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DILJA/1358: Chile 1973, Putsch-Nachlese - Wem nützt die bestätigte Suizidthese zum Tod Allendes? (SB)


Die Geschichtsschreibung liegt in der Hand der Sieger

Pinochet-Diktatur vom Vorwurf des Mordes an Salvador Allende entlastet


Der erste, demokratisch gewählte sozialistische Präsident eines lateinamerikanischen Staates, Salvador Allende, starb am 11. September 1973. Allende war 1970 Präsident Chiles geworden und hatte in der nur kurzen, durch den Militärputsch vom 11. September 1973 gewaltsam beendeten Regierungszeit Fakten geschaffen, die die Ängste seiner Gegner vor einem "zweiten Kuba" bis hin zu einer Linksentwicklung, um nicht zu sagen einem Linksruck in ganz Lateinamerika mit unabsehbaren Folgen für die selbsternannte Hegemonialmacht USA, aber auch die westeuropäischen Führungsstaaten, die wie die damalige Bundesrepublik Deutschland ein massives Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung des Status quo hatten, nährten.

Der durch Präsident Salvador Allende, den Anführer der Unidad Popular, eingeleitete Versuch, durch die Verstaatlichung von Bergwerken, großen ausländischen Unternehmen, Banken und Monopolunternehmen sowie eine Agrarpolitik, bei der 20.000 km² Landfläche von Großgrundbesitzern an Kleinbauern und Kollektive übergeben wurden, den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft auf demokratischem Wege einzuleiten sowie Chile aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit vom westlichen Ausland zu lösen, kam einer Kriegserklärung an eben diese ausländischen Kräfte sowie die inländischen Eliten gleich, die den drohenden und realen Verlust ihrer Pfründe nicht hinzunehmen bereit waren und keineswegs davor zurückschreckten, für die Durchsetzung ihrer Interessen ihre angeblich so hehren Prinzipien über Bord zu werfen und einen Militärputsch zu unterstützen bzw. einzuleiten, durch den die demokratisch legitimierte Regierung Chiles gestürzt und das ganze Land in eine brutale Diktatur verwandelt wurde, die noch lange Zeit, bis 1990, andauern sollte.

Im März 1971 hatte Präsident Allende in seiner ersten offiziellen Rede vor dem Nationalkongreß zu erkennen gegeben, welch ein Wind in jenen Jahren in Chile geweht hatte - ein Wind, der sich von dort aus, hätte die durch die Unidad Popular eingeleitete Reform- und Umverteilungspolitik ungestört weitergeführt werden können, womöglich zu einem Sturm hätte auswachsen können, der die Vorherrschaft der westlichen Staaten in ganz Lateinamerika gebrochen hätte [1]:

Wir sind von niemanden mentale Kolonisten. Hier und jetzt beginnt die Geschichte eine neue Wende. Ich bin sicher, wir werden die notwendige Energie und Fähigkeit haben, unsere Anstrengungen voranzutreiben, indem wir die erste sozialistische Gesellschaft nach einem demokratischen, pluralistischen und freiheitlichen Muster modellieren... Die Aufgabe ist von einer enormen Komplexität, weil es dafür keinen Präzedenzfall gibt, von dem wir uns inspirieren lassen können. Wir betreten einen völlig neuen Weg und haben keinen anderen Kompass als unsere Treue zum Humanismus aller Epochen.

Bald zeichnete sich ab, daß das damalige Chile Zeichen zu setzen begonnen hatte - nicht nur im eigenen Land sowie der lateinamerikanischen Region, sondern weltweit. Vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York hatte Präsident Allende 1972 unter anderem erklärt [1]:

Ich komme heute hierher, weil mein Land mit Problemen konfrontiert wird, die aufgrund ihrer weltweiten Bedeutung in dieser Versammlung von Nationen ständig behandelt werden: nämlich der Kampf um gesellschaftliche Befreiung, das Bemühen um Wohlstand und geistigen Fortschritt und die Verteidigung der nationalen Identität und Würde. Die Aussicht, der mein Land sich gegenüber sah, war, wie in so vielen anderen Ländern der Dritten Welt, das vertraute Muster: Übernahme eines fremden Modernisierungsmodells; technische Untersuchungen und die tragische Realität haben gezeigt, dass ein solches Modell die unausweichliche Wirkung hat, mehr und mehr Millionen Menschen von jeder Möglichkeit des Fortschritts, des Wohlstands und der sozialen Befreiung auszuschließen und sie zu einem subhumanen Dasein zu verurteilen - ein Modell, das zu noch größerer Wohnungsnot führen und eine ständig wachsende Zahl von Bürgern zu Arbeitslosigkeit, Unwissenheit und physischer Not verdammen muss.

