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DILJA/1414: Die rechte Karte im Spiel? (SB)


Die Ukraine - Prototyp eines künftigen EU-Protektorats?



Über die aktuelle Lage in der Ukraine kursieren derzeit zwei einander in zentralen Punkten diametral widersprechende Wahrheiten. Die westliche Lesart, wie sie auch in der Europäischen Union in Politik, Öffentlichkeit und staatsnahen Medien bevorzugt und gepflegt wird, läßt keine Zweifel gelten an einer Deutung der jüngsten Ereignisse, derzufolge der aus dieser Sicht ehemalige Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, in einem nach demokratischen Kriterien nicht zu beanstandenden Verfahren von der Obersten Rada, dem Parlament der Ukraine, am 22. Februar mit 328 zu null Stimmen seines Amtes enthoben wurde. Zwei Tage später erklärte Olivier Bailly, Sprecher der EU-Kommission, daß die EU die Entscheidungen des ukrainischen Parlaments anerkenne, Janukowitsch ab- und ein Übergangskabinett einzusetzen; die Rada sei, so Bailly, ein "Garant von Demokratie und Gesetzlichkeit". [1]

Auch nach Auffassung der US-amerikanischen Regierung ist Janukowitsch nicht länger legitimer Präsident der Ukraine. "Janukowitsch hat seine Legitimität großenteils verloren, als er Streitkräfte gegen seine Bürger mobilisierte und Gewalt gegen friedliche Demonstranten anwandte, obwohl er einst demokratisch gewählt worden war", so eine Stellungnahme aus dem Weißen Haus. [2] Die Sicherheitsberaterin Präsident Obamas, Susan Rice, widersprach insbesondere der Position der russischen Regierung, die die Entmachtung Janukowitschs als einen Staatsstreich bewertet. Diese Einschätzung stimmt mit der des abgesetzten Präsidenten überein. Janukowitsch hatte in seiner letzten öffentlichen Äußerung, einem am vergangenen Samstag mit Journalisten in Charkow geführten Interview, erklärt, er sei der legitim gewählte Präsident und werde nicht zurücktreten. In der Ukraine gäbe es seiner Auffassung nach alle Anzeichen eines Staatsstreichs, weshalb die Entscheidungen der Obersten Rada illegitim seien. [3]

Bekanntlich war den umstrittenen Entscheidungen des ukrainischen Parlaments ein unter Vermittlung der EU am Freitag zwischen Regierung und Opposition geschlossenes Abkommen, mit dem die in der vergangenen Woche extrem eskalierte Lage hätte beruhigt werden sollen, vorangegangen. Die Vereinbarung wurde am Nachmittag von Janukowitsch sowie den drei Anführern der im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - Vitali Klitschko von der Partei Udar, Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei Julia Timoschenkos und Oleh Tjahnibok von der Partei Swoboda - sowie den EU-Emissären, den Außenministern Deutschlands und Polens, Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski, unterzeichnet. Einzig Wladimir Lukin, der an den Verhandlungen beteiligte Vertreter Rußlands, unterschrieb das Abkommen nicht, weil seiner Auffassung nach zu viele Fragen offen geblieben seien. Außerdem vertrat die russische Regierung die Auffassung, daß der Konflikt vor allem durch die militanten Regierungsgegner verursacht worden sei.

Konkret wurden in dem Abkommen vorgezogene Präsidentschaftswahlen noch in diesem Jahr, die Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit innerhalb von zehn Tagen sowie die Rückkehr zu der Verfassung von 2004 vereinbart, womit wesentliche Forderungen der Opposition erfüllt wurden. Desweiteren war in den Gesprächen eine dritte Amnestie vereinbart worden. Die Gewalttaten der zurückliegenden Tage, in deren Verlauf über 80 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt worden waren, sollten mit Hilfe des Europarats untersucht werden. Die Regierung erklärte ihre Bereitschaft, auf die Ausrufung des Notstands zu verzichten. Beide Seiten sollten umgehend alle Gewalttätigkeiten einstellen, was für das Lager der Regierungsgegner auch bedeutet hätte, sich aus allen besetzten Regierungsgebäuden zurückzuziehen und sämtliche Blockaden abzubauen. Das Tragen illegaler Waffen sollte verboten werden. [4]

Im Parlament wurde am darauffolgenden Tag mit der Umsetzung dieser Beschlüsse begonnen, wovon auch die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko profitieren sollte, deren Freilassung noch am selben Tag per Gesetz beschlossen und sofort vollzogen wurde. Auf dem Maidan jedoch, dem Zentrum der Umsturzbewegung, wurde das zwischen (parlamentarischer) Opposition und Regierung geschlossene Friedensabkommen, wie es hieß, nicht akzeptiert. Dabei hatten Steinmeier und sein polnischer Amtskollege Sikorski am Freitagvormittag noch mit Vertretern des sogenannten Maidan-Rates, dem verschiedene, auch als radikal geltende Regierungsgegner angehören, verhandelt und einer Meldung der Tagesschau zufolge [4] deren Zustimmung erlangt.

