Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


DILJA/1428: G20 - Der Ruf nach Staat und Ordnung ... (SB)



Wer sich anhand von Tickermeldungen, die während des G20-Gipfels zeitnah zu den Ereignissen in Hamburg veröffentlicht wurden, ein realistisches Bild zu machen suchte, kam kaum umhin anzunehmen, daß die Hansestadt am Rande des Bürgerkriegs stehen würde. 20.000 Polizisten und mehr waren aufgeboten worden, um das Treffen der Staats- und Regierungschefs zu sichern, doch binnen kürzester Zeit schien die Situation vollends außer Kontrolle geraten zu sein. Die Sicherheitsbehörden wußten offenbar schon am ersten Gipfeltag nicht mehr, ob sie die Lage auf Dauer im Griff behalten könnten. Augenzeugenvideos zeigten Gewaltorgien vermummter Chaoten, der Westen Hamburgs gleiche einem Bürgerkriegsgebiet, die Polizei sei offenbar überfordert, Anwohner traumatisiert, so überschlugen sich die Meldungen. [1]

Inwieweit sich ein solches, medial gezeichnetes Bürgerkriegsszenario mit den tatsächlichen Ereignissen rund um den Gipfel in Übereinstimmung bringen lassen kann, ist eine Frage, die ungeachtet vieler bereits kursierender Schuldzuweisungen seriöserweise kaum als geklärt gelten kann. In Politik und Mehrheitsmedien wird ein Bild fokussiert, demzufolge im Kern keine offenen Fragen mehr bestünden, da die Verantwortung für die Hamburger Ereignisse eindeutig und vollständig den sogenannten Linksextremen und -autonomen zugeschrieben werden könne; wer dies in Zweifel zieht, so der Tenor, mache sich mit den Gewalttätern gemein.

Unterdessen mehren sich zahlreiche und gutdokumentierte Vorwürfe, die seitens protestierender Gipfelgegner und Demonstrationsveranstalter, aber auch zivilgesellschaftlichen Organisationen gegen die Sicherheitsbehörden erhoben werden. Ihnen wird attestiert, das Demonstrationsrecht ausgehöhlt und durch ein ungerechtfertigtes und massiv gewaltsames Vorgehen die Eskalation der Ereignisse begünstigt, wenn nicht herbeigeführt zu haben, um die Proteste zu delegitimieren und die politischen Forderungen und Inhalte der Gipfelgegner zu überdecken.

Es wäre jedoch zu einfach und womöglich sogar gänzlich fehlinterpretiert, würde man nun annehmen, da hätten sich zwei Lager - Polizei und Gipfelgegner - gegenübergestanden, die nun der jeweils anderen Seite im Grunde gleichlautende Vorwürfe machten, wie es beispielsweise in einer Presseerklärung der Hamburger Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke anklang. Hamburg habe "erschreckende Gewalt" erlebt, Demonstrierende und Polizeikräfte seien "zum Teil schwer verletzt" worden, zentrale Zusicherungen des Senats hätten nicht eingehalten werden können, so die Begründung der Fraktion für die von ihr geforderte Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der "alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung des Gipfeltreffens in Hamburg untersuchen" müsse, wie die Fraktionsvorsitzenden Cansu Özdemir und Sabine Boeddinghaus erklärten. [2]

Da ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß nur von mindestens einem Viertel der Abgeordneten eingesetzt werden kann, die Linksfraktion in der Bürgerschaft jedoch nur über zehn von 121 Abgeordnetensitzen verfügt, würde sie diesen Schritt nicht realisieren können, ohne andere Parteien mit ins Boot zu holen. Liefe eine Frage danach, ob das polizeiliche Konzept beim G20-Gipfel impliziert haben könnte, mit einem gezielt provokativen Agieren der Polizei oder auch unter Einsatz verdeckter, um nicht zu sagen schwarzvermummter Kräfte die "Krawalle" zu begünstigen oder sogar aktiv herbeizuführen, nicht Gefahr, als irrelevant eingestuft und damit aus dem gegebenenfalls noch zu formulierenden Untersuchungsauftrag herausgehalten zu werden?

