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DILJA/1412: Die Ukraine, fremdbewegt? (SB)


Neuauflage der "Orangenen Revolution" in der Ukraine?



Wie sehr sich die Darstellung politischer Konflikte in Politik, Medien und Öffentlichkeit danach richtet, welche Interessen, Standpunkte und Absichten ihr zugrundeliegen, läßt sich in diesen Tagen anhand der aktuellen Krise in der Ukraine besonders anschaulich studieren. Unter Staaten, die zueinander in einem kooperativen Verhältnis stehen, weil in ihnen dieselbe neoliberale Gesellschaftsordnung vorherrscht, besteht, ohne daß dies der weiteren Erwähnung oder Begründung wert wäre, eine ebenso stille wie wirksame Übereinkunft. Die Sicherheitsorgane dieser Staaten sind quasi "natürliche" Verbündete, sollte es um die Bekämpfung von Armutsprotesten und Hungeraufständen gehen. Demonstrationen, die dem linken Spektrum zuzuordnen sind, geraten, wie zuletzt in Hamburg geschehen, als Tausende gegen die drohende Räumung der Roten Flora und die Flüchtlingspolitik des Senats auf die Straße gingen, schon ins Visier einer repressiv agierenden Staatsmacht, noch bevor sie überhaupt angefangen haben.

Kommt es dann zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, werden die Demonstrierenden, noch bevor der tatsächliche Ablauf der Ereignisse von unabhängiger Seite rekonstruiert werden konnte, zu Staatsfeinden erklärt, wie um die präventiv über die Hamburger Innenstadt verhängte und besondere polizeiliche Zugriffsrechte eröffnende Gefahrenzone nachträglich zu legitimieren. Die Berichterstattung in der staatsnahen Presse trägt dazu bei, ein Zerrbild dämonisierter Randalierer zu befüttern, weshalb zusätzliche repressive Maßnahmen, die auf eine faktische Aushöhlung des Demonstrationsrechts hinauslaufen, als angemessene und erforderliche Reaktionen zum Schutz von Staat und Gesellschaft erscheinen sollen.

Wer all dies ernst genommen hat und annimmt, die jüngsten Ereignisse in Hamburg seien zu einer Bedrohung für den Staat Bundesrepublik Deutschland entufert, wird sich verwundert die Augen reiben angesichts der Bilder und Berichte über die schweren Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen Demonstranten und den Sicherheitsbehörden in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, und der offiziellen Reaktionen in der westlichen Welt, in EU, USA und NATO. Offenbar hat Präsident Viktor Janukowitsch mit seiner am 21. November vergangenen Jahres getroffenen Entscheidung, das mit der Europäischen Union nach jahrelangen Verhandlungen getroffene Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen und stattdessen einer stärkeren Kooperation mit Rußland den Vorzug zu geben, eine rote Linie überschritten.

Aus westlicher Sicht kommt gerade der Ukraine ein hoher globalstrategischer Wert zu, gilt doch die ehemalige Sowjetrepublik als ein besonders enger und traditioneller Verbündeter Rußlands. Schon 2004 hatte das Land eine sogenannte "Orangene Revolution" erlebt, wie Umsturz- und Destabilisierungskampagnen genannt werden, die nicht ausschließlich auf dem Unmut und der Protest- und Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung fußen, sondern, wenn auch auf eher verschlungenen Wegen, von ausländischer Seite angestachelt und gefördert werden mit der Absicht, eine inakzeptable Regierung zu stürzen, ohne selbst als ein staatlicher Akteur, der sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischt, offen in Erscheinung zu treten.

Der als pro-westlich geltende Viktor Juschtschenko war 2004 ins Präsidentenamt gespült worden. Dieser aus Sicht der USA, der Europäischen Union und der NATO, die das Interesse an der Ost-Erweiterung ihrer Einflußsphären bzw. der Einkesselung Rußlands miteinander teilen, erfreuliche Machtwechsel währte nicht lange. Juschtschenko mußte dem jetzigen und vorherigen Präsidenten Viktor Janukowitsch weichen, als dieser 2010 die Präsidentschaftswahlen klar gewinnen konnte. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, es könnte sich bei den aktuellen Ereignisse um eine, wenn auch modifizierte Neuauflage der "Orangenen Revolution" handelt, keineswegs abwegig. Die Haltung der westlichen Staaten läßt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Sie kritisiert, mehr oder minder drastisch, Präsident Janukowitsch und die Regierung um Ministerpräsident Nikolai Asarow und legt eine bemerkenswerte Toleranz und Gelassenheit an den Tag gegenüber Demonstranten, die, würden sie in vergleichbarer Weise in einem der führenden EU-Staaten auftreten, als gewaltbereite Störer der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bezeichnet und mit repressiven Maßnahmen überzogen worden wären.

