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AFRIKA/2175: Äthiopien - Politisches Schlachtfeld globaler Interessen ... (SB)



Simegnew Bekele, der leitende Ingenieur des größten Staudammprojekts Äthiopiens und sogar ganz Afrikas, ist tot. Er wurde von einer Kugel hinter dem rechten Ohr getroffen. Man fand seine Leiche am 26. Juli in einem SUV, der mit laufendem Motor am zentralen Meskel-Platz in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba stand. Die Tatwaffe lag im Wagen. [1]

Sehr viel mehr ist über den Mord nicht bekannt, man kann jedoch davon ausgehen, daß es sich um keinen Selbstmord gehandelt hat. Außerdem liegt der Verdacht nahe, daß der Ingenieur aus politischen Motiven erschossen wurde, denn politisch war seine Arbeit allemal. Der Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm (GERD) ist die dritte große Talsperre, die unter seiner Anleitung entstand. Das Projekt ist zu rund 60 Prozent fertiggestellt, ursprünglich sollte das gigantische Vorhaben 2020 abgeschlossen sein. Die 16 Turbinen des Kraftwerks haben eine installierte Leistung von über 6000 MW, was der Kapazität von sechs Kernkraftwerken entspricht und bei voller Auslastung die Stromproduktion des Landes verdreifachen wird. Mit der Energie will die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft Afrikas bis 2025 zu einem Land mittleren Einkommens aufsteigen und zugleich Strom an seine Nachbarländer liefern.

Während die beiden von Bekele gebauten Talsperren Gilgel Gibe I und Gilgel Gibe II Teil einer Staustufenserie am Fluß Omo sind, soll mit GERD der Nil gestaut werden. Das Projekt wird von Ägypten, das am Unterlauf des Stroms liegt und existentiell von ihm abhängig ist, abgelehnt. Der frühere ägyptische Präsident Muhammad Mursi hatte sogar gedroht, die nach Fertigstellung 1,8 Kilometer lange und 155 Meter hohe Talsperre mit Raketen zu beschießen.

Inzwischen wurde Simegnew Bekele beigesetzt, Tausende waren zu seiner Beerdigung gekommen. Der Ingenieur wurde für seine Leistung als Volksheld geehrt. Viele haben anläßlich der Beisetzung lauthals Gerechtigkeit gefordert und verlangt, daß der oder die Mörder gefunden werden. Einige vermuten den oder die Täter im Ausland, andere glauben, daß die noch junge Regierung von Premierminister Abiy Ahmed darin involviert ist oder auch, daß dieser einen Deal mit Ägypten geschlossen hat. Sicherheitskräfte lösten die Proteste mit Hilfe von Tränengas und Knüppeln gewaltsam auf. Auch wird vom Einsatz scharfer Munition berichtet.

Die Bevölkerung Äthiopiens erlebt in letzter Zeit ein Wechselbad der Gefühle. Ein historischer Moment war sicherlich Premierminister Hailemariam Desalegns Ankündigung seines Rücktritts im Februar 2018 in Folge anhaltender landesweiter Proteste. Am 2. April dieses Jahres legte sein Nachfolger Abiy Ahmed seinen Amtseid ab und machte in den wenigen Monaten, die er im Amt ist, Nägel mit Köpfen: Aufhebung des Ausnahmezustands, Freilassung politischer Gefangener, Öffnung staatlicher Firmen für private Investoren, Anerkennung des vor 18 Jahren von einem internationalen Schiedsgericht festgelegten Grenzverlaufs zu Eritrea, Friedensvertrag und Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Eritrea sowie Öffnung der Grenze und Wiedereinrichtung des regulären Flugverkehrs in die eritreische Hauptstadt Asmara.

Ahmed kommt aus dem Volk der Oromo. Das stellt die größte Volksgruppe in Äthiopien, wurde jedoch von den Vorgängerregierungen, in denen die Tigray People's Liberation Front (TPLF) das Sagen hatte, unterdrückt. Mit ein Grund dafür könnte gewesen sein, daß die Oromo den früheren diktatorisch regierenden und 1991 von der TPLF vertriebenen Mengistu Haile Mariam unterstützt haben.

