichten, aber: "Man kann einfach nicht alle bei uns aufnehmen. Es gibt Tausende und Tausende in den Flüchtlingslagern und wenn wir sagen, ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen, das können wir auch nicht schaffen. Und die einzige Antwort, die wir sagen, ist: bloß nicht, daß es so lange dauert, bis die Sachen entschieden sind." [2]

Von solchen "Sachen" sind in der vergangenen Woche wieder Dutzende im Mittelmeer ertrunken, das ging so schnell, da bedurfte es nicht mal einer Entscheidung. Aber immerhin, sie sind weder an einer Mauer erschossen worden noch auf eine Mine getreten. Um die Erinnerung an jene Greueltaten an die Generationen weiterzugeben, "die diese bitteren und schmerzhaften Erfahrungen nicht mehr selber machen mussten" [3], so der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, wird an den 13. August 1961 gedacht. Und die Bundesregierung sekundiert: "Der Bund unterstützt deshalb Gedenkstätten und andere Orte, die ganz gezielt an die deutsche Teilung und ihre Opfer erinnern." Nur zur Aufklärung an die jungen Menschen: Die Regierung meint mit "deutsche Teilung" nicht die gegenwärtig Griechenland mit voller Wucht getroffene Teilung Europas durch Deutschland.

Die Berliner Mauer wurde zwar materiell ab 1989 bis auf wenige Reste zerstört, aber symbolisch steht sie fester denn je, denn sie wird als abschreckendes Mahnmal gebraucht, um auch noch die letzten positiv besetzten Resterinnerungen an die DDR aus dem Gedächtnis zu löschen und auf diese Weise die Idee eines sozialistischen Gesellschaftsentwurfs gleich mitzuentsorgen. Also gedenkt man der Republikflüchtlinge von damals und nicht der Mittelmeerflüchtlinge von heute.

Dennoch, das von der Berliner Führung verordnete Gedenken vermag letztlich nicht die Widersprüche zu verdecken, von denen die bundesrepublikanische Wirklichkeit bestimmt wird. So kann die Erinnerungskultur auch nicht unkenntlich und schon gar nicht ungeschehen machen, daß seit dem Anschluß der DDR an die BRD vor allem junge Menschen die "blühenden Landschaften" verlassen haben und die übrigen, die geblieben sind, immer weniger Kinder in die Welt setzen wollen. An die Stelle der (Republik-)Flucht sind innere und äußere Migration getreten. Darum erfüllt die Mauer als Denkmal für die herrschenden Eliten mehr denn je eine legitimatorische Funktion. Auch wenn die Republikflucht zum einen und Flüchtlingswanderungen zum anderen offensichtlich die gleichen Grenz- sprich "Mauerreflexe" mit lediglich umgekehrten Vorzeichen hervorzurufen scheinen, bleibt die stacheldrahtbewehrte Logik dennoch dieselbe.


Fußnoten:

[1] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/08/2015-08-13-54-jahre-mauerbau.html

[2] Bundeskanzlerin Angela Merkel am 15. Juli 2015 beim Bürgerdialog mit einem palästinensischen Mädchen, das nicht in ein Flüchtlingslager in den Libanon abgeschoben werden will.
https://www.youtube.com/watch?v=fRFzPvpJ6Kk

[3] http://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2015/pressemitteilung.350876.php

16. August 2015


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