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LAIRE/1308: Niederlande - Aktive Sterbehilfe für des Lebens müde Alte (SB)


Sei brav, gib auf, laß los!

Die Niederlande wollen sich von einem weiteren Kreis an unproduktiven Mitgliedern der Gesellschaft entlasten


Schon lange wird nicht mehr die Frage gestellt, mit welcher Vernichtungsgewalt eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auf den Leib gerückt sein muß, wenn diese ihren Tod einem Weiterleben unter den gegebenen sozioökonomischen Bedingungen vorziehen.

Vor kurzem hat die Regierung der Niederlande einen Gesetzesvorstoß unternommen, nach dem künftig nicht mehr "nur" schwerkranke Menschen getötet werden dürfen, sondern auch vollkommen gesunde, wenn sie des Lebens müde sind. Mit einem solchen Gesetz würde die Vernichtung von Menschen, die für die Gesellschaft keinen Nutzen mehr abwerfen, vorangetrieben. Mit Bestimmungen wie, daß die Menschen freiwillig aus dem Leben scheiden wollen und Sterbehilfe nur nach strengen Prüfungen geleistet werden darf, wird unterstellt, daß so ein Wunsch überhaupt unabhängig von der Gesellschaft, aus der heraus er geäußert wird, gedeihen kann. Ohne eine solche unhinterfragte Annahme würde offenkundig werden, daß der Todeswunsch in fast allen Fällen von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist, die Sterbekandidaten also dahin gebracht werden, ein suizidales Verlangen zu entwickeln und diesem schlußendlich auf institutionell vorbereiteten Wegen nachzugeben. Demgegenüber haben Menschen, die gelähmt und unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen körperlich nicht mehr in der Lage sind, sich umzubringen, nur einen sehr geringen Anteil an den von der Administration abgesegneten Todesfällen.

Die Sterbehilfe ist in den Niederlanden bereits so weit gediehen, daß sich bei Anruf eine mobile Todesschwadron auf den Weg macht und dem oder der Sterbewilligen "hilft". Der aktuelle Vorstoß zur Ausdehnung der aktiven Sterbehilfe wurde von Gesundheitsministerin Edith Schippers und Justizminister Ard van de Steur in Form eines Briefes an das niederländische Parlament vorgebracht. Das ist offenbar mehrheitlich für den Plan. [1]

Wie bereits bei diversen Vorläuferinitiativen ähnlicher Couleur wird das Anliegen, Menschen, die keinen Nutzen mehr abwerfen und nur noch dem produktiven Teil der Gesellschaft zur Last fallen, legal ins Jenseits befördern zu dürften, in watteweiche Worte gewickelt: Personen, die das Gefühl haben, ihr Leben sei "erfüllt", und die "unerträglich und aussichtslos leiden", sollten das Recht erhalten, mit Hilfe eines ausgebildeten Gesundheitsmitarbeiters zu sterben, heißt es in dem Entwurf.

Seit 2002 wird in den Niederlanden aktive Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen nicht mehr bestraft. Seitdem werden die meisten Patientinnen und Patienten, die ihren Sterbewunsch geäußert haben, von ihren Hausärzten getötet. Um die staatlich legitimierte Euthanasie mit dem Trend zur Expansion auf weitere Bevölkerungsgruppen zu erweitern, werden Nebelkerzen geworfen. Nur wenn Menschen "tief betroffen vom Verlust ihrer Unabhängigkeit" sind oder den "Verlust eines geliebten Menschen" zu beklagen hätten, solle der Staat das Ableben ermöglichen, heißt es in dem Entwurf.

Bemerkenswert ist die manipulative Sprachwahl, mit der offensichtlich ein bestimmtes Ergebnis - die Befürwortung der Sterbehilfe - herbeigeredet werden soll. Es wird nicht gesagt, daß die alten Menschen vor lauter Verzweiflung über ihre düstere Lebensperspektive, die wohl nur eine Trennung von sozialen Bezügen, Einsamkeit und Schuldgefühle für sie bereithält, sterben wollen, sondern es wird gesagt, daß die Sterbewilligen meinen, ein erfülltes Leben gehabt zu haben.

Der Bedeutungsunterschied der beiden Formulierungen ist enorm. Statt der Perspektive nach vorne, die natürlich etwas mit der Gesellschaft zu tun hätte und den Sterbewilligen nichts anderes als Verzweiflung in Aussicht stellt, wird der Blick auf das bisherige Leben gelenkt, das im Vergleich zu solch einer Aussichtslosigkeit dann geradezu "erfüllt" erscheinen muß. Und schon ist eine wesentliche Hürde für das staatlich befürwortete Ableben genommen: Das Einverständnis des Opfers. Jetzt bedarf es nur noch einiger Formalien - "strenge" Prüfungen genannt -, die mit professioneller Routine und zielführend abgearbeitet werden können.

