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ASIEN/660: Karsais Zerrbild einer Dschirga soll Widerstand spalten (SB)


Strategie der Besatzungsmächte lockt Überläufer mit vagen Versprechen


In ihrer Geschichte kolonialistischer Ausbeutung, hegemonialer Suprematie und imperialistischer Intervention waren die Vereinigten Staaten und die europäischen Mächte stets bestrebt, in den von ihnen okkupierten Ländern und Regionen Regierungsformen zu installieren, die ihren Zwecken dienlich waren. Prinzipientreue war dabei nie ihr Problem, unterstützten sie doch skrupellos Diktaturen oder autoritäre Führungskasten wie sie auch demokratisch gewählte Regierungen sanktionierten oder stürzten, um ihre eigenen Zugriffsinteressen zu befördern. Unter dem Banner von Demokratie und Freiheit war alles erlaubt, selbst wenn man die damit gemeinhin verbundenen Ansprüche mit Füßen trat. Das gilt auch für Afghanistan, das sich so gar nicht mit dem von den Besatzungsmächten aufoktroyierten Regierungsmodell anfreunden mag, weshalb man sich inzwischen westlicherseits auf die Sprachregelung geeinigt hat, das Land sei noch nicht reif für diesen Schritt und werde es womöglich niemals sein.

Da sich die Okkupationsmächte dauerhaft am Hindukusch einnisten wollen, jedoch den überwiegenden Teil ihrer Truppenkontingente nach einer gewisser Frist freisetzen müssen, um anderswo ihren Kriegszug fortzusetzen, streben sie eine funktionsfähige Statthalterschaft an, die ihnen erhebliche Teile der Arbeit abnimmt. Das hat sich jedoch in Afghanistan als äußerst problematisch erwiesen, wo der Einfluß einer Zentralregierung sehr beschränkt ist. Der Rückgriff auf die Große Ratsversammlung (Loja Dschirga) ist aus Sicht der Besatzer keineswegs mit dem Zugeständnis verbunden, dieser Form der Beratung und Beschlußfassung einen ebenbürtigen Rang als Regierungsform einzuräumen. Vielmehr geht es nach wie vor darum, dem Widerstand den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man eine Führung installiert, die in den Augen der Bevölkerung eine gewisse Legitimität besitzt.

Bei der Dschirga handelt es sich ursprünglich um eine Zusammenkunft in kleinem Kreis, bei der auf dem Wege ausgiebiger Beratungen bis zur Einstimmigkeit Probleme innerhalb der Dorfgemeinschaft gelöst und Konflikte in den Außenbeziehungen zu unmittelbaren Nachbarn beigelegt wurden. Diese tief in der Tradition der Völker am Hindukusch verankerte Praxis entuferte mancherorts in umfassendere Verhandlungen unter Stammesführern, Politikern, Militärs oder gar Mitgliedern der Königsfamilie, womit sie zwangsläufig ihren Ursprüngen entfremdet und als Herrschaftsform gegen sie gekehrt wurde. Daß eine solche beratende Versammlung 1747 unweit der heutigen Stadt Kandahar zur Gründung der afghanischen Staatsdynastie durch Ahmad Khan führte, der die Loja Dschirga institutionalisierte, belegt diese Indienstnahme durch die damals führenden Kräfte. [1]

Dessen ungeachtet handelt es sich um eine in ihrem regionalen und kulturellen Kontext eigenständige und tragfähige Form der Entscheidungsfindung und Legitimation politischer Autorität, die aus westlicher Perspektive als rückständig zu kritisieren nur Ausdruck perfektionierter Herrschaftssicherung und imperialistischer Einflußnahme sein kann. Neben beträchtlichen moralischen und ethischen Anforderungen an die Teilnehmer einer Dschirga müssen diese auch auf Grund ihrer Kompetenz in der Lage sein, getroffene Beschlüsse in ihren Heimatgemeinden umzusetzen. Hinzu kommt für eine Loja Dschirga, die im ganzen Land Anerkennung finden will, die Frage einer angemessenen Repräsentanz der ethnischen Vielfalt Afghanistans. Da die Besatzungsmächte jedoch nach dem Prinzip des Teilens und Herrschens verfahren, also eine Volksgruppe gegen die andere auszuspielen versuchen, erwächst an dieser Stelle ein kaum zu lösender Widerspruch.

Als Hamid Karsai, den die westlichen Mächte kraft ihre Willkür als Marionette in Kabul installiert hatten, im Jahr 2002 in einem großen Zelt auf dem Campus der Polytechnischen Hochschule als Präsident bestätigt wurde, brach man daher zwangsläufig mit dem fundamentalen Prinzip einer umfassenden Vertretung und Berücksichtigung aller Fraktionen, die es zu befrieden galt. Auch die neue Verfassung, welche die Große Ratsversammlung nach zähen Verhandlungen 2004 verabschiedete, war von vornherein mit diesem Makel behaftet.

Die Loja Dschirga, der ein eigenes Kapitel der Verfassung gewidmet ist, wird dort als "die höchste Manifestation des Willens des afghanischen Volkes" definiert. Diesem Anspruch genügt die von Karsai einberufene "Friedens-Dschirga", die heute in Kabul zu Ende geht, definitiv nicht, weshalb sie keinen bindenden Charakter hat. In einer Presseerklärung aus Kreisen der Taliban wurde die Veranstaltung als "Propaganda der Invasoren" verworfen, deren Teilnehmer den USA nur einen Vorwand für eine eskalierende Kriegsführung lieferten. Friedensverhandlungen seien nur nach einem vollständigen Abzug aller Besatzungstruppen möglich. Die Rebellengruppe Hisb-i-Islami des Kriegsherrn und früheren Premiers Gulbuddin Hekmatjar bezeichnete die Konferenz als "sinnlose Übung", weil "nur handverlesene Leute" eingeladen seien. Die im Norden und Nordosten des Landes kämpfende Gruppe hat einen eigenen Plan vorgelegt, der eine Übergangsregierung, den Abzug aller ausländischen Truppen bis Jahresende und danach die Wahl einer islamischen Regierung vorsieht.