Am Mittwoch erklärte EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso: "Wir sind schockiert über die jüngsten Nachrichten aus der Ukraine, über den Tod von Demonstranten." Barroso nahm die Regierung in Kiew in die Verantwortung und forderte sie auf, in dieser Krise auf Deeskalation hinzuarbeiten. [1] An die keineswegs homogene "Opposition" richtete er einen derartigen Appell nicht. Seine Ankündigung, die EU würde ihre Beziehung zur Ukraine überdenken, sollte es dort eine "systematische Verletzung von Menschenrechten" geben, ist als politische Drohung und Parteinahme kaum mißzuverstehen. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), zog bereits "wegen des Blutvergießens" öffentlich Sanktionen gegen die Ukraine in Erwägung. [2] Vitali Klitschko, der als Oppositionspolitiker aufgebaut wurde und über enge Verbindungen zu bundesdeutschen Stellen verfügen dürfte, schrieb in einer vielgelesenen deutschen Tageszeitung: "Janukowitsch hat die größtmögliche Schande über die Ukraine gebracht. An seinen Händen klebt jetzt Blut." [2] Einen Tag später beschrieb die Süddeutsche Zeitung die Ereignisse folgendermaßen [3]:

Der seit Wochen friedliche Machtkampf in dem Land war am Mittwoch in brutale Gewalt umgeschlagen. Hunderte Demonstranten wurden bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften verletzt. Die Opposition sprach von drei bis sieben toten Regierungsgegnern. Zwei Menschen starben nach Behördenangaben, sie wurden erschossen. Einen offiziellen Schießbefehl gab es nicht. Wer die tödlichen Schüsse abfeuerte, blieb zunächst unklar.

Nach Angaben des ARD-Korrespondenten Udo Lielischkies sollen die Besitzer von Waffen - allein in Kiew soll es der Vereinigung der Waffenbesitzer zufolge rund 400.000 registrierte Schußwaffen geben - von Demonstranten aufgefordert worden sein, auf den Maidan zu kommen, um sich der von den Demonstranten befürchteten Räumung zu widersetzen. Präsident Janukowitsch reagierte auf die Zuspitzungen mit einer Doppelstrategie, führte zum einen immer wieder Gespräche mit Oppositionsführern wie Klitschko und anderen, und verschärfte zum anderen, wie es wohl jede andere Staatsführung auch getan hätte, die Befugnisse des Repressionsapparates. So wurde die Polizei in Situationen, deren Bedingungen dem deutschen Landfriedensbruch ähneln, zum Schußwaffengebrauch ermächtigt.

Klitschko agierte immer wieder als Anheizer und tat zugleich so, als würde er zu Besonnenheit und Deeskalation aufrufen. Am Mittwoch erklärte er: "Wenn der Präsident uns morgen nicht entgegenkommt, werden wir unsere Kräfte bündeln und zum Angriff übergehen." [1] Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA NOVOSTI hat die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine auf ihrer Webseite am Mittwoch bekanntgegeben, daß "die Ereignisse der letzten Stunden in Kiew von einer zunehmenden Aggression von Vertretern extremistisch eingestellter Gruppierungen und anderer Vereinigungen gegenüber den Rechtsschutzorganen und friedlichen Bürgern [zeugen]" [4].

Demnach hätten Unbekannte in Wohnheimen Pogrome begangen, Türen und Fenster eingeschlagen und Menschen entführt. Die mit Schlagstöcken und Metallschlägern bewaffneten Extremisten schlendern durch Straßen der Stadt, greifen friedliche Bürger an und stecken Autos in Brand, so die Generalstaatsanwaltschaft. [4] So etwas wird in der westlichen Presse nicht grundsätzlich in Abrede gestellt. Der "Ukraine-Experte" Wilfried Jilge bestätigte beispielsweise am Donnerstag im Deutschlandfunk, daß seit längerem bezahlte Schlägertrupps unterwegs seien, um Oppositionelle und Journalisten einzuschüchtern und fügte ohne nähere Angaben oder Belege hinzu, daß dies "mit Billigung der Sicherheitskräfte" geschähe. [5] Welch einen Nutzen die Regierung in Kiew aus der ihr damit unterstellten Strategie, die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf diese Weise anzuheizen, wenn nicht hervorzurufen, ziehen sollte, ist nicht erkennbar, da sie es ist, die von der Opposition und vor allem auch im westlichen Ausland für die bislang sieben Toten und hunderten Verletzten verantwortlich gemacht wird.

