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AFRIKA/2006: Westsahara - UN-Gespräche ohne Fortschritte, Marokko verwüstet "Lager der Würde" (SB)


Während Marokko und Frente Polisario in den USA Gespräche führen, werden mindestens elf Sahrauis getötet und Hunderte verletzt


Die Beurteilung eines Konflikts in einer fernen Weltregion fällt naturgemäß schwer, der Grad der eigenen Informiertheit scheint stets ungenügend. Beispielsweise hinsichtlich der Westsahara. Nur die wenigsten Bundesbürgerinnen und -bürger dürften davon gehört haben, daß Marokko den größten Teil des an der nordwestafrikanischen Atlantikküste gelegenen Gebiets für sich reklamiert und 1975, nach dem Abzug der spanischen Kolonialherren, annektiert hat, und daß die Sahrauis als ursprüngliche Bevölkerung dieser Region gegen die Okkupation und ihre fortgesetzte Diskriminierung protestieren.

Einen allerersten Standpunkt zu den an solchen Konflikten beteiligten Parteien gewinnt man, indem man Vorgänge prüft, wer für welche Interessen kämpft, gegebenenfalls wer wen angegriffen hat, wer die Verfügungsgewalt besitzt, wer internationalen Rückhalt genießt, etc. In dem konkreten Fall der Westsahara ist zunächst festzustellen, daß es nicht die Sahrauis waren, die in Marokko einmarschiert sind und dessen bewaffnete Kämpfer unter Einsatz von international geächteten chemischen Waffen wie Napalm in die Wüste getrieben haben. Es verhielt sich genau umgekehrt. Heute leben etwa 160.000 dieses Teils der Sahrauis abgeschieden und ausgegrenzt in vier großen Lagern in der algerischen Wüste - teils in der dritten Generation. Der Westsahara-Konflikt beruht also auf Unterdrückung und Auflehnung gegen die Herrschaft.

Gegenwärtig spitzt sich der Dauerkonflikt wieder aufs schärfste zu [1]. Am Montag haben die marokkanischen Sicherheitskräfte das kürzlich von rund 20.000 Einwohnern der Städte El-Aaiún, Smara und Bojador errichtete, rund 15 Kilometer von der inoffiziellen westsaharischen Hauptstadt El-Aaiún entfernte "Lager der Würde" zerstört. Mit dem Aufbau des Lagers wollten die Sahrauis gegen ihre permanente Diskriminierung protestieren. Bereits in der vergangenen Woche hatten marokkanische Sicherheitskräfte das Lager umstellt und abgeriegelt. Nach Angaben der Sahrauis kamen bei der Verwüstung des Lagers elf Personen ums Leben, 723 wurden verletzt, 159 werden noch vermißt. Die marokkanische Seite behauptet, daß sechs ihrer Sicherheitskräfte getötet wurden. [2]

Der Konflikt hat sich anschließend nach El-Aaiún verlagert, wo es ebenfalls zu Toten kam, unter ihnen ein marokkanischer Polizist. Die Berichterstattung über die Lage der Westsahara wird von Marokko massiv unterdrückt. Das Königreich hat sogar vor kurzem den arabischen Fernsehsender Aljazeera des Landes verwiesen. Die internationale Presse wurde und wird vom "Lager der Würde" ferngehalten, was die Vermutung nährt, daß Marokko etwas zu verbergen hat.

Der Angriff auf das Lager erfolgte zu einem Zeitpunkt, da sich Vertreter der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario, Marokkos, Algeriens und Mauretaniens unter Leitung des UN-Beauftragten Christopher Ross in Greentree in dem Städtchen Manhasset auf Long Island nahe New York City zur dritten informellen Gesprächsrunde trafen, um ein Ende des Konflikts herbeizuführen. Über das Motiv der Frente Polisario, die Gespräche weiterzuführen, obgleich bereits kurz nach der Abriegelung des Lagers ein Jugendlicher, der gemeinsam mit sieben weiteren Personen den Lagerbewohnern Versorgungsgüter zukommen lassen wollte, von marokkanischer Seite erschossen wurde, lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. So könnte spekuliert werden, daß sich die Frente Polisario in einer so verzweifelten Lage befindet, daß sie nach dem kleinsten Strohhalm greift.

