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DILJA/1092: Gazastreifen - Kein Wasser, kein Strom und keine Nahrung (SB)


Eineinhalb Millionen Palästinenser ohne Wasser, Strom und Lebensmittel

Die Menschen im Gazastreifen sterben nicht nur durch militärische Gewalt, sondern durch den systematischen Entzug ihrer Lebensgrundlagen


Wie einsame Rufer in der Wüste nehmen sich derzeit die Repräsentanten humanitärer Hilfsorganisationen aus, wenn sie auf die lebensbedrohliche Situation von eineinhalb Millionen Menschen im Gazastreifen aufmerksam machen wollen. So erklärte Donatelle Rovera, Nahost-Expertin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, gegenüber der Berliner Zeitung [1]:

Die allgemeine Lage hat sich seit zwei Jahren kontinuierlich verschlechtert; aber dass die Menschen nichts zu essen haben, das gab es noch nie.

Rovera zufolge sind im Gazastreifen Brot, Zucker und Reis so gut wie nicht mehr aufzutreiben. Doch die dort unter totaler Blockade sowie ständigen Luft- und Bodenangriffen der israelischen Armee leidende Bevölkerung muß nicht nur hungern und frieren, sie verfügt nicht einmal über ausreichend Trinkwasser, denn, so Rovera:

Es ist zurzeit kalt in Gaza, es gibt keinen Strom - und damit auch kein Wasser, weil die elektrischen Pumpen nicht funktionieren.

In den Krankenhäusern gebe es einen eklatanten Mangel an Arzneien und medizinischem Gerät, stellte die Nahost-Expertin Amnesty Internationals desweiteren klar. Mit anderen Worten: Das nackte Überleben der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen ist in einem Ausmaß nicht nur gefährdet, sondern durch den systematischen Entzug sämtlicher physischer Lebensgrundlagen so unmittelbar bedroht wie nie zuvor. Die ai-Expertin steht mit ihren warnenden und mahnenden Worten keineswegs allein da. Auch das Büro zur Koordinierung humanitärer Einsätze der Vereinten Nationen erklärte, daß die israelische Militäroffensive die humanitäre Krise in der Region noch weiter zuspitzen würde, während das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sich "besorgt" über die sich verschlechternde humanitäre Lage im Gazastreifen zeigte.

Feststellungen und humanitäre Appelle dieser Art vermitteln den Eindruck, als gäbe es bei den Verantwortlichen in der internationalen Gemeinschaft - um von Israel als dem primär Verantwortlichen gar nicht erst zu reden -, ein Informationsdefizit darüber, was die Blockade- und Kriegspolitik Israels auf die im Gazastreifen lebenden Menschen für Auswirkungen hat und binnen kürzester Zeit noch haben könnte. Damit leisten solche Mahnungen - und sei es ungewollt - dem mörderischen Geschehen Vorschub, weil sie die Tatsache verschleiern, daß so viele Menschen nicht ungewollt und nicht unbeabsichtigt in unmittelbare Lebensgefahr gebracht worden sein können.

Die Raketenangriffe der Hamas, die nach dem Auslaufen einer Waffenruhe intensiviert wurden, deren fundamentalste Bedingung, nämlich die Aufhebung der Grenzblockaden, Israel niemals erfüllt hat, haben zu vier israelischen Todesopfern geführt. Nach Beginn der Bodenoffensive am vergangenen Samstag soll nach Angaben der israelischen Armee ein Soldat gefallen sein. Die Opferzahlen auf palästinensischer Seite liegen um das Hundertfache höher und können eigentlich kaum noch beziffert werden, da immer mehr Menschen infolge einer Mangelversorgung sterben, wie sie elementarer und allumfassender kaum sein könnte.

Am inzwischen zehnten Tag des israelischen Krieges gegen eine darbende Bevölkerung, die ihre geringfügigen Mittel militärischer Gegenwehr umso entschlossener einsetzt, je beredter das Schweigen der sogenannten Weltgemeinschaft ausfällt, steht unverkennbar, wenn auch unausgesprochen fest, daß der Westen gar nicht daran denkt, Israel an der Fortsetzung und Vollendung dieses Krieges zu hindern. Man stelle sich nur einmal vor, ein anderer Staat, beispielsweise einer, der von den USA zum Schurkenstaaten ernannt wurde, würde mit einer ihm auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Bevölkerung in auch nur ansatzweise vergleichbarer Weise umgehen. Die Interessenverflechtungen der westlichen Staaten mit Israel, mögen die bei der regen Reisediplomatie anfallenden Worte und Erklärungen auch in noch so vollmundiger Weise Verbreitung finden, sind in brutaler Deutlichkeit längst offen zu Tage getreten.

