Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1252: Deutscher Hochschullehrer propagiert die Abschaffung der Sozialhilfe (SB)


Wissenschaftlich verbrämte Forderung nach Abschaffung der Sozialhilfe

Bremer Soziologieprofessor im Ruhestand fungiert als Stichwortgeber


Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am 16. März 2010 unter dem Titel "Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen" [1] einen als Gastbeitrag ausgewiesenen Text des deutschen Hochschullehrers Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn, in dem nicht weniger als die Aufkündigung des im bundesdeutschen Grundgesetz als unveränderlicher Kernbestandteil der Verfassung verankerten Sozialstaatsprinzips propagiert wird. Heinsohn, von der FAZ als "Soziologe wie auch Ökonom und Autor vielbeachteter Bücher und Aufsätze zur Demographie" ausgewiesen, der "seit 1984 an der Universität Bremen [lehrt]", führt den Begriff Sozialstaat an, um die von ihm unmißverständlich gutgeheißene Begrenzung der Sozialhilfe auf fünf Jahre und damit die faktische Aufhebung des Sozialstaatsprinzips zu rechtfertigen, indem er, demographisch untermalt, ein Schreckensszenario entwirft, das sich auf einen kurzen Nenner - in etwa "zuviele unnütze Menschen gefährden den Sozialstaat, weil die produktiven Gesellschaftsmitglieder sie mit durchfüttern müssen" - herunterbrechen ließe [1]:

Vorab ein paar unangenehme Wahrheiten zur demographischen Entwicklung: Von 100 Kindern, die Deutschland benötigt, um nicht weiter zu schrumpfen und zu vergreisen, werden 35 gar nicht erst geboren. Statt der 2,1 Kinder je Frauenleben, die für eine demographische Stabilisierung nötig wären, kommen nur knapp 1,4. Von den 65 Kindern, die auf die Welt kommen und zu Jugendlichen heranwachsen, gelten später 15 als nicht ausbildungsreif. Unter den Lehrstellenbewerbern waren fast die Hälfte nicht ausbildungsfähig, so der neueste Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Von den 50 befähigten Kindern verlassen 10 das Land und suchen als Auswanderer anderswo ihr Glück. Es stehen mithin gerade mal 40 der erforderlichen 100 Nachwuchskräfte zur Verfügung. Die Bedrohung für die Wirtschaft, den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt wird als so groß empfunden, dass es unter den Demographen kaum einen gibt, der dem Land noch Hoffnungen macht.

Heinsohn, laut Wikipedia "seit Ende Februar 2009 im Ruhestand" [2], kaschiert seinen Angriff auf den Sozialstaat mit demographischen oder vielmehr demagogischen Scheinargumenten als den Versuch, diesen wie auch "die Wirtschaft" und "das Gemeinwesen" vor der Masse Mensch zu retten, die ihn angeblich zu verschlingen drohe. Folgerichtig kritisiert er die derzeitige Bundesregierung wie auch ihre Vorgängerinnen nicht dafür, den Sozialstaat bereits nach Kräften ausgehöhlt und durch Agenda 2010 und die Hartz-IV-Mangelverwaltung den verarmten und in Armut getriebenen unteren Teil der Bevölkerung mit Zwangsmaßnahmen überzogen zu haben, die den Verfassungsgeboten Hohn sprechen. Nein, die Kritik des Sozialwissenschaftlers gilt der vermeintlichen Absicht der "politischen Führung", an einer verfehlten Sozial- und Einwanderungspolitik festzuhalten [1]:

Die deutsche politische Führung scheint fest entschlossen, weiter auf dem erfolglosen, immer teurer werdenden Weg der verfehlten Einwanderungs- und Sozialpolitik zu gehen. Mehr Geld für Sozialprogramme hilft dabei nicht einmal zur Bekämpfung der Symptome, wie der Politologe und Ökonom Charles Murray in seiner Studie "Losing Ground" überzeugend dargelegt hat. Zwischen 1964 und 1984 erhöhte Amerika seine Ausgaben für Sozialhilfe sehr stark. Und doch stieg die Zahl der "Sozialhilfemütter" und ihrer Kleinen von 4 auf 14 Millionen. Murray fasste diese Entwicklung in die Gesamtformel "Mehr Geld vermehrt Armut".

"Mehr Gelt vermehrt Armut" - mit einer solchen Formel qualifiziert sich Heinsohn als Stichwortgeber in der aktuellen Hartz-IV-Diskussion, die gar keine ist, weil einzig und allein Mittel und Wege ersonnen, gefunden und durchexerziert werden, um den eingeschlagenen Weg der Mittelkürzung und administrativen Zwangsverwaltung unter Vermeidung nennenswerter Widerstände und Proteste in größtmöglichen Schritten fortzusetzen. Selbstverständlich steht Prof. Dr. Dr. Heinsohn nicht in Regierungs- oder sonstiger Verantwortung, weshalb sich weder in der Bundes- noch in einer Landeshauptstadt politisch Verantwortliche bemüßigt sehen werden, gegen seinen Vorstoß klar Stellung zu beziehen. Heinsohn beackert in dem von der FAZ veröffentlichten Beitrag das mediale Feld, um eine Akzeptanz zu schüren, die auf dem Boden einer längst durchexerzierten Bezichtigungs- und Zulastungskampagne an die Adresse all derjenigen, die in ihrer minimalen Existenzsicherung auf soziale Unterstützungsleistungen angewiesen sind, bereits eine große Nähe zu NS-ideologischen Formeln wie "Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen" aufweist.

