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LAIRE/1310: Forschung an Demenzkranken - Patienten werden zu Probanden für fremdnützige Interessen (SB)


Bundestag segnet 4. Novelle des Arzneimittelgesetzes ab

Gruppennützigkeit - ein ethisch-rechtlicher Legitimationsvorwand für medizinische Versuche an Menschen ohne deren konkrete Einwilligung


Wer jemals mit Alzheimerpatienten im fortgeschrittenen Stadium zu tun hatte, dürfte die Erfahrung gemacht haben, daß schon eine bloße Berührung wie ein sanfter Griff am Arm, um die Person beispielsweise in eine bestimmte Richtung zu lenken, bei dieser entweder starke Angst oder heftige Aggression auslöst. Zu welch unbändigem inneren und äußeren Aufruhr müßte es da erst kommen, würde so eine Person nicht nur am Arm berührt, sondern auf einem Gestell fixiert, so daß sie sich nicht bewegen kann, anschließend samt dieser Unterlage von Kopf bis Fuß in eine enge Röhre (60 oder 70 cm Durchmesser) geschoben und unter Umständen minutenlang mit befremdlichen, teils lauten Geräuschen traktiert?

Was hier beschrieben wird, firmiert zwar nicht unter dem Stichwort Folter, würde aber von den Betroffenen fraglos so aufgefaßt. Dabei werden sie "nur" der nicht-invasiven diagnostischen Methode der Magnetresonanztomographie (MRT) ausgesetzt! Das ist ein Verfahren, das die im neuen Arzneimittelgesetz (AMG) geforderte Einschränkung des "minimalen" Eingriffs für gruppennützige Forschung an Demenzkranken erfüllt.

Am Freitag, den 11. November, hat der Bundestag in 3. Lesung eine Novelle des AMG mehrheitlich verabschiedet, so daß in Zukunft abgesehen von der Abnahme von Blut und Speichel auch solche diagnostischen Verfahren an Demenzkranken durchgeführt werden dürfen, obgleich sie dieser Forschung nicht aktuell zugestimmt und - das ist der entscheidende Unterschied zur bisherigen Gesetzgebung - keinen individuellen Nutzen davon haben.

Verglichen mit anderen europäischen Ländern gilt die Gesetzgebung für medizinische Versuche in Deutschland aufgrund seiner Geschichte als restriktiv, aber mit dem Begriff der "Gruppennützigkeit" wird die Grenze zwischen Forschung, von der die Person einen eigenen Nutzen hat, und gruppen-, das heißt nichts anderes als fremdnütziger Forschung deutlich perforiert.

Für die Entscheidung im Bundestag war der Fraktionszwang aufgehoben worden, so daß die Abgeordneten nach ihrem Gewissen abstimmen konnten. Jener Passus, wonach medizinische Experimente mit nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen wie zum Beispiel Alzheimer- und anderen Demenzkranken durchgeführt werden dürfen, auch wenn die Probanden davon keinen individuellen Nutzen haben, gilt als besonders umstritten. Dazu hatte der Bundestag schon mehrmals seine Zustimmung verweigert. Nun wurde sie mit einem aufwendigen Konstrukt an Bedingungen "erkauft", unter denen die Versuche gestattet sein sollen.

Voraussetzung für diese Art der Forschung ist, daß die Personen zu einem Zeitpunkt, als sie noch als einwilligungsfähig galten, schriftlich niedergelegt haben (Patienten- oder Probandenerklärung), daß sie den gruppennützigen Versuchen für den Fall, daß sie dement werden, ins Koma fallen oder aus anderen Gründen nicht mehr einwilligungsfähig sein können, zustimmen. Außerdem muß der Betreuer oder die Betreuerin der nicht-einwilligungsfähigen Person die medizinischen Versuche absegnen.

Die Zuordnung eines Patienten oder einer Patientin zu einer "Gruppe" ist aus gutem Grund in der Rechtsprechung umstritten. "Gruppe" ist Ausdruck einer von außen angelegten Sichtweise, ein administrativer Begriff, der ganz offenkundig nicht von denen, die mit ihm bedacht werden, aufgeworfen wurde und auch nicht von ihnen geteilt wird. Sie verstehen sich nicht als Gruppe. Die Funktion dieses Begriffs besteht darin, die Verfügbarkeit der Menschen mittels eines rechtlichen Konstrukts abzusichern. Dabei werden bestimmte Bevölkerungsteile schlicht fremdnützigen Verwertungsabsichten ausgeliefert - "gruppennützig" klingt lediglich harmloser, meint jedoch das gleiche.