Der die auf dem Maidan versammelten und protestierenden Menschen letzten Endes offenbar dominierende "Rechte Sektor" lehnte jedoch jeden Kompromiß mit Janukowitsch ab. Ihr Anführer, Dimitri Jarosch, forderte ein Verbot der Partei der Regionen Janukowitschs sowie der Kommunistischen Partei und erklärte, die "nationale Revolution" würde weitergehen und erst mit der vollständigen Beseitigung des Besatzungsregimes und der Errichtung eines ukrainischen Staates mit einem umfassenden nationalen Regierungssystem enden. [5] Und obwohl diese Positionen mit dem unter Beteiligung der EU ausgehandelten Kompromiß nicht übereinstimmten, stellten sich die westlichen Emissäre nicht gegen den Maidan. Offenbar wollten sie sich nicht den Zorn der dort versammelten Kämpfer zuziehen, die Vitali Klitschko schon deshalb ausbuhten, weil er dem ihnen so verhaßten, inzwischen gestürzten Präsidenten die Hand gereicht hatte.

Nach Einschätzungen der deutschen Tageszeitung "Die Welt" vom Tag des Umsturzes handelt es sich bei dem Rechten Sektor um eine "informelle Vereinigung von rechtsradikalen und neofaschistischen Splittergruppen". Diese "paramilitärische Organisation" sei in Kiew erstmals bei den Protesten Ende November in Erscheinung getreten. Mit etwa einhundert Kämpfern, ausgestattet mit Tarnfleckenuniformen, Helmen und Skimasken, würde sie an vorderster Front agieren. Nach eigenen Angaben verfüge der Rechte Sektor in der gesamten Ukraine über ein Mobilisierungspotential von 5000 Menschen. Ihr Anführer Dimitri Jarosch würde offen zugeben, über Schußwaffen zu verfügen, und zwar genug, "um das ganze Land zu verteidigen". [6]

Zur politischen Einschätzung dieser Organisation wußte die konservative deutsche Zeitung zu berichten, daß sich der Rechte Sektor "in der Tradition ukrainischer Partisanen, die etwa während des Zweiten Weltkriegs immer wieder sowohl gegen die Besatzer aus Nazi-Deutschland als auch gegen die sowjetische Armee gekämpft hatten", sähe. Ihr Ziel sei eine "nationale Revolution", so hieß es auch hier, und die Beseitigung der "Überreste des sowjetischen Machtapparats"; die Mitglieder lehnten "liberale und demokratische Werte" ab. [6] Von einem ihrer Anführer soll das "Credo" kursieren, er kämpfe "so lange gegen Kommunisten, Juden und Russen, wie Blut in ihren Adern fließt" [7].

Während der Tage der Entmachtung Janukowitschs waren im westlichen Ausland keine Worte der Kritik an dieser schwerlich als demokratisch zu bezeichnenden Organisation zu vernehmen. Die Übergänge zur parlamentarischen Opposition scheinen zudem fließend zu sein. Einer der Verhandlungsführer und Mitunterzeichner des Friedensabkommens, Oleh Tjahnibok von der Partei Swoboda, soll nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA NOVOSTI am Montag eine gesetzliche Regelung für den freien Schußwaffengebrauch gefordert haben: "Ich rufe alle Fraktionen zur Mitarbeit an einem Gesetzentwurf auf, der den Bürgern der Ukraine einen freien Kauf und Besitz von blanken und Schusswaffen erlaubt." [8] Am vergangenen Donnerstag hatte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier es nicht vermieden, sich mit Tjahnibok zu zeigen.

Am Samstag hatten irreguläre Milizen den Präsidentenpalast in Kiew unter ihre Kontrolle gebracht, nachdem Präsident Janukowitsch sich in der Nacht zuvor gezwungen gesehen hatte, seinen Amtssitz und die Hauptstadt zu verlassen. Die in Kiew in diesen Tagen und Stunden herrschenden Verhältnisse veranlaßten den in Moskau tätigen freien Korrespondenten Ulrich Heyden zu der Einschätzung, daß die Werchowna Rada, also das ukrainische Parlament, "unter den Bedingungen des Terrors und der Drohung mit Waffen" arbeite, weshalb ihre in dieser Situation angenommenen Entscheidungen "Zweifel hinsichtlich der Legitimität und der Gesetzlichkeit" weckten. [9]

