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DILJA/1144: Nicht ohne persönliches Risiko - Merkel zeigt Flagge in Afghanistan (SB)


Mit persönlichem Risiko - Kanzlerin Merkel und Verteidigungsminister Jung zeigen Präsenz im Kriegsgebiet Afghanistan

Raketenangriffe auf das deutsche Feldlager Kundus demonstrieren die Verwundbarkeit der ausländischen Truppen


Kaum hatte der NATO-Gipfel in Strasbourg und Baden-Baden seine Pforten geschlossen, flogen dessen vielbeschäftigte Akteure ihren nächsten Aufgaben entgegen. Die größte Medienpräsenz erzielte dabei US-Präsident Barack Obama, der auf geschichtsträchtigem Boden in Prag, wo die europäischen Finanzminister und Notenbankchefs zu einem EU-USA-Finanzgipfel zusammengekommen waren, der Öffentlichkeit seine Vision einer atomwaffenfreien Welt kundtat, obwohl dies thematisch eher auf den NATO-Gipfel gepaßt hätte. Eine Bestnote in Sachen persönlicher Tapferkeit hätten sich ebenfalls am Sonntag Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung verdient, die, wenn auch mit ungleich geringfügigerem Medienecho, zu einem Truppenbesuch in das Kriegsgebiet Afghanistan aufgebrochen waren. Aus Sicherheitsgründen wurde dieser Besuch am Montag unter so strikter Geheimhaltung durchgeführt, daß nicht einmal Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, wie dieser in Berlin gegenüber der Presse erklärte, vor Sonntag über die Reisepläne informiert worden war.

Als am Montag Vizeregierungssprecher Thomas Steg vor die Mikrophone trat, mußte er anläßlich dieses Truppenbesuchs - politische Gespräche mit der Regierung Karsai in Kabul waren definitiv nicht vorgesehen - von einem Vorfall berichten, der nicht unbedingt die erwünschte Öffentlichkeitswirkung hervorgerufen haben dürfte, da er ein Schlaglicht auf die für die ausländischen Besatzungsstreitkräfte, also auch die deutsche Bundeswehr, alles andere als sichere Lage in Afghanistan wirft. Demnach wurde das Bundeswehr-Feldlager in Kundus nur zwanzig Minuten, nachdem Merkel und Jung es nach ihrem Besuch des dort stationierten sogenannten "Regionalen Wiederaufbauteams" (PRT) der Bundeswehr im Zuge ihrer Weiterreise zum Bundeswehrstützpunkt in Masar-i-Scharif wieder verlassen hatten, mit Raketen beschossen. Wie das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam bekanntgab, waren zwei Raketen außerhalb des Bundeswehrgeländes eingeschlagen, ohne daß jemand verletzt worden oder auch nur Sachschaden entstanden sei; zum Zeitpunkt des Angriffs hätten sich Merkel und Jung bereits auf dem Rückflug befunden.

Es war dies beileibe nicht der erste Raketenangriff auf den von der Bundeswehr im Norden Afghanistans gehaltenen Stützpunkt. Nur einen Tag vor dem aus Geheimhaltungsgründen unangekündigten Truppenbesuch der Kanzlerin, die sich zuvor seit eineinhalb Jahren nicht mehr bei den in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten hatte blicken lassen, hatte es sogar mehrere Anschläge auf das Feldlager in Kundus gegeben. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums waren bereits am Sonntag Raketen abgefeuert worden, die das Lager jedoch verfehlt hätten. Auf ein Panzerfahrzeug der Bundeswehr wurde am selben Tag ein Brennstoffanschlag verübt. Bei einem dritten Vorfall gerieten Bundeswehrangehörige unter Beschuß. Zum Glück für die in Kundus stationierten und direkt angegriffenen Soldaten kam es in keinem Fall zu Verletzungen. In diesem Jahr wurde das Feldlager Kundus bereits neun Mal mit Raketen angegriffen, die teils innerhalb, teils außerhalb des Stützpunktgeländes einschlugen.

Bundeskanzlerin Merkel, die sich, wie es hieß, "über die Sicherheitslage" vor Ort informieren ließ ganz so, als ob sie dieselben Berichte nicht auch in Berlin hätte abfragen können, erklärte bei ihren Besuch, daß die Soldaten im Norden Afghanistans eine gefährliche Mission erfüllten. Dies gilt, in wenn auch vergleichbar geringfügigerem Ausmaß, nicht minder für die Kanzlerin selbst und den sie begleitenden Verteidigungsminister. Daß dieser Truppenbesuch der desolaten Sicherheitslage geschuldet war und dem Zweck diente, den innerhalb der Truppe aufkommenden Unmut abzuschwächen, liegt auf der Hand.

Um die Akzeptanz dieses Auslandseinsatzes, oder, wie es realistischer heißen müßte, dieser Kriegführung dürfte es innerhalb der Truppe wie auch in der bundesdeutschen Bevölkerung nicht gerade zum besten bestellt sein, und namentlich die in Afghanistan stationierten Soldaten werden mit zunehmender Dauer ihrer Tätigkeit daran zweifeln (müssen), inwiefern dieser Krieg tatsächlich, wie behauptet, der Verteidigung "deutscher" Interessen dienen soll. Merkel selbst besuchte in Kundus den Ehrenhain, der zum Gedenken an die acht bislang im Norden Afghanistans gefallenen bzw. ums Leben gekommenen Bundeswehrsoldaten errichtet worden ist.