Um diese Schlußfolgerung zu unterstreichen, sei an dieser Stelle an die Luftbrücke erinnert, mit der die USA in der Hochzeit des beginnenden Kalten Krieges das strategisch immens wichtige spätere West-Berlin "halten" wollten. Im Zuge dieser Systemkonfrontation hatte die Sowjetunion am 24. Juni 1948 eine totale Blockade des Berliner Westsektors verhängt. Um dieses Druckmittel - immerhin lebten in diesem Sektor rund 2,5 Millionen Menschen, deren Versorgung damit gefährdet bzw. unterbrochen worden war - zu entschärfen bzw. substanzlos zu machen, organisierten die USA eine in der Geschichte der modernen Luftfahrt bis heute beispiellose Hilfsaktion.

Nicht zuletzt durch die "Luftbrücke" nach Berlin, die bis zum 12. Mai 1949 aufrechterhalten wurde, konnte die Teilung der Stadt und ganz Deutschlands gegen den Willen der Sowjetunion schließlich durchgesetzt werden. Es war eine organisatorische Kraftanstrengung und Meisterleistung ersten Ranges. Innerhalb von 462 Tagen wurden 277.264 Versorgungsflüge durchgeführt. Transportiert wurden 1,83 Millionen Tonnen Güter, darunter 944.100 Tonnen Kohle und 244.600 Tonnen Lebensmittel. Sicherlich werden viele Bewohner des Berliner Westsektors seinerzeit geglaubt haben, diese Hilfe hätte ihnen persönlich gegolten und wäre sozusagen aus humanitären Gründen erfolgt von seiten einer militärischen Großmacht, die den größten Nutzen aus dem kurz zuvor beendeten Zweiten Weltkrieg gezogen und sich zur alleinigen westlichen Führungsmacht hatte aufschwingen können.

Nicht wenige Bürger des späteren Westberlins bzw. der späteren Bundesrepublik dürften in den USA nicht zuletzt auch wegen dieser "Rosinenbomber" ihre Freunde und Befreier gesehen haben. Wer nun angesichts der logistischen Möglichkeiten der führenden westlichen Staaten, die in den darauffolgenden sechs Jahrzehnten keineswegs wirtschaftlich oder politisch schwächer geworden sind, die Frage aufwirft, warum denn den im Gazastreifen unter Kriegs- und Blockadebedingungen lebenden Menschen keine "Rosinenbomber" oder eben "-laster" zu Hilfe kommen, muß sich einen Narren schelten lassen.

Sicherlich hinkt der Vergleich zwischen der Situation in Berlin im Jahre 1948/49 mit der heutigen im Gazastreifen an allen Ecken und Kanten. Der wesentlichste Grund dafür, warum eine Bevölkerung von eineinhalb Millionen Menschen heute nicht die geringste Aussicht auf eine tatsächliche Unterstützung durch den Westen in ihrem verzweifelten Kampf ums tägliche Überleben hat, dürfte jedoch nicht darin liegen, daß es in dem kleinen Küstenstreifen längst keinen funktionstüchtigen Flughafen mehr gibt oder etwa darin, daß die israelische Luftwaffe natürlich auch den Luftraum über dem Gazastreifen kontrolliert. Der entscheidende Unterschied liegt ganz einfach darin, daß dieselben Staaten, die ein elementares Interesse an Westberlin als Frontstadt im bevorstehenden Kalten Krieg hatten, nicht das geringste taktische oder strategische Interesse an den Menschen im Gazastreifen haben, deren Nöte ihnen sogar noch willkommene Druckmittel sind auf ihrem Weg zu einer unangreifbaren Vormachtstellung in der ganzen Welt und somit natürlich auch in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens.

Anmerkung

[1] Zitiert aus: Gazastreifen - Keine Nahrung, Wasser, Strom, Tagesspiegel vom 5.1.2009,
http://www.tagesspiegel.de/politik/international/nahost/Nahost-Israel-Palaestinenser;art2662,2697846

5. Januar 2009