Durch die Militärdiktatur, die durch den Putsch vom 11. September 1973 errichtet wurde und in deren Verlauf nach den Untersuchungsergebnissen einer nach ihrem Ende eingesetzten Wahrheitskommission fast 3.200 Menschen ermordet worden waren, waren die Voraussetzungen für eine erste Erprobung eines Wirtschaftsmodells geschaffen worden, das seinen Siegeszug um die Welt inzwischen angetreten hat und heute weitverbreitet ist. Unter den damaligen Diktaturbedingungen in Chile wurden nicht nur die Ansätze und Errungenschaften der Unidad Popular in den Boden gestampft, sondern die Voraussetzungen für das weltweit erste neoliberale Laboratorium geschaffen, in dem nach den von Milton Friedman und seinen "Chicago Boys" entwickelten Grundsätzen eine Politik der Privatisierung der Sozialsysteme, öffentlicher Dienstleistungen und der Bildung bei gleichzeitiger Zerschlagung der Gewerkschaften betrieben wurde.

1989/1990 wurde die Pinochet-Diktatur durch eine demokratische Koalition, die "Concertación", abgelöst, ohne jedoch das durch den Putsch geschaffene neoliberale Modell abzuschaffen. Dies führte bereits im August 2003 zum ersten Generalstreik seit dem Ende der Diktatur. Linke Organisationen wie auch der Gewerkschaftsdachverband CUT hatten dazu aus Protest gegen die Concertación aufgerufen, die die neoliberale Politik der Pinochet-Regierung fortgesetzt und lediglich versucht hatte, die Proteste dagegen so klein wie möglich zu halten.

Salvador Allende hatte noch am Tage seines Todes in einer letzten, im Radio übertragenen Rede an die Bevölkerung ein Vermächtnis hinterlassen, das den Wunsch vieler seiner Landsleute, die wie er in der Gesellschaftsutopie Sozialismus bzw. dem Ringen um deren Verwirklichung die Erfüllung des Wunsches nach Freiheit und einem besseren Leben sahen, zum Ausdruck brachte [1]:

Die Geschichte wird sie (die Verräter) beurteilen und bestrafen. Immer werde ich bei Euch (Arbeiter meines Vaterlands) sein. Meine Erinnerung wird diejenige eines würdigen Mannes sein, der zur Sache der Arbeiter immer loyal war. Eher früher als spät, werden sich die großen Alleen wieder öffnen, damit der freie Mensch in ihnen gehen kann, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. ...

Das Ansehen Allendes stand und steht in den Augen all jener Menschen, die sich damals wie heute solidarisch zu ihm und der Politik der Unidad Popular stellten, nicht im mindesten in Frage. Allendes Einschätzung, die "Geschichte" würde seine Gegner beurteilen und bestrafen, ist jedoch keineswegs eingetroffen. General Augusto Pinochet, dem Allende in den letzten Wochen und Tagen vor dem Putsch noch vertraut hatte, starb 2006 im hohen Alter, ohne je für seine Verbrechen verurteilt und bestraft worden zu sein. Angesichts der tausenden Toten, die in der Pinochet-Diktatur aus politischen Gründen ermordet wurden und "verschwanden" und den verheerenden Folgen, die dieses extrem repressive System für das gesamte gesellschaftliche Leben Chiles zeitigte, ist die Frage, ob Präsident Allende am Tage des Putsches durch die eigene Hand, die eines seine angebliche Selbsttötung vollziehenden Leibwächters oder von den Truppen, die den zuvor von der Luftwaffe bombardierten Präsidentenpalast einnahmen, erschossen wurde, vollkommen unerheblich.