Äthiopien ist der Nachfolgestaat von Abessinien und das einzige Land in ganz Afrika, das sich der kolonialen Unterwerfung durch europäische Mächte erfolgreich widersetzen konnte. Vielleicht war es ein nicht zuletzt hierauf gegründeter Stolz, der Präsident Ahmed die Zunge führte, als er neulich seinem Geschäftspartner, Mohammed bin Zayed al Nahyan, seines Zeichens Kronprinz von Abu Dhabi und stellvertretender Oberkommandierender der Streitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), eine brüske Abfuhr erteilte. In einer Rede vor der amerikanisch-äthiopischen, muslimischen Gemeinde in Virginia, USA, gab Ahmed die Geschichte zum besten, der Kronprinz habe ihm angeboten, ihnen in vielen Dingen zu helfen, so auch sie den Islam zu lehren. Das habe er jedoch mit den Worten abgelehnt: "Wir brauchen die Religion nicht von Ihnen zu lernen. Sie haben die Religion verloren. Was wir brauchen, ist, daß wir rasch Arabisch lernen, damit wir die Religion besser verstehen und sie Sie lehren und an Sie zurückgeben." Auf die Frage Zayeds nach dem Warum habe er erwidert, daß der wahre Islam von Frieden handelt und nicht von dem, was gerade im Mittleren Osten passiert. Sie hätten den Frieden vergessen und auch, wie man vergibt. [2]

Wir haben das Gespräch - so es in dieser Form stattgefunden und Ahmed seinen Standpunkt nicht beschönigend geschildert hat, um beispielsweise vor der größten äthiopisch-muslimischen Gemeinde außerhalb Äthiopiens Eindruck zu schinden - wiedergegeben, weil sich daran aktuelle politische Entwicklungen und Interessen beteiligter Akteure aufzeigen lassen. Das wiederum gehört zu dem allgemeinen Hintergrund, vor dem der Mord an dem Ingenieur Bekele begangen wurde.

Den Vereinigten Arabischen Emiraten wird nachgesagt, daß sie den Friedensschluß zwischen Äthiopien und Eritrea eingefädelt haben. Die Gründe, weswegen sie das hätten tun sollen, sind vielfältig. Die Religion gehört, wie im obigen Dialog angedeutet, auch dazu. Aus missionarischer Sicht wäre Äthiopien ein attraktives Land. 40 Prozent der rund 100 Millionen Einwohner sind Muslime. Damit leben in dem ostafrikanischen Land mehr Anhänger dieser Religion als in den VAE, Saudi-Arabien, Kuwait und Katar zusammen, wie Ahmed eigenen Angaben zufolge gegenüber Kronprinz Zayed klargestellt haben will.

Die Ausdehnung der von den Emiraten gepflegten sunnitischen Richtung des Islams dürfte indessen eher Mittel zum Zweck sein, nämlich den VAE grundlegend zu mehr politischer Hegemonie und wirtschaftlichen Vorteile in der arabischen Welt und Ostafrika zu verhelfen. Der 1971 aus dem Zusammenschluß von zunächst sechs Emiraten entstandene und im Jahr darauf auf sieben erweiterte Staat dehnt seinen Einfluß in der Region massiv aus und ist zur Zeit neben Saudi-Arabien maßgeblicher Akteur im Krieg gegen die schiitischen Huthis in Jemen. Seit 2015 nutzen die VAE zu diesem Zweck einen Militärstützpunkt und Hafen von Eritrea (Assab), das ebenfalls 400 Soldaten zum Kampf gegen die Huthis entsandt hat. Auch haben die VAE weitere Häfen an diesem regional ebenso wie geopolitisch bedeutenden Schiffahrtsweg - vom Suez-Kanal über das Rote Meer, die Straße von Bab el Mandeb und den Golf von Aden bis in den Indischen Ozean - im Bau bzw. in Betrieb.

So kommt es einer Anerkennung der somalischen Provinz Somaliland gleich, die sich 1991 für unabhängig erklärt hat, wenn es in einem wirtschaftlichen und militärischen Vertrag aus dem Jahr 2017 zwischen ihr und den VAE unter Punkt 1 heißt, daß Somaliland die "einzige legitime Autorität seines Territoriums und Volkes" ist. [3].

