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DILJA/1292: Verhandlungsmasse Palästinenser - Lieberman sieht die EU als Gefängniswärter (SB)


Liebermans "Privatmeinung" markiert neuen Vorstoß Israels

Der hermetisch abgeriegelte Gazastreifen darf so "frei" sein, wie seine künftigen EU-Wärter es zulassen


Derzeit hat die westliche Reisediplomatie gen Nahen Osten wieder einmal Hochkonjunktur. Der US-Sondergesandte für den Nahen Osten, George Mitchell, besprach sich am vergangenen Samstag mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, einen Tag später trafen sowohl Abbas als auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu wenn auch getrennten Gesprächen mit dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak in Kairo ein. Dem Vernehmen nach sei Ägypten darum bemüht, die seit eineinhalb Jahren ausgesetzten Verhandlungen zwischen den Palästinensern und Israel wieder in Gang zu bringen, und so betonte Mubarak "die Notwendigkeit, adäquate Bedingungen für die Gründung zweier Staaten" [1] vorzubereiten. Dies klingt auf den ersten Blick nach dem so-und-so-vielten Versuch, die Zwei-Staaten-Lösung wieder aufs Tapet zu bringen und an einen Konsens anzuknüpfen, den das sogenannte Nahost-Quartett schon seit vielen Jahren vor sich herschiebt, um gleichermaßen den Interessen Israels entgegenzukommen wie den Palästinensern eine Hoffnungsperspektive auch dann zu erhalten, wenn die tatsächliche Entwicklung der Errichtung des mit den Osloer Verträgen einst in scheinbar greifbare Nähe gerückten lebensfähigen Palästinenserstaates entgegenläuft.

Denkbar wäre allerdings auch, daß der ägyptische Präsident keineswegs die Zwei-Staaten-Lösung gemeint hat, als er davon sprach, die Voraussetzungen für die Gründung zweier Staaten zu schaffen, was zudem auch deshalb nicht ganz logisch ist, weil die Staatsgründung Israels vor über einem halben Jahrhundert bereits erfolgt ist. Doch nicht nur der US-Nahost-Sondergesandte Mitchell kam an diesem Wochenende in die Region, auch die EU meldete mit ihrer Außenbeauftragten Catherine Ashton höchsten Besuch an. Bei ihrer zweiten Nahost-Reise trifft die EU-Außenamtschefin sowohl mit Netanjahu als auch mit Palästinenserpräsident Abbas zusammen. Wie sie vor ihrer Abreise erklärte, bestünde der Zweck ihres dreitägigen Besuchs darin, sich für eine weitergehende Lockerung der Blockade des Gazastreifens einzusetzen. Bekanntlich hatte Israel, um der internationalen, nach dem tödlichen Überfall der israelischen Armee auf die Hilfsflottille "Free Gaza" leicht verschärften Kritik scheinbar entgegenzukommen, eine gewisse Lockerung der Blockade gewährt.

Ashton stattete dem im Kern noch immer unter Blockade stehenden Gazastreifen einen Kurzbesuch ab, ohne mit Repräsentanten der Hamas, die ungeachtet ihrer Ächtung durch Israel, internationale Organisationen und die führenden westlichen Staaten die demokratisch legitimierte Regierung der Palästinenser ist, auch nur ein Wort zu sprechen. Gleichwohl waren ihre Worte darauf ausgerichtet, unter den Palästinensern Hoffnungen auf eine Besserung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage zu erwecken. Alle Grenzübergänge sollten zu diesem Zweck geöffnet werden, so Ashton, die auf einer Pressekonferenz den Standpunkt der EU mit folgenden Worten auf den Punkt brachte: "Wir wollen, dass sich die Menschen im Gazastreifen frei bewegen und dabei zusehen können, wie Güter nicht nur importiert, sondern auch exportiert werden dürfen." [2]

Doch auch hier liegt, wie auch bei den Worten Mubaraks, der Teufel im wörtlichen Detail. Sollen sich ihrer Meinung und damit auch nach Auffassung der EU die im Gazastreifen lebenden Menschen innerhalb dieses Gebiet frei bewegen dürfen oder soll ihnen wie auch allen anderen Palästinensern eine völlige Bewegungsfreiheit, eine ungehinderte Ein- und Aus- und Wiedereinreise gewährt werden? Letzteres ist mit Sicherheit nicht gemeint, da die EU-Außenbeauftragte der israelischen Regierung nahelegen wollte, den Waren- und Personenverkehr zwischen den beiden Palästinensergebieten, dem Gazastreifen und dem Westjordanland, zu genehmigen, was im übrigen der Erwähnung nicht wert wäre, würde die Errichtung eines lebensfähigen Palästinenserstaates tatsächlich ein Ziel sein, das zu erreichen die israelische Regierung bestrebt wäre oder sich aufgrund der Oslo-Verträge verpflichtet fühlte.