Heinsohn bedient nicht nur sattsam bekannte Stereotypien wie die des Sozialschmarotzers, der sich, seiner Alimentierung sicher, zu Lasten der Gesellschaft auf die faule Haut legt, er baut derartige Bezichtigungskonstrukte noch aus auf "arme Frauen", die "ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen" [1] mit dem Resultat, daß sich dadurch der von ihm als wertlos eingestufte Bodensatz der Gesellschaft auch noch überproportional stark reproduziere:

Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken - nicht anders als in Amerika. Eine solche Umwandlung des Sozialstaats würde auch die Einwanderung in die Transfersysteme beenden. Deutschland könnte dann im Wettbewerb um ausländische Talente mitspielen, um seinen demographischen Niedergang zu bremsen.

Am Beispiel der USA propagiert der Autor sein Lösungskonzept, das aus einer kruden Mischung aus massivstem Sozialabbau, gepaart und kombiniert mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen sowie einer die Zusammensetzung des Volkskörpers "verbessernden" Einwanderungspolitik besteht. Die von ihm zitierten Erkenntnisse Murrays hätten, so Heinsohn, den von ihm als "Linksliberalen" bezeichneten früheren US-Präsidenten Bill Clinton Anfang 1997 dazu veranlaßt, das seit 1935 geltende Recht auf lebenslange Sozialhilfe zu beenden und durch ein "auf fünf Jahre begrenztes Recht auf Unterstützung bei tatkräftiger Hilfe nicht zu irgendeiner abstrakten Integration, sondern zum Übergang in Arbeit" zu ersetzen. Dies habe zu durchschlagenden Erfolgen geführt, behauptete Heinsohn, selbstverständlich ohne die extreme Armut und Verelendung in den USA sowie den Hunger, von dem inzwischen Millionen US-Bürger betroffen sind, auch nur mit einer Silbe zu erwähnen [1]:

Der Erfolg dieser Maßnahmen war durchschlagend: Bezogen vor der Reform 12,2 Millionen amerikanische Bürger Sozialhilfe, so waren es 2005 nur noch 4,5 Millionen. Die Frauen der Unterschicht betrieben nun Geburtenkontrolle. So sank die Zahl der "welfare mothers" drastisch, ebenso die Kriminalität der Söhne dieses Milieus.

Heinsohn versteigt sich sogar zu der These, die Abschaffung der Sozialhilfe als hilfreich für die Betroffenen darzustellen, und sucht dies unter Zuhilfenahme seines Wissenschaftskollegen Charles Murray, den er als Politologen und Ökonom bezeichnet, folgendermaßen zu begründen [1]:

Seine [Murrays] wichtigsten Schlussfolgerungen lauteten: Erstens: Die Bezahlung der Mutterschaft für arme Frauen führt zu immer mehr solchen Müttern. Zweitens: Die Kaschierung des Schulversagens ihrer Kinder durch Senkung der Anforderungen höhlt die Lernbereitschaft weiter aus. Drittens: Die Entschuldigung der Kriminalität dieser Kinder - 10 Prozent der Jungen sind auf Sozialhilfe, diese begehen aber 50 Prozent der Verbrechen - als "Versagen der Gesellschaft" treibt die Deliktzahl weiter nach oben. Viertens: Die Abschaffung der Sozialhilfe wirkt für die Betroffenen hilfreicher als ihre Belohnung mit Quasiverbeamtung für immer mehr bildungsferne Kinder.

Derlei in einschlägigen Medien wie der FAZ lancierte Ergüsse wären der Erwähnung kaum wert und könnten kopfschüttelnd beiseitegelegt werden, wäre da nicht die beunruhigende inhaltliche Nähe zu sozialpolitischen Äußerungen von sehr wohl in Regierungsverantwortung stehenden Politikern. Um dies zu untermauern, sei an dieser Stelle nur an die Worte des FDP-Vorsitzenden und amtierenden Vizekanzlers Guido Westerwelle erinnert, der Ende Februar in einem Gespräch mit Bild am Sonntag erklärt hatte [3]: "Jeder, der jung und gesund ist und keine Angehörigen zu betreuen hat, muß zumutbare Arbeiten annehmen - sei es in Form von gemeinnütziger Arbeit, sei es im Berufsleben, sei es in Form von Weiterbildung." Mit anderen Worten: Die Nr. 2 in Berlin befürwortet Arbeitspflicht, um nicht zu sagen Zwangsarbeit, ohne dies offen beim Namen zu nennen. Westerwelle behauptete, für die "schweigende Mehrheit" zu sprechen, und bekundete, daß demjenigen, der sich dem verweigere, "die Mittel gekürzt werden" müßten.

P.S.:
In einigen Bundesländern, nämlich Niedersachen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Berlin, wird, wie der Spiegel [4] zu berichten weiß, "bereits über die Gratispille" für Leistungsempfängerinnen beraten.



Anmerkungen:

[1] "Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen". In Amerika beendete Bill Clinton 1997 das Recht auf lebenslange Sozialhilfe, Gastbeitrag zu Hartz IV von Gunnar Heinsohn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 2010
http://www.faz.net/s/Rub0B44038177824280BB9F799BC91030B0/Doc~E0AC5A2CD5A6A481EABE50FAE2AEBA30B~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Gunnar_Heinsohn

[3] Hartz IV: Hetze gesteigert, von Arnold Schölzel, junge Welt, 22.02.2010, S. 1

[4] http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,683760,00.html

18. März 2010