Zu klären wäre beispielsweise auch, warum alsbald von einem Versagen oder einer Fehleinschätzung der Situation durch die Hamburger Polizei die Rede war, obwohl die Sicherung des Gipfels keineswegs allein ihre Sache war. Hinzugezogen wurden Polizeieinheiten aus anderen Bundesländern, knapp 4000 Angehörige der Bundespolizei sowie rund 1000 Polizeibeamte des Bundeskriminalamtes sowie Spezialeinsatzkommandos wie beispielsweise die GSG9. Wäre tatsächlich ein Aufgebot von 20.000 Sicherheitskräften bei einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik nach kurzer Zeit von einem mutmaßlich übermächtigen Gegner so sehr herausgefordert, überrumpelt und fast schachmatt gesetzt worden, daß Hamburg am Rande eines Bürgerkriegs gestanden hätte, wie konnte dann so schnell wieder Ruhe einkehren und eine Stadt dieser Größenordnung zur Tagesordnung übergehen?

Als nicht vollständig aufgeklärt steht auch die Frage im Raum, warum seitens der Bundesregierung bei der Entscheidung, an welchem Ort der Gipfel stattfinden solle, die übereinstimmende Einschätzung vieler Polizeiexperten, daß Hamburg eine denkbar schlechte Wahl wäre, ignoriert wurde. Jan Reinecke, Vorsitzender des Hamburger Landesverbands des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, vertritt sogar die Auffassung, die Polizei sei "sehenden Auges ins Verderben geschickt worden": [3]

Wir haben uns schon vor vielen Monaten eindeutig und öffentlich gegen Hamburg als Austragungsort des G20-Gipfels ausgesprochen. Aber ständig haben wir eine Basta-Rhetorik aus der Politik erfahren. Dabei beruhte unsere Einschätzung auch auf Lagebildern und Erkenntnissen des BKA und des Staatsschutzes, die immer wieder darauf hinwiesen, mit wem oder mit was wir es zu tun bekommen könnten. Im Wesentlichen hatte man sehr genau analysiert, mit welcher Art von linksorientierter Gewaltbereitschaft man es zu tun haben wird. Unter dem Strich sind all die Dinge, die in den Lagebildern standen, eingetreten - verletzte Polizeibeamte, Guerilla- bzw. Kleingruppentaktik, die zur Zerstörung von Eigentum und Autos geführt hat.

Früher habe man sich, um solche Ereignisse wie jetzt in Hamburg zu verhindern, bewußt für ländliche Austragungsorte wie Heiligendamm oder Elmau entschieden, so Reinecke. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, daß die Entscheidung für Hamburg ebenso "bewußt" getroffen wurde aus Gründen, über die auch noch zu sprechen wäre und die möglicherweise von den bislang benannten, nämlich daß Hamburg als Tor zur Welt besonders geeignet sei und über die erforderlichen Konferenzkapazitäten verfügt, ganz erheblich abweichen könnten?


Und bist du friedlich, so mach ich dir Beine ...

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hatte vor der "Welcome-to-hell"-Demonstration am 6. Juli erklärt, der größte schwarze Block aller Zeiten habe sich angekündigt und hinterher solle es "knallen". [4] Die Geschehnisse auf dieser Demonstration, so wie sie in vielen Medien präsentiert wurden, schienen diese Ankündigung vollauf zu bestätigen. Situationsschilderungen von Betroffenen und Beteiligten wie beispielsweise Andreas Beuth vom Organisationsbündnis der Demonstration liefern jedoch Anhaltspunkte, die dieser höchst einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung widersprechen: [5]

Beuth erläuterte dazu am Freitag, dass es Absprachen zwischen den Anmeldern und der Polizei gegeben habe, wonach Tücher nur bis zur Unterlippe hochgezogen werden dürften. Das habe man dem aus rund 1.000 Menschen bestehenden "schwarzen Block" kommuniziert, worauf die Demonstranten ihre Gesichter kenntlich gemacht hätten. Weiter hinten im Zug soll es jedoch einige hundert Personen gegeben haben, die der Aufforderung nicht sofort gefolgt seien. Ohne weitere Vorwarnung habe die Polizei daraufhin begonnen, in die Demonstrationsspitze zu prügeln, "in genau die Leute also, die die Vermummung abgelegt hatten", wie Beuth sagte. Er zeigte sich auch am Freitag noch schockiert über den "Hass in den Gesichtern" der Beamten. Das Vorgehen habe zudem auch bei Unbeteiligten Panik ausgelöst, da sie keine Fluchtmöglichkeit gesehen hätten. Tatsächlich ist die Hafenstraße an dieser Stelle beidseitig von Mauern umgeben, die kaum zu überklettern sind. Zudem rückte die Polizei nicht nur von vorne gegen die Menge vor, auch im Rücken der Demonstranten zogen, vom Fischmarkt her kommend, Wasserwerfer auf.