Das Pinochet-Regime allerdings hat vom ersten Tag an großen Wert darauf gelegt, sich vom Vorwurf, den amtierenden und demokratisch gewählten Präsidenten Chiles ermordet zu haben, freizuhalten. Eine erste Autopsie des Leichnams Allendes fand unmittelbar nach dem Putsch auf Befehl Pinochets und damit unter der Kontrolle der Putschisten statt. Die Selbstmordthese der Putschisten, derzufolge Allende sich selbst mit einer Kalaschnikow AK-47, die ihm der kubanische Staatschef Fidel Castro 1971 bei einem Besuch in Chile geschenkt hatte, erschossen hätte, wurde auf diesen Autopsiebericht gestützt sowie auf die Schilderung eines seiner Leibärzte, Patricio Guijón. Allende hatte die meisten seiner Mitarbeiter wie auch seine Familienangehörigen aufgefordert, den Präsidentenpalast zu verlassen; er selbst hatte mit nur wenigen Getreuen in ihm ausgeharrt. Was dann folgte, sollte der Leibarzt Patricio Guijón Jahre später folgendermaßen beschreiben [2]:

Ich sah Licht (in dem Salon). Ein Mann saß auf einem Stuhl, etwa fünf bis acht Meter entfernt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es der Präsident war. Dann sah ich, wie sein Körper durch den Schuss aus einer Maschinenpistole hochgerissen wurde. Ich rannte hin, stellte aber fest, dass nichts mehr zu machen war.

In mehreren Interviews gab Guijón an, er sei an jenem Tag noch einmal in sein Büro zurückgekehrt, um eine Gasmaske als Erinnerung mitzunehmen, und hätte dabei gerade in dem Moment, in dem Allende sich erschoß, die Tür zum Salon geöffnet. Ein zweiter Leibarzt, José Quiroga, erklärte später, daß auch er, wenn auch durch eine andere Tür, genau diese Szene beobachtet hätte. Um die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen zu bewerten, muß in Erwägung gezogen werden, daß sich Patricio Guijón wenig später den anrückenden Truppen der Putschisten ergab. Da keineswegs ausgeschlossen werden kann, daß Putschüberlebende sich bereit gefunden haben könnten, die ihnen gestellten Forderungen zu erfüllen, können die Angaben der ehemaligen Leibärzte Allendes keineswegs den Mangel an "harten Beweisen" für die von den Putschisten aufgestellte Selbstmordtheorie ersetzen. Daß Guijón wie auch Quiroga auch nach 1990 bei ihren Angaben blieben und diese auch öffentlich machten, widerlegt diese Einschätzung keineswegs.

Will man jüngsten Ergebnissen einer internationalen Expertenkommission, die erstmals nach 38 Jahren den Tod Allendes untersuchte, Glauben schenken, gibt es an der Selbsttötungsthese nicht mehr den geringsten Zweifel. Laut dem am 19. Juli veröffentlichten Abschlußbericht seien zwei Kugeln aus Allendes Sturmgewehr AK-47 abgefeuert worden; eine dieser Kugeln sei in seinem Leichnam gefunden worden. Auf einer Pressekonferenz erklärte Francisco Echeverría, ein spanischer Mediziner, der zu der Expertengruppe gehört [3]:

Wir können auf Grundlage vollständiger wissenschaftlicher Analyse versichern, dass es sich um einen Selbstmord handelt und darüber kein Zweifel mehr besteht.

Ein weiterer Experte, der britische Ballistiker David Prayer, suchte zugleich zu erklären, wie es habe angehen können, daß Allende sich mit zwei (!) Kugeln selbst das Leben nehmen konnte. Seine Waffe sei auf Dauerfeuer eingestellt gewesen, so Prayer, und habe deshalb zehn Schüsse pro Sekunde abgeben können. Hätten dann nicht noch mehr als zwei Kugeln aus der Waffe austreten und gefunden werden müssen? Doch für weitere Fragen oder Zweifel soll es ja, zumindest nach den Ergebnissen dieser Kommission, nicht den geringsten Anlaß mehr geben. Der Forensiker Patricio Bustos, der diese Ermittlungen leitete, erklärte auf derselben Pressekonferenz in Santiago de Chile, Allende sei durch zwei Kugeln aus seinem Sturmgewehr AK-47 gestorben. Durch zwei aufgesetzte Schüsse seien sie am Unterkiefer eingedrungen und hätten den sofortigen Tod Allendes verursacht. In Hinsicht auf die Dauerfeuer-These des Briten Prayer zog Bustos das Fazit: "Wir haben damit technische Sicherheit über eine Hypothese, die nie belegt worden ist." [4]

