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DILJA/1240: Bevorstehende Stichwahl in Chile wird keinen Linksruck erbringen (SB)


Eine Linksentwicklung steht in Chile (noch) nicht zur Wahl

Präsidentschaftswahl zwischen Pinochets Nachfolgern und einem neoliberalen Bündnis der politischen Mitte


Am kommenden Sonntag wird in Chile eine Stichwahl um das höchste Staatsamt, die Präsidentschaft, durchgeführt. In einem ersten Wahlgang am 13. Dezember vergangenen Jahres konnte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit auf sich vereinen - weder der Milliardär und frühere Pinochet-Gefolgsmann Sebastián Piñera von der rechten Front "Alianza por Chile", der mit 44 Prozent am erfolgreichsten abschnitt, noch der christdemokratische Ex-Präsident Eduardo Frei, der für das seit dem offiziellen Ende der Diktatur ununterbrochen regierende Bündnis der politischen Mitte "Concertación" antrat und im Dezember 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte und in der Stichwahl gegen Piñera antritt.

Der sozialistische Abgeordnete Marco Enriquez-Ominami, der im Sommer vergangenen Jahres aus dem Regierungslager Concertación ausgetreten war und als Unabhängiger kandidiert hatte, war auf respektable 20 Prozent gekommen, während der Präsidentschaftskandidat der Linken, der Kommunist Jorge Arrate, sechs Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte. Die Concertación, ein augenscheinlich aus Radikalen, Sozialisten, Sozial- und Christdemokraten geschmiedetes Parteienbündnis der Nach-Pinochet-Ära, hat seine Existenz wie auch seine bisherige politische Stabilität, so absurd dies klingen mag, den dunklen Jahren der 17 lange Jahre währenden Diktatur zu verdanken, die mit dem politischen Ende Pinochets 1990 keineswegs abgeschüttelt werden konnte.

Mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 und der Ermordung des demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende war weitaus mehr getroffen und mit äußerster Brutalität zerschlagen worden als der Versuch, in Chile die politische Herrschaft einer besitzenden Klasse sozusagen auf sanftem Wege abzulösen durch eine von der Gesellschaftsutopie Sozialismus bestimmte Reformpolitik, die einer nach wie vor kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch eine konsequente Umverteilungspolitik von oben nach unten ein menschliches Antlitz hätte verleihen wollen. Salvador Allende stand für einen dritten Weg, einen vom realexistierenden Sozialismus sowjetischer Prägung losgelösten "demokratischen Sozialismus", der weder einen revolutionären Umsturz propagiert noch einen mit bewaffneten Kräften geführten Klassenkampf auch nur befürwortet hätte. Allendes "Unidad Popular" war nach mehreren erfolglosen Bemühungen durch reguläre Wahlen an die Regierung gekommen, was für viele andere Staaten Lateinamerikas, deren Bevölkerungen wie die chilenische unter einer krassen Ungleichverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer zu leiden hatten, eine immense Signalwirkung hätte entfalten können.

Doch bevor der Sozialismus Allendes seine volle Wirkung als echte Alternative mit vorzeigbaren und unbezweifelbaren sozialen Ergebnissen hätte entfalten können, schlug die Konterrevolution zu. Das Militär unter General Pinochet putschte mit Wissen und Wollen der CIA sowie der damaligen US-Regierung und zerschlug mit dem sozialistischen Entwurf Chiles auch gleich ein Gegenmodell, das für dementsprechende Umwälzungen in vielen Staaten der Region zum konkreten Vorbild hätte avancieren können. In Chile selbst wurde nicht nur eine sozialistische Regierung gestürzt, sondern eine Militärjunta etabliert, die über weitere viele Jahre hinweg das Land mit nackter Gewalt regieren und seine linke Opposition ausschalten sollte und auf diesem Wege und unter diesen Voraussetzungen die Bedingungen für ein Wirtschafts- und Sozialmodell schuf, das unter dem Stichwort "Neoliberalismus" inzwischen sattsam berüchtigt ist.