Aus den Häusern und von den Seiten beobachteten Tausende Schaulustige und Anwohner die Ereignisse auf der Straße. Obwohl viele offenkundig die Sensationslust zum Kommen bewogen hatte, breitete sich auch unter den Zuschauern schnell Entsetzen und Empörung über das Vorgehen der Beamten aus. Manche begannen selbst die Polizei zu beschimpfen. Vereinzelt flogen auch Flaschen oder Steine auf die prügelnden Beamten. Diese machten daraufhin mit Stoßtrupps Jagd auf einzelne Personen und attackierten auch vollkommen unbeteiligte Menschen.

Vor der Welcome-to-Hell-Demonstration gab es auch Warnungen von anderer Seite. Der Anwaltliche Notdienst des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) erklärte, es sei verwunderlich, daß gerade dieser von der Polizei als gewalttätig eingestufte Protestmarsch, "anders als normalerweise bei vergleichbaren Demonstrationen üblich", ohne die geringste Auflage genehmigt worden sei. [6] Rechtsanwalt Matthias Wisbar, Sprecher des Notdienstes, sah darin einen krassen Widerspruch und fragte, ob die Polizei "mit gezinkten Karten" spiele? [7]

Die Angaben von Polizeipräsident Ralf Martin Meyer, rund eintausend Demonstrationsteilnehmer, die an diesem Tag gegen das Vermummungsverbot verstoßen hätten, seien der Grund für die Eskalation gewesen, wurden von verschiedenen Seiten in Zweifel gezogen. Der ARD-Reporter Björn Staschen beispielsweise erklärte vom Ort des Geschehens, das ARD-Team habe weitaus weniger Vermummte wahrgenommen. Doch selbst wenn rund eintausend Teilnehmer sich nicht oder nicht schnell genug "entmummt" hätten, bliebe zu klären, warum die Polizei nicht versuchte, das Vermummungsverbot durchzusetzen, sondern Meyer zufolge das Ziel verfolgte, "zwei sogenannte schwarze Blöcke, bestehend aus jeweils 1.000 Personen aus dem autonomen Spektrum, vom Rest der Demo zu separieren". [8]


Wurde beabsichtigt, die Polizei "überfordert" erscheinen zu lassen?

Die These, die Sicherheitsbehörden seien schlecht informiert gewesen, ist angesichts der bereits erwähnten polizeilichen Lageeinschätzungen nicht unbedingt glaubwürdig. "Wir waren noch nie so gut auf einen Einsatz vorbereitet, wie auf diesen", hatte Ulf Wundrack, Sprecher der Hamburger Polizei, vor dem Gipfel erklärt. [4] Doch schon am ersten Konferenztag wurde umgehend Verstärkung aus allen Bundesländern angefordert. Im Nachrichtenticker der "Welt" hieß es, die in Hamburg eingesetzten Beamten befänden sich in Lebensgefahr. Drei Berliner Hundertschaften wurden zusätzlich nach Hamburg geschickt, weshalb die Hauptstadt, was Einsatzkräfte anbelangt, "zur Hälfte ausgeblutet" sei, wozu den Meldungen zufolge ein ranghoher Berliner Polizeiführer gesagt haben soll: "Wir können nur hoffen, dass sich die Gerüchte in Luft auflösen, wonach internationale Links-Extremisten parallel die Hauptstadt angreifen wollen." [9]

Standen also nicht nur Hamburg, sondern auch Berlin und möglicherweise noch weiteren Städten massivste Angriffe bevor? Dem Vernehmen nach soll es in Hamburg sogar Gerüchte um einen Einsatz der Bundeswehr gegeben haben, wurde doch via Ticker gemeldet, daß die Polizei sie dementiert habe. [10]


Bürgerkrieg im Hamburger Schanzenviertel?