Auf Geheiß des Untersuchungsrichters Mario Carroza, dem Widersprüche zwischen den Berichten des Militärs und der Polizei aufgefallen waren, und auf Antrag und damit mit Zustimmung der Familie Allende war der Leichnam Salvador Allendes am 23. Mai 2011 exhumiert und der Gerichtsmedizin übergeben worden. Eine Woche später trat der uruguayische Forensiker Hugo Rodríguez mit Ergebnissen, die der Selbstmordthese widersprachen, an die Öffentlichkeit. Gegenüber dem staatlichen Nachrichtensender TNV erklärte Rodríguez, daß ein Projektil eines kleineren Kalibers als des Sturmgewehrs AK-47, mit dem Allende sich getötet haben soll, in dessen Schädelknochen ein Loch hinterlassen hätte. Dieses Projektil sei auf Allende abgefeuert worden, bevor ihn das Hochgeschwindigkeitsgeschoß aus der AK-47 in den Kopf getroffen hätte [5].

Der Forensiker hat zudem Dokumente ausgewertet, die im Haus des verstorbenen Generals Javier Palacios gefunden worden waren. Palacios hatte die Panzereinheit, die am 11. September 1973 den Präsidentenpalast angegriffen hatte, kommandiert und anschließend an Pinochet den Erfolg des Putsches mit folgenden Worten gemeldet: "General Palacios an General Pinochet. Auftrag ausgeführt. Moneda genommen. Präsident tot." In dem besagten Dokument hatte Palacios allerdings angegeben, daß Allende alle Kugeln seiner Magazine abgefeuert hätte und daß seine Hände voller Schmauchspuren gewesen seien [5]. Rodríguez arbeitet nach der Methode der "historischen Autopsie", womit gemeint ist, daß in Fällen, in denen keine für ein Gutachten ausreichenden Untersuchungsergebnisse erzielt werden können, zusätzlich sämtliche historischen Dokumente und Augenzeugenberichte einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Die erste, von Pinochet in Auftrag gegebene und von zwei Militärärzten in den Wirren des Putsches durchgeführte Autopsie sollte ergeben haben, daß Allende sich selbst erschossen hätte und daß die tödliche Kugel vom Kinn her in seinen Kopf eingedrungen sei und die Schädeldecke weggerissen hätte [6]. Dieser Befund wurde vom Pinochet-Regime als Geheimsache eingestuft und gelangte erst im Jahre 2008 in die Hände des chilenischen Gerichtsmediziners Luis Ravanal, der die offiziellen Autopsieergebnisse mit Fotographien vom Tatort sowie Polizeiberichten verglich und dabei auf Widersprüche stieß. Ravanal erstellte dazu einen forensischen Bericht und übermittelte ihn an den zuständigen Richter Carroza. In dem Autopsiebericht von 1973 wurde demnach nicht erwähnt, daß das Austrittsloch der Kugel nicht mit der angeblich benutzten Waffe übereinstimmte. "Die Eigenschaften des Austrittslochs der Kugel stimmen nicht mit einem Schuss aus einer Kriegswaffe überein, wie offiziell behauptet wurde", so Ravanal [2].

Bereits vor drei Jahren war ihm bei der Auswertung der damaligen Obduktionspapiere ein rundes Knochenfragment aufgefallen, das nach seiner Auffassung vom Schuß einer kleinkalibrigen Waffe hergerührt habe. "Das Knochenfragment ist ein Schlüsselelement, die Gutachter haben es trotzdem ausgeklammert", lautete seine Kritik [2] am Vorgehen der jetzigen, international besetzten Untersuchungskommission. Zwei Projektile, aus unterschiedlichen Waffen auf Allende abgefeuert, widersprechen der Selbstmordthese. Ravanal zufolge hätten die internationalen Rechtsmediziner weitere Widersprüche unbeachtet gelassen, so etwa Tatortfotos, auf denen der Leichnam Allendes vom Hals abwärts keinerlei Blutspuren aufweist, was bei einem aus dem Sitzen heraus mit einer Kalaschnikow abgefeuerten Nahschuß "sehr verwunderlich" sei, so Ravanal [2], der vermutet, daß die Schüsse aus einer ganz anderen Position auf Allende abgefeuert worden sein könnten.