In der heimischen Presse wurde diesem Besuch, auch wenn die ganz großen Schlagzeilen ausblieben, die gebührende und beabsichtigte Beachtung gewidmet. So schrieb das Bielefelder Westfalen-Blatt am Montag unter anderem:

Niemand solle der Kanzlerin nachsagen können, sie kümmere sich nicht genug um die deutschen Soldaten und deren gefährliche Mission. (...) Doch dieser Vorwurf ginge am Ziel vorbei. Denn das Augenmerk der Kanzlerin gilt nicht nur der Truppe, sondern ausdrücklich auch dem Fortgang des zivilen Wiederaufbaus und der Polizeiausbildung. Seht her: Wir Deutschen nehmen unsere Aufgaben in Afghanistan ernst! Das ist die Botschaft, die Merkel vor allem an den US-Präsidenten Barack Obama sendet. Zugleich untermauert die sie damit das deutsche Credo, dass mit Waffengewalt allein am Hindukusch nichts auszurichten ist. Punkten kann Merkel zudem mit der Wahl des Zeitpunktes für ihre Visite: Während die Teilnehmer des Nato-Gipfels noch die neu beschworene Einigkeit feiern, zeigt die deutsche Bundeskanzlerin bereits Flagge. Mit ihrem Afghanistan-Besuch ist Angela Merkel erneut ein geschickter außenpolitischer Schachzug gelungen. Und schaden im Wahlkampf wird er gewiss auch nicht.

Derlei Ergebnisse, so sie denn halten, was mit ihnen versprochen wird, sollen der Kanzlerin wohl ein gewisses Restrisiko wert gewesen sein, daß sie sich einzugehen gezwungen sah. Denn ungeachtet striktester Geheimhaltung sollen die Taliban, wie deren Sprecher Sabihullah Mudschahed nach Angaben von "Spiegel Online" erklärte, über den Besuch der Kanzlerin in Afghanistan informiert gewesen sein. Der Raketenbeschuß, der den Stützpunkt Kundus nur um 20 Minuten verfehlte, sei Mudschahed zufolge eine "gezielte Attacke" gegen Merkel gewesen, was ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums umgehend dementierte und als "Quatsch" bezeichnete. Doch ganz so siegessicher, wie die Mitglieder der deutschen Bundesregierung und allen voran die Kanzlerin erscheinen möchten, scheinen sie doch nicht zu sein, und so ist der offiziellen Erklärung eine klammheimliche Erleichterung darüber, daß bei dieser PR-Aktion niemand zu Schaden gekommen ist, durchaus anzumerken.

Die tatsächliche Lage bleibt aus Sicht der NATO-Staaten desaströs. Das auf dem jüngsten Gipfel proklamierte, angebliche neue strategische Konzept, nämlich wegen der forcierten Truppenpräsenz auch den sogenannten zivilen Aufbau sowie die Bemühungen um die Ausbildung einheimischer Sicherheitskräfte zu intensivieren, ist alter Wein in neuen Schläuchen. Der Einsatz der Bundeswehr im Land am Hindukusch wurde von Anfang an als zivile Aufbauhilfe mit leider erforderlicher militärischer Begleitung präsentiert, warum sonst gelten die im Norden stationierten Truppen als "Regionale Wiederaufbauteams" (PRT)? An der Einschätzung des US-Militärstrategen Anthony Cordesman vom "Centre for Strategic and International Studies" in Washington dürften die jüngsten Beschlüsse des NATO-Gipfels ebensowenig etwas geändert haben wie der Merkel/Jungsche Truppenbesuch. Cordesman zufolge muß im Afghanistankrieg 2009/2010 eine Wende eintreten, wenn er nicht verloren gehen soll.

Der von der neuen Obama-Administration in Washington favorisierten Strategie, die Taliban zu spalten, indem angeblich gemäßigtere Kommandeure durch "Geld, Jobs und Prestige" auf ihre Seite gezogen werden sollen, wird ebensowenig ein Erfolg prophezeit. Einem Bericht der New York Times vom 11. März zufolge vertreten afghanische Regierungsbeamte und westliche Diplomaten, die über Verhandlungserfahrungen mit den Taliban verfügen, die Auffassung, daß es nichts gibt, womit die NATO-Staaten ihre Kriegsgegner in Afghanistan locken und spalten könnten. Die Taliban, so das Credo dieser Experten, fühlten sich in diesem Krieg bereits als Sieger, und so dürfte auch die von Merkel bekanntgegebene alt-neue Marschroute, neben den militärischen Anstrengungen auch verstärkt den zivilen Aufbau voranzutreiben, weil dieser Krieg mit Gewalt allein nicht zu entscheiden sei, ein Unterfangen sein, dessen Wirkungslosigkeit unschwer vorherzusagen ist.

7. April 2009