In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli erfuhren die Geschehnisse rund um den Hamburger Gipfel eine weitere Steigerung. Im Schanzenviertel konnten Akteure, die über Stunden von der Polizei unbehelligt blieben, ein Zerstörungswerk anrichten, das alle vorherigen Gefahrenprognosen sogar noch zu übertreffen schien. Im Onlinemagazin Telepolis wurden diese Ereignisse folgendermaßen geschildert: [11]

Trotz alledem konnten sich geschätzt 1.500 gewaltbereite Autonome bis ins Schanzenviertel durchschlagen, sich dort verbarrikadieren und schlussendlich das Viertel in ein Schlachtfeld verwandeln. Über Stunden traute sich selbst die Polizei nicht einzugreifen, weil von einem Gerüst an einem mehrstöckigen Gebäude u.a. Gehwegplatten auf die Uniformierten geworfen wurden. Nach Mitternacht trat eine schwer bewaffnete Spezialeinheit auf den Plan, die mit Gewehr im Anschlag die Lage unter Kontrolle brachte. (...)

Es herrschte offenbar blinde Zerstörungswut: Scheiben von Geschäften wurden eingeschlagen, diese geplündert und verwüstet. Leihräder, die an einer Station im Viertel abholbar sind, wurden zerstört. Barrikaden errichtet und angezündet. Über Stunden. Und das alles in einem dicht besiedelten Stadtteil. In einem Viertel, wo selbst alteingesessene, vermutlich eher konservative Geschäftsleute im Vorfeld Verständnis für die Proteste gegen den G20 geäußert hatten.

Da sich strenggenommen von schwarz vermummten Personen zunächst nichts über ihre Identität und politische Zugehörigkeit sagen läßt, ist fraglich, welche Quellen der hier mit Tatsachenqualität präsentierten Information, 1.500 "gewaltbereite Autonome" hätten das Schanzenviertel in ein Schlachtfeld verwandeln, zugrunde lagen. In einer Meldung der "Welt" war zunächst lediglich von "teilweise sehr professionell organisierten Grüppchen von schwarz Vermummten" die Rede gewesen, die Feuer legten, in Geschäfte einbrachen und Steine auf Polizisten warfen. Offenbar gingen die Verfasser dieser Meldung dennoch von linken Tätern aus, hieß es doch wenig später: [12]

Nur ein paar Meter weiter zertrümmerte ein etwas größerer Trupp Gewalttäter die Scheiben eines winzigen Ladens, der noch nicht einmal über eine Auslage verfügte. Nur Anti-Nazi-Aufkleber und die Notiz des Betreibers, das er erst am Sonnabend wieder öffnen wolle, waren zu erkennen. Trotzdem wurde das Geschäft sehr gezielt angegriffen. Anschließend tauchten die Täter wieder in der Menge unter.

Wäre die Option, daß es sich beispielsweise auch um Angehörige rechter Gruppen gehandelt haben könnte, zumindest in Betracht gezogen worden, hätte das kleine Wörtchen "trotzdem" durch ein "womöglich deshalb" ersetzt werden können.


Der Feind steht sowieso links

Vorwürfe gegen die Polizei wurden beispielsweise vom Komitee für Grundrechte erhoben, das eigene Beobachter nach Hamburg entsandt hatte: [13]

Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. Sie hat eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert, sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit großer Gewalt gegen die Menschen vor. Schon seit Monaten warnen wir vor dem Ausnahmezustand, der anlässlich des G20 in Hamburg produziert wird. Das, was wir in dieser Woche vorgefunden haben, geht sogar über das, was wir befürchtet haben, noch hinaus. Nicht nur wurden die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Die Polizei hat, gedeckt von der Hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Interessen der/des Innenminister/-senators und der Sicherheitsbehörden den Ausnahmezustand geprobt.