Für eine Milliarde Dollar pachten die VAE den Internationalen Flughafen von Berbera in Somaliland für einen Zeitraum von 25 Jahren. Der Flughafen stammt aus Sowjetzeiten und verfügt über eine ausgesprochen lange Landebahn. In einer Zeit, als die USA noch ihr Space-Shuttle-Programm unterhielten, war Berbera einer der weltweit wenigen Ausweichlandeplätze für die Raumfähren, sollte die Landebahn auf dem Raumfahrtgelände von Florida beispielsweise wegen eines Sturms gesperrt sein. Außerdem berichtet Arab Weekly, daß die VAE in Berbera eine Marinebasis einrichten. [4] An diesem Projekt ist auch Äthiopien beteiligt. Es übernimmt einen Anteil von 19 Prozent und hat bereits einen Vertrag mit dem in den VAE ansässigen Unternehmen DP World, das den Bau durchführt, und der Regierung von Somaliland abgeschlossen. [5]

Ebenfalls eine Milliarde Dollar haben die VAE in der Zentralbank Äthiopiens deponiert, damit es seine Devisenkrise abmildern kann. Die Summe ist Teil eines drei Milliarden-Dollar-Investitionspakets der VAE in Äthiopien. [6]

Hier spielt nun eine weitere, übergreifende politische Ebene hinein, die mit dem Bekele-Mord zusammenhängen könnte. Die militärische Offensive der VAE in Jemen wird von den USA gutgeheißen. Beide Staaten sind Verbündete im Kampf gegen die Huthis, wie sie auch beide Widersacher des Iran sind. Der politische Analyst Finian Cunningham von der Strategic Culture Foundation sieht daher eine politische Neuausrichtung Äthiopiens in Richtung der USA und ihrer Verbündeten in der Golfregion und weg von China [7].

China unterhält bislang enge Verbindungen zu Äthiopien und betrachtet das Land als seinen strategischen Partner in Afrika. Ein Ausdruck dessen ist der 200 Mio. Dollar teure Bau des Sitzes der Afrikanischen Union in Addis Abeba im Jahr 2012. Cunningham zufolge hat sich Ahmed abschätzig über die von China beaufsichtigte Eisenbahnverbindung zwischen Addis Abeba und Dschibuti geäußert. Auch habe er angekündigt, daß sich der Bau des Grand Ethiopien Renaissance Dam um zehn Jahre verzögern könnte. Kurz bevor Simegnew Bekele erschossen wurde, habe dieser in Interviews mit den Medien behauptet, seine Arbeit werde von bestimmten Leuten in der Regierung unterlaufen. Außerdem sei Ahmed bei seinem ersten Auslandsbesuch als Präsident im Juni in Ägypten von dessen Präsident Abdelfattah al-Sisi herzlich empfangen worden. Cunningham vermutet, daß Ahmed seinem Gastgeber Zugeständnisse hinsichtlich des Weiterbaus des Staudamms gemacht hat, möglicherweise habe er eine Verzögerung angekündigt.

Cunningham geht zwar nicht so weit, mit dem Finger auf die äthiopische Regierung zu zeigen, aber er hat Informationen zusammengetragen, die so interpretiert werden könnten, daß der Mord an Bekele einen geopolitischen Hintergrund hat. Diese Einschätzung der Rolle Ahmeds sollte jedoch mit Vorsicht genossen werden. Beispielsweise behauptet Cunningham, Ahmed habe eine Verzögerung des Staudammbaus um zehn Jahre ins Spiel gebracht. Wir wissen nicht, auf welche Quellen er sich bezieht, doch die BBC berichtete, Ahmed habe erklärt, wenn der Bau des Damms weiter so langsam voranschreitet, werde er erst in zehn Jahren fertig. [8]

Das klingt schon ganz anders. Cunningham behauptet ebenfalls, daß die Überwachungskameras am Tatort in den Tagen vor dem Mord "unerklärlicherweise außer Funktion" gewesen seien. Laut Africa News jedoch waren sie vor längerer Zeit wegen Straßenbauarbeiten abgebaut worden [9]. In beiden Fällen dürfte das dem Mörder entgegengekommen sein, Cunninghams Deutung weist jedoch mehr in Richtung einer staatlichen Verwicklung, weil es für diesen sicherlich leichter gewesen wäre, öffentliche Überwachungskameras abzuschalten, als für Außenstehende.

Daß der Mord am Tag der Abreise Ahmeds in die USA geschah und der äthiopische Präsident nicht unverzüglich zurückgekehrt ist, um an der allgemeinen Trauer im Land teilzuhaben, läßt sich in viele Richtungen deuten und besagt nicht, daß er von dem Mord gewußt haben muß. Zuzustimmen ist Cunningham jedoch darin, daß in Äthiopien ein bedeutender Kurswechsel stattfindet, bei dem der westliche Einfluß wächst.

