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ASIEN/638: Besatzungstruppen wüten unter der afghanischen Bevölkerung (SB)


Schulkinder bei NATO-Angriff getötet - Zahl ziviler Opfer gestiegen


Wie in jedem Guerillakrieg zwischen einer hochgerüsteten Besatzungsarmee und den Kräften des Widerstands gegen die Okkupationsmächte und ihre einheimischen Kollaborateure verschwindet die anfänglich vorgehaltene Unterscheidung zwischen Aufständischen und Zivilisten mit der Eskalation der Auseinandersetzungen. Dies liegt zum einen daran, daß die Akteure des Aufbegehrens gegen die Fremdherrschaft Teil der Bevölkerung und von der sogenannten Zivilgesellschaft de facto nicht zu trennen sind. Zum anderen gehen die ausländischen Truppen immer unterschiedsloser gegen die Bewohner des besetzten Landes vor und drangsalieren gezielt Zivilisten, um sie von der Unterstützung des Widerstands abzuhalten. Hinzu kommt die Kriegsführung mit modernen Waffen, deren ungeheure Feuerkraft ganze Häuser oder größere Komplexe pulverisiert, so daß sich die Behauptung, man führe gezielte Schläge gegen bestimmte Gruppen oder gar einzelne Personen als pure Fiktion erweist.

Da das Morden unter der Bevölkerung den Haß auf das Besatzungsregime nährt, wächst für die Okkupanten das Problem der Legitimation ihrer Präsenz sowohl im besetzten Land, als auch an der Heimatfront. Hilflose Zivilisten abzuschlachten, kommt auch im Herkunftsland der Invasoren nicht gut an, zumal die Kampagne als Kampf für Fortschritt, Demokratisierung und Menschenrechte ausgewiesen wird. Zwangsläufig folgt dabei Lüge auf Lüge, da man das Offensichtliche mit immer neuen Verfälschungen und Verdrehungen zu verschleiern trachtet.

Im Zuge ihres jüngsten Massakers haben Truppen der NATO bei einem Angriff in der Provinz Kunar an der Grenze zu Pakistan im Osten Afghanistans offenbar eine Gruppe von zehn Menschen getötet, unter denen sich acht Schulkinder befinden sollen. Zuerst hatten Dorfbewohner im Bezirk Narang berichtet, bei dem Luftangriff seien mindestens acht Zivilisten getötet worden, bei denen es sich um Mitglieder einer Familie handle. Der Polizeichef der Provinz, Chalilullah Saiji, behauptete gegenüber der Nachrichtenagentur AP, in dem Bezirk seien bis zu zehn Aufständische getötet worden. Provinzgouverneur Sayed Fazelullah Wahidi sprach sogar von insgesamt elf Toten, wobei er ebenfalls erklärte, es habe sich ausschließlich um Extremisten gehandelt.

Letzteres war so unglaubwürdig, daß Präsident Hamid Karzai der NATO vorwarf, bei diesem Angriff Zivilisten getötet zu haben. In einer von seinem Büro in Kabul veröffentlichten Erklärung bezog sich Karzai auf erste Berichte über den Zwischenfall und verurteilte das Vorgehen der internationalen Truppen. Der afghanische Staatschef beauftragte eine Kommission, der auch Parlamentarier angehören sollen, mit der Untersuchung des Vorfalls. [1]

Vertreter der NATO in Kabul sagten ebenfalls eine Prüfung zu. Nachdem ein Sprecher der NATO-geführten ISAF-Truppe zunächst keine Einsätze oder Opfer in Kunar erwähnt hatte, sprach ein westlicher Militärexperte von einem unabhängig von der NATO geführten Einsatz von US-Sonderkräften, die in den Grenzregionen von Kunar zahlreiche Taliban getötet und gefangengenommen hätten. Anfang des Jahres waren bei Einsätzen von US-Spezialtruppen zahlreiche Zivilisten getötet worden. In Reaktion auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung hatte der damalige Chef des Joint Operations Command, William McRaven, die meisten Sondereinsätze für zwei Wochen komplett ausgesetzt. Inzwischen setzen die US-Militärs längst wieder verstärkt auf derartige Sondereinsätze. [2]

Was immer bei der offiziellen Untersuchung des mutmaßlichen Massakers verschleiert oder aufgeklärt wird, so steht jedenfalls fest, daß die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan weiter gestiegen ist. Wie aus Statistiken der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) hervorgeht, sind in den ersten zehn Monaten des Jahres knapp elf Prozent mehr Zivilisten als im Vergleichszeitraum des Vorjahres getötet worden. Bis Ende Oktober 2009 seien 2.038 Tote gezählt worden, im selben Zeitraum 2008 seien es 1.838 gewesen. Nach Angaben der UNAMA wurden mit 1.404 Opfern zwar die meisten Zivilisten bei Angriffen oder Anschlägen von Aufständischen getötet, doch brachten Truppen der Regierung oder der Besatzungsstreitkräfte demnach 468 Zivilisten um, während 166 Tote "anderen Akteuren" zugeschrieben werden. [3]

Ohne diese Zahlen mit einer getreuen Abbildung der realen Verhältnisse im afghanischen Kriegsgebiet zu verwechseln, dokumentiert die hohe und weiter wachsende Zahl ziviler Opfer durch Angriffe der Besatzungstruppen oder Regierungskräfte doch die zwangsläufige Folge des Versuchs, den Widerstand zu brechen, indem man immer mehr Soldaten in die Schlacht wirft. Derzeit sind in Afghanistan über 110.000 ausländische Soldaten stationiert, die in den ersten zehn Monaten dieses Jahres fast 470 Zivilisten getötet haben. Bis Ende kommenden Jahres sollen die USA weitere 30.000 und die NATO-Bündnispartner zusätzliche 6.800 Soldaten entsenden, so daß die Gesamtzahl auf nahezu 150.000 steigen wird. Den eskalierenden Blutzoll der Kriegsführung im Dienst hegemonialer und globalstrategischer Präsenz in dieser Weltregion tragen die Afghanen, gleich ob man sie durch das Visier westlicher Militärs betrachtet als "Taliban" oder "Zivilisten" klassifiziert.

Anmerkungen:

[1] Karzai wirft Nato erneute Tötung von Zivilisten vor (28.12.09)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,669311,00.html

[2] Offenbar Schulkinder bei Nato-Angriff getötet (28.12.09)
http://www.rp-online.de/panorama/ausland/Offenbar-Schulkinder-bei-Nato- Angriff-getoetet_aid_800369.html

[3] Zahl der zivilen Todesopfer in Afghanistan gestiegen (28.12.09)
http://de.news.yahoo.com/2/20091229/tpl-zahl-der-zivilen-todesopfer-in- afgha-ee974b3.html

29. Dezember 2009