Daß die Bewohner des Gazastreifens desweiteren dabei "zusehen" können sollen, wie Güter nicht nur im-, sondern auch exportiert werden, klingt auch nicht gerade danach, daß die Palästinenser ihre wirtschaftlichen Aktivitäten frei und ohne Bevormundung und Kontrolle durch wen auch immer tätigen können werden. Laut Ashton stünde die EU bereit, Israel bei der Öffnung der Kontrollposten für den Warenverkehr zu unterstützen. Europa fordere, so ließ die Außenamtschefin wissen, einen grundsätzlichen Politikwechsel Israels in Hinsicht auf den Gazastreifen [3]. Sie traf sich mit dem palästinensischen Ministerpräsidenten Salam Fajad in Ramallah und erklärte hinterher: "Wir sagen es ganz klar: Die Menschen im Gazastreifen müssen ein normales Leben führen können." [4]

Mit keiner Silbe gingen Ashton oder Mitchell, Abbas oder Mubarak, um von Netanjahu ganz zu schweigen, auf den zur selben Zeit, am vergangenen Freitag, in der israelischen Tageszeitung "Jediot Achronot" veröffentlichten Vorschlag des israelischen Außenministers Avigdor Lieberman ein. Wie verlautbart wurde, handelte es sich dabei "um eine private Initiative Liebermans und nicht um die offizielle Politik Israels oder des Außenministeriums" [5]. Wie ein solcher Vorschlag eines amtierenden Ministers eine "Privatinitiative" sein kann, mag das Geheimnis derer sein, die diese These aufstellen. Lieberman selbst will nach Angaben der Zeitung "Yediot Achronot" seine Initiative der EU-Außenbeauftragten Ashton vortragen. Allem Anschein nach beschreitet die israelische Führung über ihren Rechtsaußen Lieberman den Weg, einen ersten Versuchsballon zu starten, ohne daß die offiziellen Verantwortlichen für ihn die volle politische Verantwortung übernehmen müßten.

Worum es dabei geht, ist schnell gesagt: Liebermans Initiative ist der "Plan einer 'zweiten und endgültigen Abtrennung' des Gazastreifens", wie der österreichische Standard titelte [6]. Auch hier liegt der Teufel im Detail. So möchte Lieberman, wie der Standard am Freitag berichtete [6], daß die EU die De-facto-Regierung der Hamas im Gazastreifen anerkenne, was mitnichten heißen soll, daß die israelische Regierung ihrerseits die Hamas als Verhandlungs- oder Gesprächspartner akzeptieren würde. Der israelische Außenminister möchte desweiteren, daß die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen vollständig übernimmt und daß dazu von der Weltgemeinschaft in diesem Gebiet eine große Wasserentsalzungsanlage, ein Klärwerk und ein Kraftwerk zur Stromerzeugung errichtet werden sollten. Sofern dies geschehen und weitere Bedingungen, so etwa die Einbindung internationaler militärischer Einheiten, um den Waffenschmuggel in den Gazastreifen zu unterbinden und die frei über den Hafen Gaza anlandenden Schiffe auf Waffen zu untersuchen, erfüllt seien, würde Israel seine eigene Grenze zum Gazastreifen hermetisch abriegeln.

Weder Strom noch Wasser, weder Menschen noch Waren jeglicher Art würden dann noch diese Grenze passieren können, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Dies sei dann, so zumindest die Vorstellung Liebermans, das endgültige Ende der israelischen Besatzung des Gazastreifens, was die Weltgemeinschaft dann bitte schön auch anzuerkennen habe. Mit anderen Worten: Dieser diplomatische Vorstoß, ob "privat" oder nicht, läßt das Interesse Israels erkennen, sich vollständig aus der Verantwortung einer Besatzungsmacht herauszudefinieren, selbstverständlich ohne die mit der Besatzung verfolgten Ziele preiszugeben.