Wenngleich in nächster Zeit noch nicht mit umfangreichen Forschungen an Demenzkranken zu rechnen ist, sehen Politiker wie Hubert Hüppe (CDU) in dem aktuellen Beschluß zurecht einen Dammbruch: "Um es bildlich zu sagen: Man hat das Schloss geknackt, ohne die Tür richtig zu öffnen. Aber jetzt wird es einfacher fallen, zukünftig die Tür weit auf zu machen." [1]

Es handelt sich allerdings nicht um den ersten Dammbruch dieser Art. 2004 hat der Bundestag - mit der Stimme Hüppes - fremdnützigen Forschungen an Kindern zugestimmt. Man habe ihm versichert, daß es bei dieser Ausnahme bleibe, erklärte Hüppe bei der Bundestagsdebatte am 9. November 2016:

"Ich war damals Berichterstatter, und ich muss zugeben: Ich habe damals zugestimmt. Wenn ich aber gewusst hätte, dass das jetzt als Argument benutzt wird, um noch einen Schritt weiterzugehen, dann hätte ich damals niemals zugestimmt, meine Damen und Herren. Man hat mir als Berichterstatter damals versprochen: Es geht nur um Kinder, sie haben einen anderen Stoffwechsel, das ist etwas ganz Besonderes, wir achten darauf, und eine solche Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen werden wir in Deutschland nie und nimmer wieder einführen. - Jetzt wollen das einige aber doch einführen." [2]

Obschon Hüppes Beteuerung, mit Verlaub, reichlich naiv klingt, sei ihm späte Einsicht zugestanden. Er befürchtet, daß der nächste Schritt zur weiteren Öffnung von fremdnützigen Experimenten darin besteht, "ohne Einwilligung" forschen zu können, und damit seien "eben nicht nur die Alzheimerpatienten gemeint, sondern auch Menschen mit Downsyndrom".

Diese Einschätzung als übertrieben zu bezeichnen, hieße, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht zu kennen. 1945 endete die nationalsozialistische Herrschaft, aber nicht das von ihr propagierte Menschenbild. So berichtete die Pharmazeutin Sylvia Wagner am 21. Oktober dieses Jahres in der "Westdeutschen Zeitung" von umfangreichen, systematischen Versuchen an Tausenden Säuglingen und älteren Kindern, insbesondere Heimkindern, bis in die siebziger Jahre hinein, ohne daß die Betroffenen oder deren Eltern ihr Einverständnis dazu erteilt hätten. [3]

Da regt sich der Verdacht, daß solche Versuche, entweder unter anderem Vorzeichen fortgesetzt werden oder aber wieder eingeführt werden sollen. Doch es läßt sich gut vorstellen, daß unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen die Arzneimittelindustrie noch gar nicht so bald in die Versuche mit Demenzkranken einsteigen wird. Denn würde man den Probanden zugestehen - und das müßte man eigentlich, wollte man nicht ethische Grundsätze über Bord kippen -, daß sie, auch wenn sie nicht einwilligungsfähig sind, ihren Unmut gegen die Behandlung äußern können, so daß die Forschung an ihnen abgebrochen werden müßte, dann würde sich die Sache womöglich schnell erledigen. Jedenfalls läßt sich auf so unsichere "Kandidaten" wohl kaum eine klinische Studie, die sich vermutlich über mehrere Wochen erstreckt, aufbauen. In der Zeit wird jeder der Versuchsteilnehmer irgendwann einmal in irgendeiner Form zum Ausdruck gebracht haben, daß er so nicht behandelt werden möchte.

Wenn man aber die fremdnützige Forschung an Dementen betreiben will, ohne daß sie die Chance haben, ihre früher einmal abgegebene Probandenerklärung zurückzunehmen, dann würde das darauf hinauslaufen, sich die Schreie der Verzweiflung oder der Wut der Probanden in den MRT-Röhren anzuhören oder aber die menschlichen Versuchskaninchen mit zusätzlichen Gewaltmitteln einzuschränken. Dem hat der Bundestag jetzt faktisch zugestimmt.

Im Zusammenhang mit der Freigabe medizinischer Versuche an Dementen unter bestimmten Bedingungen wird aber nicht nur die Grenze zwischen Eigen- und Fremdnützigkeit durchbrochen, sondern auch der Unterschied zwischen einer ärztlichen Behandlung, die auf das Wohl von Patienten gerichtet sein sollte, und medizinischer Forschung, die nach Erkenntnis strebt. So wird aus einem Patienten, der das Krankenhaus aufsucht, ein Proband, der fremdnützigen Forschungsinteressen dient.

Der Verschleierungsbegriff "Gruppennützigkeit" müßte kategorisch zurückgewiesen werden, wollte man die Übergriffigkeit von Staat und Wirtschaft auf den mit der AMG-Novelle unverhohlen zum Versuchsobjekt degradierten Menschen und die weitere Verschiebung roter Linien der Selbstbestimmheit noch aufhalten. Tut man das nicht, hat man sich von vornherein der von Kreisen aus Politik, Pharmaindustrie und Medizinbetrieb propagierten Sichtweise unterworfen und seine Bereitschaft signalisiert, auch die nächsten Schritte auf diesem Weg mitzugehen.


Fußnoten:

[1] http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw46-hueppe-interview/479736

[2] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/18/18198.pdf#P.19703

[3] http://www.wz.de/home/politik/nrw/skandal-um-arzneitests-an-heimkindern-1.2298514

14. November 2016


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