Ungeachtet der wechselseitig erhobenen Vorwürfe wurde bereits wenige Tage nach dem Gipfel auf der CSU-Klausurtagung in Kloster Banz ein schärferes Vorgehen gegen Linksextremisten und Linksautonome als Konsequenz aus den Krawallen von Hamburg gefordert. Bundeskanzlerin Merkel machte dabei deutlich, daß die möglicherweise von Sicherheitskräften unrechtmäßig ausgeübte Gewalt für sie kein Thema sei: "Wir haben am Wochenende gesehen, wie wichtig das Thema innere Sicherheit ist und wie wir auch unseren Sicherheitskräften danken müssen dafür, dass sie gegen jede Form von Gewalt entschieden vorgehen."

Bundesinnenminister Thomas de Maizière wurde, was die seiner Meinung nach zu ziehenden Konsequenzen betrifft, schon konkret. So etwas wie die Rote Flora oder besetzte Häuser in Berlin könne man nicht hinnehmen. Wenn das einmal eingerissen sei, sei das nicht so leicht wieder zu lösen. Man dürfe nie "irgendwelche logistischen Schlupflöcher, Ressourcen, Orte zulassen, aus denen so etwas wächst", so de Maizière. Die Gewalt am Rande des Gipfels, so gab der Bundesinnenminister zu wissen vor, sei durch Verschwörer orchestriert worden: "Leute mit Knopf im Ohr, die haben das alles organisiert". Sie seien "geschützt und gedeckt vom organisierten Linksextremismus in Deutschland" gewesen. [14]


Erinnerungen an Genua 2001?

Für ein differenzierteres und solchen Schnellschüssen womöglich abträgliches Bild gibt es genügend Anhaltspunkte. In einer via Facebook veröffentlichten und in der jungen Welt abgedruckten Stellungnahme einiger Geschäfts- und Gewerbetreibender aus dem Hamburger Schanzenviertel wird deren Sicht auf die Geschehnisse deutlich: [15]

Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein "Schwarzer Block" in unserem Stadtteil gewütet haben. Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen.

Der weit größere Teil waren erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden als auf einer linksradikalen Demo. Es waren betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen - hierbei von einem geplanten "Hinterhalt" und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Überwiegend diese Leute waren es auch, die - nachdem die Scheiben eingeschlagen waren - in die Geschäfte einstiegen und beladen mit Diebesgut das Weite suchten. Die besoffen in einem Akt sportlicher Selbstüberschätzung mit nacktem Oberkörper aus 50 Metern Entfernung Flaschen auf Wasserwerfer warfen, die zwischen anderen Menschen herniedergingen, während Herumstehende mit Bier in der Hand sie anfeuerten und Handyvideos machten.

Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel - durch alle anwesenden Personengruppen hindurch -, die sich hier Bahn brach. Das war kein linker Protest gegen den G-20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.

Was die Frage nach möglichen Konsequenzen betrifft, könnten die Reaktionen der direkt betroffenen Geschäfts- und Gewerbetreibenden für die Nutzer dominierender Leitmedien auch eine unerwartete Wendung bereithalten: [15]

Aber bei all der Erschütterung über die Ereignisse vom Wochenende muss auch gesagt werden: Es sind zwar apokalyptische, dunkle, rußgeschwärzte Bilder aus unserem Viertel, die um die Welt gingen. Von der Realität eines Bürgerkriegs waren wir aber weit entfernt.

Anstatt weiter an der Hysterieschraube zu drehen, sollten jetzt Besonnenheit und Reflexion Einzug in die Diskussion halten. Die Straße steht immer noch, ab Montag öffneten die meisten Geschäfte ganz regulär, der Schaden an Personen hält sich in Grenzen.

Wir hatten als Anwohner mehr Angst vor den mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn zielenden bewaffneten Spezialeinheiten als vor den alkoholisierten Halbstarken, die sich gestern hier ausgetobt haben.


Wer wagt, nach polizeilichen Provokateuren zu fragen?

Würden die als gut informiert geltenden Sicherheitsbehörden Fragen danach beantworten, ob und wenn ja welche Erkenntnisse darüber vorliegen, ob sich Angehörige rechter Gruppierungen und Organisationen an den Ausschreitungen beteiligt haben und ob und wenn ja inwiefern verdeckte Ermittler im Verlauf der Gipfelproteste in Aktion getreten sind, würde dies den Verdacht, hier könnte zu gänzlich anderen als den vorgeblichen Zwecken das Feindbild links aufgefrischt worden sein, noch am ehesten entschärfen.

