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LAIRE/1369: Hunger - Verschärfung zu erwarten ... (SB)



Die Bekämpfung der Coronaviruspandemie könnte den weltweiten Nahrungsmittelmangel dramatisch verschärfen, sagt der Chefökonom der FAO, Maximo Torero Cullen. Er fordert deshalb, einen Schlachtplan zu entwerfen, damit nicht die ärmeren Menschen, die unter anderem von neuen Handelsbeschränkungen, Unterbrechungen der Logistikkette und totalen Verlusten ihrer sowieso schon geringen Einnahmen geschädigt werden, Hunger leiden müssen.

Was der FAO-Vertreter nicht erwähnt: Weil schon heute über 820 Millionen Menschen Hunger leiden und zwei Milliarden Menschen unterernährt sind, ist nicht damit zu rechnen, daß die sogenannte internationale Gemeinschaft mit den verheerenden Folgen der Pandemie anders umgehen wird als mit der alltäglichen Hungerkatastrophe. Vor dieser werden nicht etwa die Augen geschlossen, sondern sie wird sehenden Auges in Kauf genommen.

Beispielsweise Indien. In Folge der landesweiten Ausgangssperre haben Millionen Arbeitsmigranten ihre geringfügige Einkommensquelle verloren und stehen nun ohne jedes ökonomisches Auffangnetz auf der Straße, oftmals weit entfernt von ihren Heimatdörfern oder ihrer Heimat Bangladesch. Indien ist sowieso schon das Land mit der weltweit höchsten Zahl an Hungernden. Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung könnten diese noch sehr viel weiter nach oben treiben.

Beispielsweise Deutschland, stellvertretend für die EU. Die Grenzen dicht zu machen, um Infektionsketten unter Kontrolle zu bekommen, ist eine Sache. Eine andere ist es, auf diese Weise wirtschaftlich aufs engste mit dem EU-Raum verbundene Staaten auszugrenzen. Oder den Export von Schutzmasken zu untersagen (gilt natürlich auch für Frankreich, China, Taiwan, Südkorea). Im Notfall wird also Protektionismus betrieben - die "anderen" müssen dafür einen hohen Preis entrichten.

Beispiel Afrika: In den 1960er Jahren waren viele Staaten Afrikas Nahrungsmittelexporteure. Doch seit Jahrzehnten folgen sie den Anforderungen internationaler Kreditgeber. Die westlichen Regierungen, die den wirtschaftlich unterlegenen Staaten abverlangt haben, ihre Staatsquote zu senken, die Zollschranken anzuheben, die Märkte zu öffnen und Privatisierungen zu fördern, haben sich selbst nicht daran gehalten, sondern ihre eigenen Märkte geschützt.

Zu diesem Mittel greifen nun einige Staaten, um der Coronaviruspandemie Herr zu werden. Kasachstan hat den Export von Weizenmehl verboten und unter anderem die Ausfuhr von Buchweizen, Zucker, Zwiebeln, Karotten, Kartoffeln und Sonnenblumenöl beschränkt. Vietnam hat den Abschluß neuer Reisexportverträge vorübergehend ausgesetzt. Das russische Landwirtschaftsministerium schlägt vor, von April bis Juni die Weizenexporte zu begrenzen. Ähnliches ist von der Ukraine zu erwarten.

Bereits die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, wie um das Jahr 2008 herum, hatte in rund drei Dutzend Ländern zu Unruhen geführt und Regierungen in Bedrängnis oder sogar zu Fall gebracht. Die aktuelle Pandemie könnte ähnliche Verknappungen erzeugen und entsprechende Reaktionen der Bevölkerung hervorrufen, was wiederum den Staaten den Vorwand für die Verschärfung der Repressionen liefern würde.

Es wird genügend Nahrung für alle Menschen produziert, heißt es immer wieder. Wenn nun davor gewarnt wird, daß Protektionismus und andere Maßnahmen der Pandemiebekämpfung die ärmeren Menschen in existentielle Not stürzen könnten, da sie über keinerlei finanziellen Rückhalt verfügen, dann trifft das zwar zu, aber es genügt nicht im mindesten zur Beschreibung der Not und ihrer Voraussetzungen. Die Hungerkatastrophe tritt nicht erst morgen ein, falls weitere Staaten ihre Nahrungsexporte beschränken, sondern läuft jetzt, in dieser Minute, ab. Jene 820 Millionen Hungernden sind Bestandteil der gegenwärtig vorherrschenden globalen Produktionsverhältnisse, und mit der Behauptung, daß ja eigentlich genügend Nahrung produziert wird, wird dieser Umstand ignoriert.