Die ambivalente Haltung der EU, die in der Ukraine völlig andere Maßstäbe anlegt, wenn es um gewaltsame Eskalationen bei Kundgebungen und Demonstrationen geht, zeigt sich auch im Umgang mit Oleh Tjahnibok, dem Chef der nationalistischen Swoboda-Partei, der neben Klitschko und Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei als gemäßigter Oppositionsführer gilt. Von seiner Partei wurde in einer Resolution des Europaparlaments vom 13. Dezember 2012 erklärt, sie stehe für "rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche Auffassungen" [5]. Die Partei Swoboda gehört dem "rechten Sektor" an, einem Zusammenschluß rechter und nationalistischer Gruppen, der innerhalb der Demonstrierenden auf dem Unabhängigkeitsplatz eine dominierende Rolle eingenommen hat. In einer am Montag veröffentlichten Erklärung dieses Zusammenschlusses wurden die Oppositionspolitiker aufgefordert, nicht mit Vertretern des "kriminellen Regimes", das nur die "Sprache der Stärke" verstehe, zu verhandeln. [7]

All dies ficht die deutsche Kanzlerin nicht an. Sie warnte Präsident Janukowitsch davor, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen. "Wir erwarten von der ukrainischen Regierung, dass sie die demokratischen Freiheiten - insbesondere die Möglichkeit zu friedlichen Demonstrationen - sichert, dass sie Leben schützt, dass Gewaltanwendung nicht stattfindet", so Merkel am Donnerstag. [6] Auch wurde verlautbart, daß die deutsche Bundesregierung "aufs Äußerste besorgt und empört" darüber sei, wie in der Ukraine Gesetze, die Grundfreiheiten in Frage stellten, "durchgepeitscht" werden würden.

Tatsächlich hatte die Regierung in Kiew im Eilverfahren die Versammlungsgesetze verschärft. Diese Verschärfungen beinhalten beispielsweise, daß das ungenehmigte Aufbauen von Bühnen und Zelten auf öffentlichen Plätzen mit 15 Tagen Haft bestraft werden kann. Wer öffentliche Gebäude blockiert, riskiert sogar bis zu fünf Jahre Haft. [8] Wenn dies Kriterien sind, die den Übergang zu einer Diktatur, wie der Ukraine bereits vorgeworfen wurde, markieren, wäre es aufschlußreich zu untersuchen, ob es in den Staaten, deren Regierungen diese Kritik erheben, nicht bereits ähnlich zugespitzte Vorschriften gibt. Vermummte Demonstranten sind in der Ukraine nun mit Haft- oder Geldstrafen bedroht. Die Rücknahme dieser Gesetze gehörte wie der Rücktritt Janukowitschs zu den von Klitschko erhobenen Forderungen. Im Gespräch mit den drei Oppositionspolitikern hat der Präsident bereits signalisiert, daß eine Rücknahme dieses Gesetzespakets möglich sei.

Wer in die gegen Janukowitsch erhobene Kritik, er habe durch das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte seine mangelnde Demokratiefähigkeit unter Beweis gestellt [9], einstimmt, müßte sich konsequenterweise im Umkehrschluß fragen lassen, wie es in einer Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise zu präventiv verhängten und das Demonstrationsrecht aushöhlenden polizeilichen Sonderrechten kommen konnte wie unlängst in Hamburg geschehen, als kurzerhand der gesamte Innenstadtbereich zur "Gefahrenzone" erklärt wurde.

Zu einem Rücktritt, was wohl die Erfüllung der Minimalforderung nicht unbedingt der in der Ukraine protestierenden Menschen, sondern vor allem auch der westlichen Staaten wäre, erklärte sich Janukowitsch bis dato nicht bereit. Und da unterhalb dieser Schwelle, die das Land wieder auf einen stärkeren Pro-EU-Kurs bringen würde, an einer Deeskalation der angespannten Situation, die sogar den Ausbruch eines Bürgerkriegs befürchten läßt, von dieser Seite aus kein Interesse bestehen kann, wird es wohl auch so bald nicht zu einer Entspannung und Deeskalation der Lage kommen können - immer vorausgesetzt, die Annahme, daß es sich bei der aktuellen Krise unter Beteiligung der äußersten Rechten um eine Neuauflage der "Orangenen Revolution" von 2004 handeln würde, träfe zu.


Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-maidan104.html

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine-merkel-warnt-janukowitsch-vor-weiterem-blutvergiessen-12765105.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/proteste-in-der-ukraine-ultimatum-fuer-janukowitsch-1.1869724

[4] http://de.ria.ru/politics/20140122/267686741.html

[5] http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-nationalisten100.html

[6] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-01/kiew-ukraine-news/komplettansicht

[7] http://www.heise.de/tp/artikel/40/40828/

[8] http://www.heise.de/tp/artikel/40/40805/

[9] http://www.dw.de/kommentar-die-ukraine-nicht-sich-selbst-überlassen/a-17380309


24. Januar 2014