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AFRIKA/2018: Frankreich hebt Ruanda-Haftbefehle auf (SB)


Der Ruanda-Genozid und die fortgesetzte Geschichtsverdrehung

Attentat auf zwei afrikanische Staatspräsidenten wird wohl niemals aufgeklärt


Die französischen Behörden haben Ermittlungsverfahren gegen sechs Personen aus dem Umfeld des ruandischen Präsidenten Paul Kagame eingestellt. Ursprünglich war ihnen die Verwicklung in den Abschuß des Flugzeugs des früheren ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 in Kigali zur Last gelegt worden. Mit der Rücknahme der Haftbefehle knüpft Frankreich an seine in diesem Jahr unter Hochdruck vorangetriebene Politik der Annäherung an. Die gründet sich auf eine Verschiebung der Interessen, nicht aber auf eine Aufklärung der historischen Zusammenhänge.

Wie bei allen kriegerischen Vorgängen bestimmen auch beim sogenannten Ruanda-Genozid letztlich die Sieger, wie die Geschichte zu den Vorgängen geschrieben wird. In diesem Fall entstammen die Sieger der gleichen Ethnie wie die Opfer, aber es wäre ein Irrtum, die beiden Gruppen in einen Topf zu werfen. Zu den Opfern zählen schätzungsweise 800.000 Ruander, von denen die meisten dem Volk der Tutsi entstammen. Sieger sind ebenfalls Tutsi, die jedoch im Exil gelebt und seit Beginn der 1990er Jahre von Uganda kommend Angriffe gegen Ruanda geführt haben, um angeblich ein diktatorisches Regime zu stürzen.

Wenngleich der damalige Präsident Juvénal Habyarimana, ein Hutu, und sein Kabinett mit harter Hand regierten, benutzten die Invasoren dieses Argument lediglich als Vorwand, um unter dem Deckmantel, ein Volk zu befreien, ihre eigenen Herrschaftsinteressen verfolgen zu können. Typisch für die Milizen der von dem Tutsi-Warlord Paul Kagame angeführte Ruandischen Patriotischen Armee/Front (RPA/F) war, daß sie regelmäßig Angriffe gegen Dorfbewohner führten und von diesen verständlicherweise noch mehr gefürchtet wurden als die Regierungssoldaten. Bis zu eine Million Bewohner der nördlichen Landesteile Ruandas wurden vertrieben, wodurch der Druck auf die ohnehin von schwersten sozioökonomischen Spannungen heimgesuchte ruandische Gesellschaft massiv erhöht wurde.

Die Kämpfe zogen sich bis 1993 hin, kaum von Verhandlungen und Waffenstillstandsabkommen unterbrochen. Dann, am 4. August 1993, schlossen Regierung und RPA/F unter internationalem Druck das Friedensabkommen von Arusha. Mit ihm waren beide Seiten nicht einverstanden. Habyarimanas Regierungspartei Mouvement républicain national pour le développement (MRND) hatte nur zähneknirschend zugestimmt, die RPA/F in die administrativen Strukturen zu integrieren, und die "Rebellen" um Kagame strebten nach der ungeteilten Macht. Also bereiteten sich beide Seiten teils offen, teils heimlich auf einen weiteren Waffengang vor.

Wer letztlich das Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten, seinem burundischen Amtskollegen und weiteren Politikern und Militärs abschießen ließ, ist bis heute unklar. Vieles spricht gegen die gängige Geschichtsschreibung, wonach radikale Hutu ihren eigenen, als zu nachgiebig empfundenen Präsidenten getötet haben. Auf der anderen Seite spricht einiges dafür, daß niemand anderes als Kagame den Befehl zum Abschuß erteilte. Das wurde unter anderem von mutmaßlichen Tatbeteiligten aus der RPF, die um ihr Leben fürchteten, da sie in Ungnade gefallen waren (oder zuviel wußten und eine Gefahr für Kagame darstellen) behauptet.

Der französische Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguières erließ im Jahr 2006 Haftbefehl gegen neun Personen aus dem Umfeld Kagames und erklärte, er hätte auch den Präsidenten selbst wegen mutmaßlicher Attentatsbeteiligung angeklagt, wenn dieser als Staatsoberhaupt nicht Immunität genösse.

Das heizte die Spannungen zwischen Frankreich und Ruanda an, dessen Regierung die diplomatischen Beziehungen abbrach. Nachdem in Frankreich Nicolas Sarkozy zum Präsidenten gewählt wurde, gab Bruguière seinen Posten als Untersuchungsrichter auf und wurde Sarkozys Berater. Die Ruanda-Akte wurde der Untersuchungsrichterin Nathalie Poux und ihrem Kollegen Marc Trévidic übergeben. Diese unternahmen anscheinend zunächst keine nennenswerten Anstrengungen, damit die Haftbefehle vollstreckt werden. In diesem Jahr führten sie allerdings eigene Untersuchungen in Kigali durch, und zwischen dem 5. und 15. Dezember trafen sie in Burundi mit sechs der neun Verdächtigen zusammen (Ruandas Armeechef James Kabarebe, General Jack Nziza, Oberstleutnant Charles Kayonga, Major Jacob Tumwine, General Samuel Kanyemera und Oberst Franck Nziza). Anschließend wurden die Haftbefehle aufgehoben.

Das dürfte der Anfang vom Ende von Bruguières Ermittlungen sein. Sollte der gesamte Fall zu den Akten gelegt werden, besteht die Frage, wie die Angehörigen der französischen Besatzung der Präsidentenmaschine, die den Fall ursprünglich ins Rollen brachten, nun damit umgehen. Sie werden sich vermutlich vor den Kopf gestoßen fühlen, obgleich sie an der Entwicklung der letzten Zeit hätten ablesen können, daß die französische Regierung einen Schwenk vollzieht: Erst besucht Außenminister Bernard Kouchner Ruanda, dann folgt Nicolas Sarkozy, die diplomatischen Beziehungen werden wieder aufgenommen, und diesen folgen die üblichen Geschäftsanbahnungen. So kamen am 17. Dezember Spitzenvertreter des Rwanda Development Board (RDB) und der Private Sector Federation (PSF) in einem von der ruandischen Botschaft in Paris organisierten Treffen mit 20 Managern französischer Unternehmen zusammen, um mit ihnen über Investitionsmöglichkeiten in Ruanda zu sprechen. Anfang 2011 soll eine Delegation aus Frankreich nach Kigali reisen, um ein Partnerschaftsabkommen zu unterzeichnen.

Mit der Aufhebung der sechs Haftbefehle kommt Präsident Paul Kagame seinem Ziel, straffrei aus dem Ruanda-Genozid hervorzugehen, einen ziemlich großen Schritt näher. Dieses Beispiel zeigt, daß die Geschichte immer aktuell geschrieben wird, die vorherrschenden Interessen bestimmen der Kurs.

20. Dezember 2010