Im Chile unter Pinochet, der das Land von 1973 bis 1990 beherrschte, konnte nahezu unter Idealbedingungen ein System erprobt und geschaffen werden, das in seinem Kern der eigentlich ungeheuer entlarvenden These, nämlich daß optimale Produktions- und Privatisierungsverhältnisse für das führende Kapital auch den größtmöglichen Nutzen für alle Menschen nach sich zögen, gewidmet ist. 1990 geschah dann folgendes: Pinochet konnte sich nicht länger an der Macht halten, doch das neoliberale System, das die von ihm geführte Junta dem Land aufgezwungen hatte, blieb bestehen. Das breite Bündnis der "Concertación" ließ die Wirtschafts- und Sozialpolitik der vorherigen Machthaber im Kern bestehen, so als seien seine Protagonisten froh, die Diktatur überwunden zu haben, ohne im zweiten Schritt ernsthaft der Frage nachzugehen, welch ein schweres Erbe zu verwalten sie sich damit bereit erklärt haben.

Diese Haltung droht nun, so absurd dies erscheinen mag, dazu beizutragen, daß Pinochets politische Nachfolger vor ihrem ersten Wahlsieg zu stehen scheinen. So hatte der Sozialist Marco Enríquez-Ominami, Sohn des wenige Monate nach dem Putsch ermordeten Gründers der Linken Revolutionären Bewegung (MIR), einer Organisation, die gegen Pinochets Chargen noch Widerstand geleistet hatte, sein Ausscheren aus dem Regierungsbündnis mit dessen nun schon seit 20 Jahren andauernder neoliberaler Politik begründet. Dieser Schritt schwächte die Concertación, und es liegt nahe zu vermuten, daß deren Präsidentschaftskandidat, Eduardo Frei, ohne den bei den Dezemberwahlen auf den unabhängig kandidierenden Enríquez-Ominami entfallenden 20prozentigen Stimmanteil womöglich die absolute Mehrheit erlangt hätte.

Daß die amtierende Präsidentin, die im ganzen Land beliebte Michelle Bachelet von der Sozialistischen Partei, sich nicht wieder zur Wahl stellen konnte, liegt an der noch immer gültigen Verfassung Chiles aus der Zeit der Diktatur. Sie stammt aus dem Jahr 1980, trägt eine stark neoliberale Handschrift und sieht eine Wiederwahl eines amtierenden Präsidenten nicht vor. Warum in Chile auch zwei Jahrzehnte nach der formalen Beendigung einer Militärdiktatur die von Pinochet erlassene Verfassung noch nicht geändert wurde, ist eine schwer und doch leicht zu beantwortende Frage. Schwer nur dann, wenn man den Politikwechsel von 1990 als eine grundlegende Zäsur zu begreifen bereit ist; leicht unter der Annahme, daß der damalige Übergang zur Demokratie allenfalls gewährt bzw. begangen wurde, um das neoliberale Korsett des Landes in eine politische Form überzuführen, die sich innen- wie außenpolitisch als weitaus tragfähiger erweisen würde.

Der Präsidentschaftskandidat der Linken, Jorge Arrate, der bei den Dezemberwahlen auf sechs Prozent gekommen war, hatte mit seiner Forderung nach einer "vierten Urne", mit der am 13. Dezember auch über die Frage nach der Ausarbeitung einer neuen Verfassung hätte abgestimmt werden sollen, für Aufsehen gesorgt. Dieselbe Idee hatte in dem zentralamerikanischen Land Honduras bekanntlich den Putsch vom 28. Juni vergangenen Jahres gegen den gewählten Präsidenten des Landes, Manuel Zelaya, ausgelöst. In Chile würde eine solche Forderung, würde sie von einer Massenbewegung aufgegriffen und gestellt werden mit dem Ansinnen, daß die heutigen Chilenen selbst über die Verfassung des Staates, in dem sie leben, in bester demokratischer Tradition bestimmen wollten, wohl zu ähnlichen, scheinbar unvorhersehbaren Folgen führen können wie in Honduras. Die Stichwahl am kommenden Sonntag bietet keinerlei Option für eine solche Initiative für einen verfassungsgebenden Prozeß, und da Marco Enriquez-Ominami nach langem Zögern nun doch seine Wähler und Anhänger zur Wahl des Christdemokraten Frei aufgerufen hat, ist es entgegen vorheriger Wahlprognosen sehr gut möglich, daß der Repräsentant der Concertación das Rennen macht und dem Land die Regentschaft eines Politikers bzw. eines Rechtsbündnisses, das in aller Offenheit die Position vertritt, General Pinochet habe Chile damals "gerettet", erspart bleibt.

15. Januar 2010