Von vornherein nicht auszuschließen ist die Annahme, daß unter den Sahrauis verschiedene Interessengruppen existieren und daß zwischen denjenigen, die den Aufbau des "Lagers der Würde" initiiert haben, und der Frente Polisario Divergenzen bestehen. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, daß die Vertreter in New York nur unzureichend über die Lage in El-Aaiún informiert waren. Gegen letztere Version spricht allerdings, daß die Übergriffe zu Verhandlungsbeginn bereits bekannt waren. Der Frente-Polisario-Vertreter Ahmed Boujari bemerkte, daß Marokko absichtlich die Gespräche zum Scheitern bringen lassen wollte. [3]

Wie auch immer das Verhalten der Frente Polisario zu bewerten ist, die marokkanische Seite hat gezeigt, daß sie weiterhin aggressiv ihre Annektionspolitik verfolgt, sämtliche UN-Resolutionen, welche die zwischen Frente Polisario und Marokko vereinbarte Durchführung eines Referendums über die Zukunft der Westsahara einfordern, ignoriert und darauf beharrt, daß das Gebiet allenfalls Autonomiestatus erhalten soll. Indem es die Vereinten Nationen fortgesetzt unterlassen, entschiedene Maßnahmen gegen Marokko einzuleiten, ergreifen sie dessen Partei.

"Es ist äußerst unglücklich, daß diese Operation und die vorangehenden wie auch folgenden Ereignisse die Atmosphäre, in der diese Gespräche stattfinden, betroffen haben", sagte UN-Sprecher Martin Nesirky. "Wir appellieren an alle beteiligten Parteien, in den nächsten Stunden und Tagen äußerste Zurückhaltung zu zeigen." [3] Seine Aufforderung klingt so, als träfen in der Westsahara gleichwertige Kombattanten aufeinander. Dem ist nicht so. Die marokkanischen Sicherheitskräfte haben in einem von ihnen seit langem annektierten Gebiet Angriffe gegen die angestammte Bevölkerung geführt.

Sollte es in den nächsten Tagen zu weiteren Übergriffen auch auf marokkanische Sicherheitskräfte kommen, dann bestätigt das nicht den Standpunkt Marokkos, es in der Westsahara mit Terrorismus zu tun zu haben, sondern es wäre die typische Reaktion eines Volkes auf eine jahrzehntelange Unterdrückung.

Frente Polisario und Marokko haben beschlossen, die Gespräche im Dezember und auch im nächsten Jahr fortzusetzen. Laut Xinhua [4] wurde vereinbart, daß Familienbesuche auf dem Luftweg ohne Verzögerung gestattet werden und auch auf dem Landweg beschleunigt werden sollen. Als Verhandlungsführer blieb Christopher Ross auch nicht viel anderes übrig, als diese beiden Punkte zu betonen und ansonsten Optimismus zu verbreiten: "Erstmals sind die Delegationen der beiden Parteien und zweier Nachbarstaaten zusammengekommen, um über das Programm zu Vertrauensbildenden Maßnahmen des Hochkommissars für Flüchtlinge zu diskutieren." [4] Das als Erfolg auszuweisen, zeigt, wie weitgehend Marokkos Annektionspolitik bereits als Tatsache akzeptiert wird. Bevor die Möglichkeit einer Reise erleichtert werden kann, muß es ihre Einschränkung gegeben haben. Das ist einer von zahlreichen Gründen, weswegen die Sahrauis ein "Lager der Würde" errichtet hatten.


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Anmerkungen:

[1] Der Schattenblick aktualisiert seine Berichterstattung zum Westsahara-Konflikt mehrmals täglich unter POLITIK -> TICKER, Index EL-AAIUN.


SB-Hintergrundberichte aus Anlaß der jüngsten Entwicklung finden Sie unter POLITIK -> MEINUNGEN:
DILJA/1324: Militärgewalt in der Westsahara - Unheilige Allianz alter und neuer Besatzer (SB)
und POLITIK -> REDAKTION:
AFRIKA/2004: Repressionen gegen Sahrauis - Marokkos Militär umstellt "Lager der Würde" (SB)

[2] "Moroccan raid on Western Sahara camp killed 11: Polisario", AFP, 9. November 2010
http://news.yahoo.com/s/afp/20101109/wl_afp/algeriawsaharamoroccounrestrefugees_20101109172731

[3] "W. Sahara-Morocco peace talks start despite raid", AFP 8. November 2010
http://news.yahoo.com/s/afp/20101108/wl_africa_afp/moroccowsaharaunrestun_20101108180337

[4] "Parties to Western Sahara conflict agree to resume family visits", Xinhua, 10. November 2010
http://www.chinadaily.com.cn/xinhua/2010-11-10/content_1176317.html

10. November 2010