Weder in Brüssel noch in Berlin wurden unterdessen Zweifel dieser Art formuliert. In der deutschen Hauptstadt gilt dem Handelsblatt zufolge der Konflikt in der Ukraine vielmehr als "Testfall" für eine neue europäische Außenpolitik, "die sich einmischt, Risiken eingeht und nicht wegguckt" [7] Im Wallstreet Journal wird dies folgendermaßen gedeutet [10]:

Gewalteskalation als Testfall für die EU
Die ukrainischen Oppositionsführer stehen in regelmäßigem Kontakt mit den westlichen Hauptstädten, aber sie haben nur begrenzten Einfluss auf die zunehmend gewalttätigen Demonstranten, die hinter den Barrikaden in den Straßen Kiews stehen.
Aber mit der eskalierenden Gewalt wird der Konflikt nun ein Testfall für die Fähigkeit der EU, eine koordinierte Außenpolitik zu betreiben - ein Test, der bisher auch nach Angaben von US-Politikern nicht erbracht wurde.

Die neue, nicht unwesentlich von der deutschen Bundesregierung bestimmte Außenpolitik der EU steht allem Anschein nach in der Ukraine im wahrsten Wortsinn vor ihrer Feuertaufe. Nachdem die "Orangene Revolution", wie die vom Westen unterstützte Umsturzbewegung genannt wird, die im Jahre 2004 von Erfolg gekrönt gewesen zu sein schien, als Janukowitsch sein durch seinen Wahlerfolg errungenes Präsidentenamt nach Manipulationsvorwürfen und Straßenprotesten zugunsten von Viktor Juschtschenko aufzugeben gezwungen werden konnte, war 2010 mit dem erneuten Wahlsieg Janukowitschs Ernüchterung erfolgt. Ohne eine Beteiligung der Rechten, um nicht zu sagen einer extremen Rechten, so könnte das damalige Fazit gelautet haben, sei ein Machtwechsel zugunsten einer EU- bzw. US-genehmen Regierung in Kiew auf Dauer nicht zu realisieren.

Da der auf dem Maidan und im ganzen Land aktive "Rechte Sektor" nach den Kriterien der EU keineswegs als demokratischer Partner apostrophiert werden kann, sind die Verantwortlichen nach vollzogenem Umsturz nun darauf bedacht, den politisch erforderlichen Abstand zu verdeutlichen, wie um etwaigen Vermutungen, westliche Staaten hätten die "neofaschistischen" Milizen (Welt) womöglich gewähren lassen und für ihre Zwecke instrumentalisiert, schon im Vorwege entgegenzutreten. Wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn erklärte, hält es die EU für erforderlich, dem "Extremismus" in der Ukraine Einhalt zu gebieten. "Wir in der EU dürfen die Extremisten nicht unterstützen", erklärte er am Dienstag nach einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Und: "Gegen alle extremistischen Kräfte muss man ankämpfen, darunter auch in der Ukraine. Das ist sehr wichtig. Europa weiß, was das ist." [11]

Somit erweist sich die seitens westlicher Medien bereits vorgenommene Einschätzung der bewaffneten ukrainischen Straßenkämpfer als paramilitärische oder auch neofaschistische Milizen durchaus als nützlich. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine scheinen keineswegs nur als Testfall für die neue EU-Außenpolitik zu fungieren. Sollte eine Regierung der nationalen Einheit unter Einbeziehung der Rechten gebildet werden, könnte die Ukraine, so mit ihrer Transformation zu einem prowestlichen Regime auch der seit langem geplante EU-Beitritt vollzogen wird, zu einem Prototyp eines EU-Protektorats auch für weitere ehemalige Sowjetrepubliken ausgebaut werden mit eindeutig antikommunistischen und nationalistischen Statthaltern, von denen sich die Verantwortlichen in Brüssel und Berlin nach Bedarf distanzieren können.


Fußnoten:

[1] http://de.ria.ru/politics/20140224/267908593.html

[2] http://de.ria.ru/zeitungen/20140225/267915580.html

[3] http://de.ria.ru/politics/20140224/267908107.html

[4] http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine1042.html

[5] http://www.heise.de/tp/artikel/41/41067/

[6] http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/thema_nt/article125103098/Die-radikale-ukrainische-Gruppe-Rechter-Sektor.html

[7] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58806

[8] http://de.ria.ru/politics/20140224/267908072.html

[9] http://www.heise.de/tp/blogs/8/155903

[10] http://www.wsj.de/article/SB10001424052702304275304579392702723178072.html

[11] http://de.ria.ru/politics/20140225/267914941.html


25. Februar 2014