Die Einsicht der alten Menschen in ihren "freiwilligen" Tod wird schon viel früher im Leben an- und nahegelegt. Viele Niederländer hinterlassen entsprechende Erklärungen für den Fall, daß sie ins Koma fallen und nicht mehr selbst über ihren Suizid entscheiden können. Wenn dann bei allmählich wachsender Gebrechlichkeit sogar die eigene Familie, die Freunde und Nachbarn und jene höchstinstanzlichen "Halbgötter in Weiß" - die Ärzte in den Praxen und Krankenhäusern -, dem Suizidkandidaten zu verstehen geben, daß "nun mal gut ist" und ihm das Leben sowieso nicht mehr viel zu bieten hat, man aber gerne behilflich sei, loszulassen ... wer wollte bei solch liebevoller Zuwendung seinem sozialen Umfeld weiter zur Last fallen?

Von Kritikern der aktiven Sterbehilfe wie den beiden Europaparlamentariern Peter Liese (CDU) und Hiltrud Breyer (Grüne) wird das Argument vorgebracht, daß, wenn Ärzte die aktive Sterbebegleitung übernehmen, dem "Mißbrauch" Tür und Tor geöffnet werde. [2] Mit diesem Argument wird Sterbehilfe an sich befürwortet, denn vor einem "Mißbrauch" kann nur dann gewarnt werden, wenn ein "Gebrauch" akzeptiert wird.

Obgleich die aktive Sterbehilfe das Einverständnis der Betroffenen voraussetzt, werden viele Menschen umgebracht, die ihr Einverständnis nicht gegeben haben. Viele Niederländer tragen eine sogenannte Credo Card bei sich, auf der "Maak mij niet dood!" (Töte mich nicht!) geschrieben steht. Die Furcht davor, "geselbstmordet" zu werden, ist nicht unbegründet.

Die hier am Beispiel der aktiven Sterbehilfe zutage tretende Vernichtungsgewalt nach innen zeigt die Gesellschaft natürlich auch nach außen. Die niederländischen Streitkräfte sind in Afghanistan aktiv und an Bombardierungen des Iraks und Syriens beteiligt, um nur einige Beispiele zu nennen. Es handelt sich um asymmetrische Kriege, bei denen die Niederlande zu der technologisch überlegenen Seite gehören, aber das ändert nichts daran, daß hier Menschen in den Krieg geschickt werden, die zum Vorteil der eigenen Gesellschaft ihr Leben riskieren und das Leben anderer auslöschen.

Ein weiteres Argument der Kritiker lautet, daß die aktive Sterbehilfe ökonomisch motiviert ist. Durchschnittlich etwa 60 bis 70 Prozent der medizinischen Behandlungskosten eines ganzen Lebens fallen in den letzten beiden Lebensjahren an. Somit könnte ein beträchtlicher Teil der Kosten eingespart werden, wenn die Menschen vorher abtreten.

So naheliegend diese Kritik an der aktiven Sterbehilfe auch ist, sie trifft bestenfalls die Zielscheibe, aber nicht ins Schwarze. Denn jene hohen Gesundheitskosten werden der Gesellschaft nicht entzogen, wenn doch davon Unternehmen aus dem medizinischen Komplex profitieren. Die Kosten wären dann nicht als Minus zu verbuchen, sondern als Plus und Wachstumsfaktor, der zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beitrüge. Das heißt, ein Staat würde theoretisch auch dann noch die Kriterien eines hohen Wirtschaftswachstums erfüllen und nach marktwirtschaftlichen Kriterien "gesund" sein, wenn er einen weitreichend ausgebauten Gesundheitssektor hätte.

Mit der Erweiterung der für die aktive Sterbehilfe in Frage kommenden Personengruppen baut der Staat seine Verfügungsgewalt aus, auch wenn er, bzw. seine Organe die eigentliche Tat nicht selbst vollziehen. Doch es wird darüber bestimmt. Mit Ökonomie hat das nur insofern zu tun, als daß im wachsenden Ausmaß der unproduktive Teil der Gesellschaft dem "freiwilligen" Ableben zugeführt wird. Die zur Befreiung vom (unwerten) Leben verklärte, indes kreatürlich ungeheuer furchteinflößende Sterbehilfe hat nicht zuletzt die Funktion, alle übrigen einem so hohen Anpassungs- und Leistungsdruck auszusetzen, daß darüber ein gesellschaftlicher Zusammenhalt suggeriert wird.


Fußnoten:

[1] http://www.n-tv.de/politik/Niederlande-planen-Sterbehilfe-fuer-Aeltere-article18854026.html

[2] In einer gemeinsamen Erklärung von Liese und Breyer heißt es: "Wenn der Staat einmal zulässt, dass Ärzte ihren Patienten Tabletten oder Spritzen verabreichen, die als einziges Ziel haben, Patienten umzubringen, dann ist der Missbrauch programmiert."
Zitiert nach:
http://www.die-welt-ist-keine-ware.de/vsp/soz/010903.htm

18. Oktober 2016


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