Wovor der FAO-Ökonom warnt, dürfte weiterhin die Wahl des Mittels bleiben. Es muß mit einer Steigerung der Nahrungsnot gerechnet werden. So ist Italien eigentlich nicht für Nahrungsmittelengpässe bekannt. Doch dort weigern sich bereits einige Menschen, an der Supermarktkasse zu bezahlen. Und in Palermo wurde ein Supermarkt überfallen.

Als die Coronaviruspandemie die USA erreichte, gingen die Verkaufszahlen für Schußwaffen in die Höhe. Die Menschen bereiten sich auf Verhältnisse vor, in denen sich der Staat noch mehr aus der Versorgungsleistung der Bevölkerung zurückzieht, als er es sowieso schon getan hat. Der Instinkt dürfte die Leute nicht getäuscht haben, läßt doch die Regierung allein schon durch die Verzögerung und Vermeidung machbarer Seuchenbekämpfungsmaßnahmen Menschen über die Klinge springen.

Nicht nur die US-Regierung wird bei der wahrscheinlich bevorstehenden Lebensmittelverknappung zu administrativen Maßnahmen greifen, wie sie heute schon von Ärztinnen und Ärzten angesichts der Knappheit von Mitteln praktiziert wird: Triage. Wer an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankt ist und künstlich beatmet werden müßte, wird "bewertet", falls nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Ethiker in Italien empfehlen in diesem Zusammenhang als eines von mehreren Kriterien, die Zahl der zu erwartenden Lebensjahre heranzuziehen, ob eine Person künstlich beatmet wird oder nicht. Das richtet sich direkt gegen alte Menschen.

Allerdings setzt die Triage oder besser, das Unterscheiden von Menschen, viel früher an. So steht nicht jedem krebserkrankten Menschen in Deutschland das wirksamste und teuerste Medikament zur Verfügung. In den USA begeben sich Menschen, die Symptome einer Sars-CoV-2-Infektion aufweisen, gar nicht erst ins Krankenhaus, weil sie die Rechnung für den Test nicht bezahlen können. Im Zweifelsfall stirbt deshalb ein Teil der ärmeren Menschen vorzeitig.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind so beschaffen, daß das gleiche Sterben auch dann arrangiert würde, wenn die Nahrung knapp wird. Doch auch dafür gilt, daß damit kein zukünftiges Geschehen beschrieben wird, sondern bestehender Alltag. Viele Menschen auch in der westlichen Welt können sich keine gesunde Nahrung leisten, erkranken daran und sterben vorzeitig. Ärmere Menschen haben im Durchschnitt ein zehn Jahre kürzeres Leben als reiche.

Was bedeutet das für die Covid-19-Bekämpfung? Erstens werden die Nationalstaaten versuchen, ihre Bevölkerungen zu schützen, indem sie Nahrungsmittel einbehalten oder gegebenenfalls zu Preisen auf dem Weltmarkt erwerben, die sich andere nicht leisten können. Zweitens werden sie im Falle einer weiteren Verknappung die bereits im System angelegte Mangelverwaltung qualifizieren und Nahrung nur jenen zukommen lassen, die es wert sind, also an denen Interesse besteht. Beispielsweise gesellschaftliche Funktionseliten, Politiker, Sicherheitskräfte.

Die Warnung des FAO-Ökonomen vor den Folgen des Protektionismus gründet im Liberalismus. Grundlage beider Konzepte bildet allerdings der Staat als Organisationsform der Gesellschaft. Er regelt in Zeiten der Pandemie wie in "normalen" Zeiten, in der Menschen fügsam ihrer Lohnarbeit nachgehen, die Produktionsverhältnisse und damit auch die Versorgung und Nicht-Versorgung der Bevölkerung.

31. März 2020


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