Ravanal übte auch Kritik an der Behauptung dieses Gremiums, die AK-47 sei auf Automatik eingestellt gewesen. Dies sei eine nicht zu beweisende Annahme, erklärte der chilenische Rechtsmediziner: "Dazu hätte man die Tatwaffe untersuchen müssen, die ist aber verschwunden." [2] Ravanal zufolge ist die angeblich abschließende und alle Zweifel wissenschaftlich ausräumende Untersuchung "unvollständig". Es habe, so seine Vermutung, eine politische Einflußnahme gegeben. Mit seinen Kollegen geht der Chilene hart ins Gericht. Wären sie korrekt vorgegangen, hätten sie einräumen müssen, "dass ihnen die Beweise für ein endgültiges Urteil fehlen" [2]. Ravanals Ergebnisse und Einwände stimmen mit denen des uruguayischen Gerichtsmediziners Hugo Rodríguez in vielen Punkten überein. Bezeichnenderweise arbeitet die von Ravanal kritisierte internationale Kommission "parallel" zu diesen Experten an derselben Frage, wie Salvador Allende zu Tode gekommen ist.

Zwischen dem internationalen Gremium und Untersuchungsrichter Carroza bestehen Unstimmigkeiten, die die Zweifel an der These vom angeblich zweifelsfrei erwiesenen Selbstmord Allendes abermals verstärken. So hatte die Kommission auf einer Pressekonferenz am 19. Juli ihren Abschlußbericht vorgestellt, demzufolge der Suizid Allendes auf der Grundlage einer vollständigen wissenschaftlichen Analyse erwiesen sei. Einen Tag später, am 20. Juli, erklärte Richter Carroza jedoch, daß noch weitere Untersuchungen anhängig seien und daß unter anderem auch die (allem Anschein entgegen vorheriger Angaben doch aufgetauchte) Tatwaffe noch untersucht werden würde. Bis zum Abschluß dieser weiteren Separat-Ermittlungen werde er, so Richter Carroza, das Gesamtermittlungsverfahren nicht abschließen [7]. Den rund 500 Seiten starken "Abschlußbericht" der internationalen Kommission bezeichnete er lediglich als ein "weiteres Element in den Ermittlungen".

Unterdessen scheint sich die Geschichte zu wiederholen. 1973 hatte die deutsche Presse willfährig die von der Pinochet-Diktatur verbreitete Version vom Selbstmord Salvador Allendes übernommen und verbreitet. Fast vierzig Jahre später geschieht dasselbe noch einmal, obwohl das zur Klärung dieser Frage eingeleitete offizielle Ermittlungsverfahren von der chilenischen Justiz noch gar nicht abgeschlossen wurde. Als im September 1973 der Botschafter des chilenischen Putschregimes in Österreich in der Wiener Hofburg die offizielle Version vom Selbstmord Allendes wiederholte, erklärte der damalige Bundeskanzler Österreichs, Bruno Kreisky: "Die Regierung Chiles wird immer Zweifel darüber annehmen müssen." [1] Dies gilt nach den jüngsten Verlautbarungen aus Santiago de Chile mehr denn je, da sie befürchten lassen, daß aus Gründen politischer Opportunität und womöglich auch internationaler Einflußnahme die Selbstmordthese endgültig durchgesetzt werden soll.

Als im vergangenen Herbst anläßlich des 37. Jahrestages des Militärputsches vom 11. September 1973 rund zehntausend Menschen in Santiago de Chile auf die Straße gingen, um an Salvador Allende und die Unidad Popular zu erinnern, wurde auf der Abschlußkundgebung auf dem Zentralfriedhof auch Kritik an der gegenwärtigen Rechtsregierung von Präsident Sebastián Piñera von der "Partei der Nationalen Erneuerung" laut. Mit dem Milliardär und Geschäftsmann Piñera war zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur ein Politiker der mit Pinochet eng verbundenen Rechtsparteien ins höchste Staatsamt gelangt. Piñeras rechte "Koalition für den Wandel" besteht aus zwei Parteien, der Nationalen Erneuerungspartei sowie der Unabhängigen Demokratischen Union, die beide von politischen Weggefährten Pinochets gegründet worden waren. Sebastián Piñeras Bruder gehörte sogar als Minister der letzten Regierung Pinochets an; er selbst machte in der Zeit der Diktatur sein Vermögen und fungierte noch 1989 als Wahlkampfmanager des ehemaligen Finanzministers Pinochets, Hernan Buchi. Die enge Verbindung zwischen dem Pinochet-Regime und der gegenwärtigen Regierung Piñera läßt sich auch dadurch plausibel machen, daß drei Berater Piñeras zuvor schon Teil des Pinochet-Regimes gewesen waren.

Die Bemühungen, die Pinochet-Diktatur vom Vorwurf des Mordes an Salvador Allende reinzuwaschen, stehen allem Anschein nach in einem direkten Zusammenhang zu einem allgemeinen Rechtsruck in Chile, der auf den Amtsantritt Piñeras zurückzudatieren ist. Im November vergangenen Jahres wurden rund 20.000 Dokumente über die Verwicklung der USA in den Putsch gegen Allende dem Museum der Erinnerung und Menschenrechte in der chilenischen Hauptstadt übergeben. Wie Peter Kornbluh, ein führender Mitarbeiter der George-Washington-Universität, in der US-amerikanischen Hauptstadt anläßlich dessen erklärte, gehe aus den ehemaligen US-Geheimdokumenten eindeutig hervor, daß der damalige US-Außenminister Henry Kissinger die US-Pläne gegen die Regierung Allendes entwickelt habe. Auch sei Kissinger dafür verantwortlich gewesen, daß die USA die Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) wirtschaftlich und militärisch unterstützt habe [8].

Diese Informationen sind alles andere als neu. Gleichwohl könnten diese Enthüllungen, zumal sie auf offiziellen US-Dokumenten beruhen, zu den Bemühungen beigetragen haben, die damaligen Verbrechen zu relativieren. Für Gegner des Putsches wie auch der damit eingeleiteten Diktatur ist die Frage, ob Salvador Allende durch die anrückenden Soldaten ermordet, sich selbst erschossen oder einen "unterstützten Selbstmord" begangen habe, bei dem ein Leibwächter ihm einen Gnadenschuß gegeben haben soll, nachdem er selbst sich schwer verletzt, aber nicht getötet hatte, irrelevant, weil der erste sozialistische Präsident Chiles in jedem Fall im Kampf für seine Sache, den demokratischen Sozialismus, gestorben ist. Wenn die politischen Erben oder gar direkten Weggefährten Pinochets allerdings großen Wert darauf legen, die Selbstmordthese zur alleingültigen Wahrheit zu erklären und sämtliche Zweifel zu eliminieren, ist dies bereits Grund genug, diesen Bestrebungen energisch zu widersprechen.


Anmerkungen

[1] Zitiert aus: 1. September 1973. Eine unvergessliche politische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts - Ein unsterbliches sozialistisches Ideal. Von Luz María De Stéfano de Lenkait, amerika21.de, 12.09.2010,
http://amerika21.de/analyse/13840/11-september-1973

[2] Chiles Ex-Präsident. Die Akte Allende ist geschlossen - endgültig? Nach fast 40 Jahren ist es offiziell: Der chilenische Präsident Salvador Allende tötete sich während des Putsches 1973 selbst. Ein Experte zweifelt. Von Thomas Wagner, ZEIT ONLINE, 22.07.2011,
http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2011-07/allende-selbstmord-gutachten/komplettansicht

[3] Gerichtsmediziner bestätigen Selbstmord Allendes. Internationale Kommission widerspricht ersten Aussagen, die eine Mordthese stützten. Familie des sozialistischen Politikers erleichtert. Von Kristin Schwierz, amerika21.de, 20.07.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/07/38086/allende-selbstmord

[4] Expertenteam stützt These vom Suizid Allendes. Kommission hatte Überreste des Ex-Präsidenten Chiles untersucht. Tausende Fälle politischer Morde müssen noch aufgearbeitet werden. Von Harald Neuber, Telepolis, 21.07.2011,
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150179

[5] Zweifel an Selbstmord Allendes nehmen zu. Internationales Expertenteam exhumiert Leiche und wertet Militärberichts aus dem Jahr 1973 aus. Zwei Einschusslöcher gefunden. Von Kristin Schwierz, amerika21.de, 01.06.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/06/34098/zweifel-selbstmord-allende

[6] Chile - Wie starb Salvador Allende? Neue Funde erschüttern die Legende von den Ereignissen vom 11. September 1973 im Moneda-Palast und dem Märtyrertod des gewählten Präsidenten Chiles. Von Ulrich Achermann, 09.06.2011,
http://www.badische-zeitung.de/ausland-1/wie-starb-salvador-allende--46235065.html

[7] Chile: Richter lässt Ermittlungen wegen Allende-Todes laufen, amerika21.de, 21.07.2011,
http://amerika21.de/meldung/2011/07/38169/allende-ermittlungsverfahren

[8] Dokumente über US-Rolle bei Chile-Putsch in Santiago übergeben, amerika21.de, 18.11.2010,
http://amerika21.de/meldung/2010/11/17046/chile-usa-putsch


27. Juli 2011