Möglicherweise auch über die Vergabe von Krediten. So ist Äthiopien besonders stolz darauf, den vier Milliarden Dollar teuren Bau des 2011 begonnenen GERD aus eigenen Mitteln finanzieren zu können. Wenn nun im Anschluß von Ahmeds Besuch in den USA sowohl US-Vizepräsident Mike Pence als auch die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, sich positiv über die zukünftig engere Zusammenarbeit mit Äthiopien äußerten, so deutet sich damit eine Verschiebung der Interessen an. Jedenfalls hatten der frühere äthiopische Premierminister Meles Zenawi und der Ingenieur Simegnew Bekele eine Fremdfinanzierung der großen Talsperre am Nil abgelehnt, weil sie sich nicht in Abhängigkeit begeben wollten. Wohingegen Ahmed, der auch die Staatsbetriebe für privates Kapital öffnet, für eine andere Politik steht.

Der Behauptung Äthiopiens, daß der Staudamm Ägypten nicht das Wasser abgraben wird, ist nicht einschränkungslos zuzustimmen. Zum einen hängt das von der Geschwindigkeit ab, mit der Äthiopien den Stausee vollaufen läßt; zum anderen hat ein Stausee eine größere Verdunstungsoberfläche als ein Fluß. Es geht also Wasser verloren. Es läßt sich spekulieren, ob die Verbesserung in den ägyptisch-äthiopischen Beziehungen auf eine mögliche Zusage Ahmeds zurückgeht, den Stausee langsamer aufzufüllen als ursprünglich geplant. Falls diese These zutrifft, erfolgt Ahmeds Abkehr vom GERD eher Sicherheitserwägungen denn einem geplanten Kurswechsel von China zu den USA.

Der nun unter Ahmed forcierte Ausbau der Verbindung zwischen Äthiopien und dem eritreischen Hafen Assab muß nicht in Konkurrenz zu der Verbindung Addis Abeba-Dschibuti stehen. Denn wenn die äthiopische Wirtschaft weiter so schnell wächst wie bisher, reichen vielleicht selbst zwei Hauptverkehrsverbindungen nicht, um den Warentransport von und nach Äthiopien abzuwickeln. Dazu würde passen, daß Middle East Eye berichtet, daß im Juni dieses Jahres Äthiopien und Somalia nach Jahren der Spannungen vereinbart haben, ihre bilateralen Beziehungen auszubauen und beispielsweise gemeinsam gegen die islamistische Organisation al-Shabab vorzugehen. Außerdem wollen beide Länder in den Ausbau von vier Seehäfen am Horn von Afrika investieren. [10]

Bis jetzt gibt es keine konkreten Hinweise darauf, daß Äthiopien seine guten Verbindungen zu China beschädigen will. Das Reich der Mitte ist ein viel zu wichtiger Handelspartner, als daß er von den USA oder anderen Kontrahenten auf dem "Schlachtfeld" am Horn von Afrika ohne weiteres auszumanövrieren wäre.

Übrigens kann das Verhältnis zwischen Abiy Ahmed und Kronprinz Mohammed bin Zayed al Nahyan so kühl und abweisend nicht gewesen sein, hatte sich der äthiopische Präsident doch persönlich hinters Steuer eines Autos gesetzt und seinen Gast eigenhändig durch Addis Abeba kutschiert - wobei wir natürlich nicht wissen, über welche Fahrkünste Ahmed verfügt. Vielleicht war ja die Stadtrundfahrt recht abenteuerlich und Bestandteil der Verhandlungstaktik, um seinen Gast zu zermürben ...


Fußnoten:

[1] http://www.dw.com/en/ethiopian-grand-renaissance-dam-manager-simegnew-bekele-found-dead/a-44842141

[2] http://www.middleeasteye.net/news/ethiopian-pm-says-gulf-countries-not-fit-teach-islam-1372998477

[3] http://www.thenational-somaliland.com/2017/03/21/somaliland-uae-sign-historic-economic-military-pact/

[4] https://thearabweekly.com/uaes-strategy-behind-berbera-assab-bases

[5] https://www.ship-technology.com/news/ethiopia-buy-19-stake-dp-worlds-berbera-port-somaliland/

[6] https://af.reuters.com/article/africaTech/idAFKBN1JC07G-OZABS

[7] https://www.strategic-culture.org/news/2018/08/02/geopolitics-shadow-ethiopia-foul-murder.html

[8] https://www.bbc.com/news/world-africa-44981490

[9] http://www.africanews.com/2018/07/26/ethiopia-s-nile-dam-engineer-died-of-bullet-wound-police-chief/

[10] https://www.middleeasteye.net/columns/gulf-states-dangerous-scramble-africa-116262372

8. August 2018


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