Abdullah Abdullah, Gegenkandidat bei der von Karsai massiv manipulierten Präsidentenwahl im Vorjahr, geht davon aus, daß das Ergebnis der Dschirga keine Fortschritte im Friedensprozeß bringen wird. Viele Minderheiten des Landes befürchten, daß Karsai mit dem von ihm angestrebten Abkommen mit den Taliban, die wie er der größten Volksgruppe der Paschtunen angehören, ein Regime zu ihren Lasten etablieren möchte. Zugleich setzte es aus mehreren überwiegend von Paschtunen bewohnten Provinzen Beschwerden, weil die von Stammesältesten und örtlichen Politikern nominierten Personen nicht zur Kabuler Versammlung eingeladen wurden.

Was derzeit als Ansatz zur Befriedung Afghanistans von Karsai vorgetragen wird, folgt im Prinzip der Vorgehensweise der Besatzungsmächte im Irak, den nicht zu gewinnenden Krieg gegen den Widerstand durch Bestechung zu ihren Gunsten zu wenden. Der Präsident hatte das Konzept einer "Friedens-Dschirga" erstmals auf der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar präsentiert, welches vorsieht, Kämpfer des Widerstands mit finanziellen Anreizen zum Niederlegen ihrer Waffen zu bewegen. Die Besatzungsmächte haben dazu ein mit rund 130 Millionen Euro finanziertes "Friedens- und Reintegrationsprogramm" aufgelegt, aus dem angeblich Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Entwicklungshilfe in den Heimatdörfern finanziert werden soll. Einfachen Kämpfern soll Straffreiheit zugesichert werden, falls sie die Waffen niederlegen und die Verfassung anerkennen, Anführern könnte unter anderem der Gang ins Exil angeboten werden, sofern sie sich vom Netzwerk Al Qaida lossagen.

Diese "Wiedereingliederung" unter Voraussetzung der genannten Bedingungen folgt dem Diktat der US-Regierung, die den Widerstand durch massenhaftes Herauskaufen von Überläufern brechen will. Verhandlungen oder gar Abkommen mit der höheren Führungsebene des Gegners schließt Washington aus, wo man darauf bedacht ist, Karsai an der kurzen Leine zu halten. Dieser hatte im letztjährigen Wahlkampf behauptet, er sei jederzeit bereit, sich mit den höchsten Führern der Taliban zum Gespräch zu treffen, was bei den Besatzungsmächten die Alarmglocken schrillen ließ. Die bereits Anfang Mai geplante "Friedens-Dschirga" wurde vertagt, um Karsai nach Washington einzubestellen und ihn auf den erwünschten Kurs einzuschwören. Nicht zuletzt legte man Wert auf eine sorgfältige Auswahl der Versammlungsteilnehmer, damit es zu keinen Mißfallenskundgebungen oder nicht hinzunehmenden Beschlüssen käme. [2]

Damit ist klar, daß es sich bei den 1.600 Teilnehmern der mehr oder minder handverlesenen Versammlung nicht um Delegierte handelt. Die Zusammenkunft mutet allenfalls wie das Zerrbild einer Dschirga an, das sich dieses landestypischen Verfahrens bemächtigt, um Legitimität und breite Zustimmung in der Bevölkerung zu simulieren. Die nach Kabul eingeladenen lokalen Würdenträger, Geistlichen, Parlamentarier sowie Vertreter ethnischer Gruppen und der Zivilgesellschaft sollten den von den Besatzungsmächten und deren Statthalter Karsai favorisierten Ansatz zur Spaltung des mit massiv aufgestockten militärischen Mitteln bekriegten Widerstands befördern. "Schließt Frieden mit mir, und wir werden keine Ausländer mehr hier brauchen", verkündete der Präsident. Solange die Kämpfe andauerten, werde das nur den Abzug der internationalen Truppen verhindern.

Daß die Ratsversammlung von 12.000 zusätzlichen Sicherheitskräften in Kabul geschützt werden mußte, wobei afghanische Soldaten und Polizisten von der Internationalen Schutztruppe ISAF unterstützt wurden, spricht eine andere Sprache. Trotz strengster Sicherheitsvorkehrungen kam es beim Auftakt der Zusammenkunft zu Raketenangriffen und Gefechten, denen Karsai in einem gepanzerten Konvoi entfloh. [3] Er hatte zuvor in seiner Eröffnungsrede an die Taliban appelliert, die Waffen niederzulegen: "Ich rufe Dich wieder dazu auf, mein Bruder, mein lieber Talib, kehre zurück. Dies ist Dein Land." In ihr Land zurückgekehrt sind die "Taliban" bereits, doch erteilen sie der vom Pseudopräsidenten und den Besatzungsmächten diktierten Reihenfolge, wer zuerst die Waffen zu strecken habe, offensichtlich eine dezidierte Absage.

Anmerkungen:

[1] Taliban-Anschlag gegen die Friedens-Dschirga in Afghanistan (03.06.10)
Neues Deutschland

[2] Washingtons Spielregeln. "Friedensdschirga" in Kabul. Politspektakel von Taliban-Angriff begleitet (03.06.10)
junge Welt

[3] Afghanische Friedens-Jirga unter Feuer. Versammlung zur Aussöhnung mit den Taliban von Anschlägen überschattet (02.06.10)
NZZ Online

4. Juni 2010