Bislang hatte die internationale Gemeinschaft, wenn auch mehr in Gestalt harmloser Lippenbekenntnisse, da niemals gegen Israel wegen derartiger Verletzungen Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat aufgrund der dort vorherrschenden Interessenlagen auch nur in Erwägung gezogen wurden, Israel diesen Freifahrtschein verweigert und den völkerechtlich einzig legitimen Standpunkt, daß Israel als Besatzungsmacht für das Wohl der palästinensischen Bevölkerung Verantwortung trage, beibehalten. Damit könnte in absehbarer Zeit Schluß sein, dann nämlich, wenn der noch als Einzelvorstoß gehandelte Plan Liebermans tatsächlich Gestalt annähme. Dem Standard zufolge [6] hat der israelische Außenminister diesen Plan schon seinem italienischen Amtskollegen Franco Frattini vorgestellt; die übrigen Außenminister der EU, unter ihnen dann auch Guido Westerwelle, werden am 28. Juli damit konfrontiert werden.

Der Zeitung "Yediot Ahronot" zufolge habe Liebermans Idee von der "zweiten und endgültigen Abtrennung" des Gazastreifens noch nicht die Zustimmung von Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak, wie ein namentlich nicht genannter hoher israelischer Beamter im vertraulichen Gespräch gesagt haben soll. Es wäre durchaus plausibel anzunehmen, daß Netanjahu und Barak die Vorverhandlungen ihrem Rechtsaußen überlassen, bis ein mit den Vorstellungen, Absichten und strategischen Planungen ihrer jeweiligen Verhandlungspartner, zu denen alle Beteiligten, nur nicht die Hamas, gehören, kompatibler Rahmen erarbeitet wurde, der sich dann auch gegenüber der Öffentlichkeit gut verkaufen läßt. Käme es, auf welchen Wegen und mit welchen Worthülsen auch immer beschriftet, zu einer solchen Abkehr von der Schimäre "Zwei-Staaten-Lösung", wäre die Vollendung der Vertreibung (der Palästinenser) von 1948 ein großes Stück nähergerückt.

Wird die Enklave Gazastreifen als vermeintlicher Staat, mit hermetisch abgeriegelten Grenzen gegenüber Israel und womöglich auch Ägypten, ausgegeben, wäre dies das endgültige Aus für einen beide Gebiete, Gazastreifen und Westjordanland, umfassenden Palästinenserstaat, was ausschließlich im Interesse Israels läge. Da die bisherigen Friedensverhandlungen, auch wenn sie dieses Wort kaum wert sind, von einer solchen Zielvorgabe ausgehen, wären sie damit endgültig für null und nichtig erklärt worden. Gleiches gelte selbstverständlich für die Reste der Osloer Verträge. Lieberman versucht unterdessen seinen Gesprächspartnern diesen Plan mit dem Argument schmackhaft zu machen, daß dies das von allen Seiten geforderte Ende der Blockade des Gazastreifens sowie der israelischen Besatzung wäre. Sollte Ägypten seinerseits seine Grenze dichtmachen, könnten die Europäer, da der Gazastreifen dann von See aus frei erreichbar wäre, die Versorgung des Küstenstreifens (auf eigene Kosten) sicherstellen.

Kurzum: nach diesen sozusagen inoffiziellen Plänen Israels sollen die Europäer im Gazastreifen die Rolle eines besseren Gefängniswärters übernehmen, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich die westlichen Führungsstaaten - auch die USA würden ihren Einfluß geltend machen - an einem solchen Komplott, der mit einer Befreiung der Palästinenser nicht das Allergeringste zu tun hätte, nicht unter diesen oder jenen Voraussetzungen beteiligen würden.

Anmerkungen

[1] Angriff auf Kundgebung. Israelische Besatzer verletzen zwei Palästinenser. Netanjahu und Abbas in Kairo, junge Welt, 19.07.2010, S. 2

[2] EU-Außenbeauftragte besucht Gazastreifen. Ashton fordert Öffnung aller Grenzübergänge, tagesschau.de, 18.07.2010,
http://www.tagesschau.de/ausland/ashton158.html

[3] EU drängt Israel erneut zu Ende der Gaza-Abriegelung, Der Standard, 16.07.2010,
http://derstandard.at/1277338295801/EU-draengt-Israel-erneut-zu-Ende-der-Gaza-Abriegelung

[4] Ashton fordert in Ramallah Öffnung des Gaza-Streifens, Donaukurier, 18.07.2010,
http://www.donaukurier.de/nachrichten/topnews/EU-Nahost-Israel-Palaestinenser-Ashton-fordert-in-Ramallah-Oeffnung-des-Gaza-Streifens;art154776,2301493

[5] Anerkennung der Hamas-Kontrolle. Israels Außenminister schlägt Gaza-Abspaltung vor, Spiegel online, 16.07.2010,
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,706904,00.html

[6] Lieberman: EU soll Hamas-Regierung anerkennen, Der Standard, 16.07.2010,
http://derstandard.at/1277338278277/Lieberman-EU-soll-Hamas-Regierung-anerkennen

19. Juli 2010