Jede Partei wird es sich, noch dazu im Vorfeld der Bundestagswahl, wohl dreimal überlegen, bevor sie mit aus Sicht der politischen Eliten unangemessenen Fragen die eigene Regierungsfähigkeit und parlamentarisch gebotene Konsensbereitschaft unterminiert. Ein hartnäckiges Insistieren beispielsweise auf der Frage, ob die in großen Teilen von Politik und Medien binnen kurzem vorgenommene Adressierung sogenannter Linksextremer und -autonomer als Letztverursacher sämtlicher Gewaltereignisse plausibel sein kann, solange die umfangreichen Geschehnisse und wechselseitig erhobenen Vorwürfe nicht als aufgeklärt gelten können, würde eine Partei wie Die Linke noch weiter ins parlamentarische Abseits manövrieren, als sie ohnehin schon gedrängt wurde als vermeintliche Wegbereiterin des "Linksterrorismus".

Daß die hier verwendeten Links-Begriffe ihrer Natur nach vage sind und einer wissenschaftlichen Überprüfung kaum standhalten könnten, macht sie umso brauchbarer für diejenigen, die die Definitionshoheit für sich beanspruchen und die daran geknüpften repressiven Folgen durchsetzen können. So steht eine Generaloffensive gegen "links" zu befürchten, die mit der bereits geforderten Schließung linksautonomer Zentren keineswegs ihr Bewenden haben würde, sondern einen wohlkalkulierten Anfang und längerfristiger geplanten Fortgang nehmen könnte - wobei unter "links" bzw. "linksextrem" subsumiert wird, wer auch immer aus Sicht der Repressionsorgane wegen ihrer Meinung nach staatsgefährdender Praktiken, Positionen oder Forderungen dem Allrechtfertigungszweck der Staatsräson - Sicherheit - weichen muß.

Unbezweifelbar werfen die Gipfelereignisse Fragen nach der polizeilichen Taktik sowie den vorgeblichen und tatsächlich verfolgten Absichten auf. Wer kann da schon ausschließen, daß nach der Bundestagswahl der Ruf nach der Bundeswehr, scheinlegitimiert mit den schweren Krawallen von Hamburg, laut werden und auf die politische Agenda gesetzt werden könnte?


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article166384465/Unterschaetzte-Gefaehrdungslage-Polizei-ruft-um-Hilfe.html

[2] http://www.linksfraktion-hamburg.de/2017/07/09/g20-gipfel-die-linke-fordert-untersuchungsausschuss/

[3] http://www.n-tv.de/politik/Eine-Form-von-organisierter-Kriminalitaet-article19928750.html

[4] https://web.de/magazine/politik/g20-gipfel/g20-gipfel-hamburg-polizei-stellt-groessten-schwarzen-block-zeiten-32400962

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/313871.die-polizei-nahm-tote-in-kauf.html

[6] http://www.berliner-zeitung.de/politik/g20-in-hamburg-laesst-die-polizei-die--welcome-to-hell--demo-nicht-stattfinden--27924078

[7] http://www.heute.de/hamburg-vor-welcome-to-hell-demo-zwischen-stimmungsmache-und-berechtigter-sorge-47512414.html

[8] https://heise.de/-3766711

[9] https://www.welt.de/politik/deutschland/live166211930/Lage-eskaliert-Hamburger-Polizisten-fuehlen-sich-in-Lebensgefahr.html

[10] https://www.welt.de/politik/deutschland/live166211930/Neue-Eskalation-Schwarzer-Block-unterwegs-Polizist-erleidet-Schaedelbruch.html

[11] http://www.heise.de/-3767479

[12] https://www.welt.de/politik/deutschland/article166426442/Die-Nacht-in-der-im-Schanzenviertel-die-Anarchie-ausbrach.html

[13] http://www.grundrechtekomitee.de/node/873

[14] https://www.jungewelt.de/artikel/314244.jetzt-kommt-die-hetzkampagne.html

[15] https://www.jungewelt.de/artikel/314410.die-rote-flora-gehört-zu-uns.html

22. Juli 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang