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DILJA/1408: Ablenkung - ein willkommener Mord (SB)


Griechenlands Ministerpräsident Samaras präsentiert sich als Retter der Nation



In Griechenland wird schon seit mehreren Jahren durchexerziert, was die Apologeten der mittlerweile auch in der EU dominierenden neoliberalen Doktrin für die ultima ratio der Krisenbewältigung halten. In Zeiten der Krisen, wie die internationalen wirtschaftlichen Ein- und Zusammenbrüche seit 2008 genannt werden, so als wäre erwiesen oder auch nur plausibel zu machen, daß es sich bei ihnen tatsächlich lediglich um temporäre und partielle Unwuchten eines im Kern funktions- und leistungsfähigen Wirtschaftssystems handelt, muß ein von der Zahlungsunfähigkeit bedrohter Staat wie der griechische sparen und sparen, so das neoliberale Credo. Wäre diese Rezeptur wirksam und das von der griechischen Regierung gegebene Versprechen, daß das Land und seine Bevölkerung nach einer solchen Roßkur wieder besseren Zeiten entgegensehen könne, etwas anderes als ein Manöver, um die vielfältigen Proteste einzuhegen und zu befrieden, hätte sich die in Aussicht gestellte Besserung doch wohl bereits einstellen müssen.

Bekanntlich befindet sich die Athener Regierung in der Zwangslage, von den finanziellen Zuwendungen der sogenannten Troika, bestehend aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank, in ihrem eigenen politischen Überleben so abhängig zu sein, daß sie jede ihr gestellte Bedingung akzeptieren zu müssen glaubt. Tatsächlich geht der dem Land aufgezwungene Sparkurs längst auch ans Eingemachte des Staatsapparates, dessen Bedienstete vor einer neuen Entlassungswelle stehen. In wirtschaftlichen Zahlen ausgedrückt, die kaum in der Lage sind, die große Not und soziale Verelendung angemessen zur Sprache zu bringen, hat die bisherige und weiterhin fortgesetzte Sparpolitik dazu geführt, daß die Arbeitslosigkeit, die vor Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 nach Angaben des griechischen Statistikamtes Elstat noch bei 7,3 Prozent gelegen hatte, im Juni dieses Jahres 27,9 Prozent erreicht. Unter Jüngeren ist die Beschäftigungs- und damit Einkommenslosigkeit besonders hoch, gelten doch sechs von zehn jungen Menschen als arbeitslos.

Elstat meldete vor einiger Zeit auch, daß die Zahl der Selbstmorde in Griechenland von 2007 bis 2011 um 45,4 Prozent gestiegen sei und mit 477 Suiziden im Jahr 2011 den höchsten Stand seit 50 Jahren erreicht habe, was keineswegs ausschließt, daß das tatsächliche Ausmaß der Selbsttötungen noch sehr viel größer sein könnte. Innerhalb von nur drei Jahren habe sich den Angaben zufolge die Selbstmordrate von 2,8 auf 5,0 pro 100.000 Einwohner fast verdoppelt. Wenngleich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes und der massiv angewachsenen Zahl von Menschen, die ihr Leben von eigener Hand beenden, nicht als wissenschaftlich erwiesen gelten kann, liegt die Bewertung, darin ein Indiz für die katastrophalen Folgen der wirtschaftlichen wie sozialen Entwicklung für die von ihr betroffenen Menschen zu sehen, doch auf der Hand. Die erzwungenen Sparmaßnahmen haben zu einer so gravierenden Verschlechterung der Gesundheitsversorgung geführt, daß die Geburtenrate in den letzten vier Jahren um zehn Prozent zurückgegangen und die Zahl der Totgeburten um fast 22 Prozent angestiegen ist. Christina Papanikolaou vom griechischen Gesundheitsministerium bezeichnet diese Entwicklung als "eine natürliche Folge der harten Sparmaßnahmen und der Rekordarbeitslosigkeit". Viele schwangere Frauen erhielten keinerlei Unterstützung und könnten die Vorsorge- und Behandlungskosten nicht aufbringen.

In der vergangenen Woche weiteten die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ihre Streiks im Protest gegen die neue Kündigungswelle auf viele Bereiche aus. Bestreikt wurden Behörden, Schulen und Hochschulen, sogar die Gerichte des Landes und Krankenhäuser, die lediglich einen Notdienst aufrechterhielten. Längst gibt es keine Bereiche innerhalb des Staatsapparates mehr, die von der rigiden Kürzungspolitik ausgenommen geblieben wären, und so wächst seit langem durch alle sozialen Schichten und Berufsgruppen hindurch eine Protestfront gegenüber dem von der Regierung um Ministerpräsident Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia in Pflichterfüllung der ihm von der Troika auferlegten Bedingungen durchgesetzten Diktat. Einhellig verankert ist sie in der Bevölkerung keineswegs, suchen offenbar nach wie vor viele Menschen ihr bisheriges Auskommen zu sichern oder eine Verbesserung ihrer Lage zu erwirtschaften in fortgesetzter Gefolgschaft und Akzeptanz der Regierungspolitik.

Mehr und mehr von sich reden machen die Kräfte der sogenannten extremen Rechten, die, organisiert in der Partei der "Goldenen Morgendämmerung" (Chrysi Avgi), im griechischen Parlament vertreten sind. In der Nacht zum 18. September verübte in Keratsini einer ihrer Anhänger einen Mordanschlag auf den 34jährigen Hip-Hop-Musiker und Unterstützer der Linkspartei Antarsia, den der 45jährige durch zwei Stiche in Herz und Bauch getötet hat. Laut Zeugenaussagen sollen sich 30 bis 40 Personen im Look der Chrysi Avgi zusammengetan und den bekannten Musiker angegriffen haben. All dies geschah in Sichtweite von sechs Beamten einer polizeilichen Motorradstreife, die sich, wie sie gegenüber der Freundin des Getöteten erklärt haben sollen, angesichts der Überzahl der Angreifer nicht einzugreifen trauten. Das Opfer verblutete noch am Tatort und hätte möglicherweise gerettet werden können, hätte sich der Rettungsdienst nicht um 30 bis 40 Minuten verspätet.

Die Parteiführung von Chrysi Avgi weist jede Verantwortung für diese oder auch frühere, von ihren Anhängern gegen Migranten verübten Gewalttaten weit von sich und droht allen, die sie einer Mitschuld an dem jüngsten Mord bezichtigen, mit Verleumdungsklagen. Erst eine knappe Woche zuvor war es in der Hafenstadt Piräus zu einem von Angehörigen der extremen Rechten verübten Angriff mit Eisenstangen auf plakatierende Anhänger einer kommunistischen Jugendorganisation gekommen. Die Wut über den jüngsten Mord kochte so hoch, daß es zu tagelangen Protesten und Straßenschlachten kam, gegen die die Polizei zum Teil mit Gewalt vorging. Gegen den Tatverdächtigen, der sich gegenüber der Polizei nicht nur zu der Mordtat, sondern auch zu seiner Zugehörigkeit zu Chrysi Avgi bekannt haben soll, wurde inzwischen Haftbefehl erlassen. Auch nahmen die Behörden acht weitere Verdächtige aus dem Umfeld der rechtsextremen Partei fest.

Die landesweiten Proteste gegen den Mord und die Gewalt von rechts übertrafen in der vergangenen Woche in ihrer Intensität den Streik im öffentlichen Dienst. Tausende Menschen nahmen an Demonstrationen teil, die sich gegen die griechischen Neofaschisten wie auch die Sparpolitik der Regierung gleichermaßen richteten. Dimitris Papadimoulis, der parlamentarische Sprecher des linken Wahlbündnisses Syriza, dessen Vorsitzender Alexis Tsipras sich in der vergangenen Woche in Deutschland zur Unterstützung der hiesigen Linkspartei im Bundestagswahlkampf aufhielt, forderte eine harte Bestrafung der Täter mit den Worten: "Sie sollen im Gefängnis verrotten." Wie Papadimoulis einem Bericht der jungen Welt zufolge erklärte, ist seine Partei der Überzeugung, daß hinter den Angriffen der Faschisten ein "organisierter Plan zur Destabilisierung der Demokratie" stehe und fragte, wer "die mörderischen Hände der Faschisten bewaffnet". [1]

Die Regierung Saramas wußte unterdessen die Gunst der Stunde zu nutzen und kritisierte ihrerseits die extreme Rechte aufs Schärfste. Der Ministerpräsident erklärte noch am Mittwoch vergangener Woche im Fernsehen, die Regierung werde es den Nachkommen der Nazis nicht erlauben, die Gesellschaft zu vergiften. Makis Voridis, Sprecher der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia, der selbst in einer rechtsradikalen Organisation seine politischen Wurzeln hat, verurteilte den Mord an dem bekannten Rapper. Die an der Regierung mitbeteiligte sozialdemokratische PASOK forderte, die rechte Partei "Goldene Morgendämmerung" als kriminelle Vereinigung zu behandeln. Inzwischen erwägt die Regierung, wie es hieß, ein Verbot der Partei, deren Umfragewerte bei 13 Prozent liegen und die über 18 Sitze im griechischen Parlament verfügt.

Justizminister Nikos Dendias propagiert angesichts des jüngsten Mordes inzwischen so etwas wie den Schulterschluß aller Demokraten. "Ich rufe alle demokratischen Kräfte auf, zusammen zu entscheiden, dass der Staat und die Gesellschaft keine Taten mehr akzeptieren, die die Demokratie untergraben", erklärte er und kündigte an, mit allen demokratischen Parteien zu beraten, wie die Partei der Goldenen Morgendämmerung zu einer verbrecherischen Organisation erklärt und verboten werden könne. [2] Die linken Parteien sind von dieser Idee nicht unbedingt begeistert, da sie befürchten müssen, im nächsten oder übernächsten Schritt ebenfalls verboten zu werden. Der Mord eines Faschisten ist für die Regierung Samaras von großem Nutzen, da sich nun die Gegner und Gegnerinnen des von ihr so rücksichtslos durchgesetzten Sparkurses gegen die ihnen "von rechts" drohende Gefahr wappnen müssen, während der Ministerpräsident dies als Gelegenheit ergreift, sich als Beschützer der Schwachen zu präsentieren, selbstverständlich ohne in Erwägung zu ziehen, in welchem Ausmaß die Politik seiner Regierung die Gesellschaft Griechenlands "vergiftet".


Fußnoten:

[1] Nazimord in Piräus. Von Heike Schrader, Athen. Junge Welt, 19.09.2013, S. 1

[2] Griechen protestieren gegen Rechtsextreme und Entlassungen. Zeit online, 18.09.2013
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-09/proteste-athen-goldene-morgenroete


23. September 2013