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ASIEN/707: NATO-Gipfel im Zeichen der Afghanistan-Abzugscharade (SB)


NATO-Gipfel im Zeichen der Afghanistan-Abzugscharade

Westliches Militärbündnis führt Afghanistankrieg zum Selbstzweck


In Lissabon treffen sich heute und morgen - 19. und 20. November - die Regierungschefs aller NATO-Staaten samt ihrer Außenminister, Verteidigungsminister und wichtigsten Militärberater zum Gipfeltreffen. Ganz oben auf der Tagesordnung steht offiziell die Verabschiedung des neuen strategischen Konzepts der NATO einschließlich des Ausbaus einer echten Partnerschaft mit Rußland. Doch das vorherrschende Thema auf der Konferenz dürfte der Krieg in Afghanistan sein, der inzwischen mehr als neun Jahre andauert, an dem rund 150.000 NATO-Soldaten teilnehmen und dessen Ende nicht in Sicht ist. Angesichts der großen Ablehnung, die in Bezug auf das NATO-Engagement nicht nur bei den Menschen in Afghanistan, sondern auch in den westlichen Industriestaaten vorherrscht, werden die versammelten Honoratioren in der portugiesischen Hauptstadt eine große Abzugsdebatte veranstalten. Für einige kleinere NATO-Staaten wie die Niederlande dürfte die Abzugsdebatte ernst gemeint sein, für die größeren jedoch nur lediglich Scheincharakter haben. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz richten sich zumindest die Amerikaner bereits dauerhaft in Afghanistan ein.

Als Ende 2009 US-Präsident Barack Obama nach monatelangen Beratungen dem Drängen seiner Militärs nachgab und die Zahl der in Afghanistan stationierten Soldaten um 30.000 erhöhte, versprachen ihm im Gegenzug Verteidigungsminister Robert Gates, der Generalstabchef Admiral Michael Mullen und der damalige CENTCOM-Chef und heutige ISAF-Oberkommandeur General David Petraeus, an dem vereinbarten Termin für den Beginn des Abzugs amerikanischer Truppen im Juli 2011 würde nicht gerüttelt werden - selbst wenn man nicht, wie geplant, bis dahin den Vormarsch der Taliban gestoppt hätte. Nach der Entsendung der zusätzlichen Truppen dauerte es jedoch nicht lange, bis Petraeus anfing, die Frage des Truppenabzugs von den Bedingungen vor Ort abhängig zu machen. Es spricht für den enormen Rückhalt, den Petraeus im Militärapparat, im Kongreß und bei den US-Medien genießt, daß es Obama nicht gewagt hat, dem aufmüpfigen Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Afghanistan zu widersprechen.

Obama würde gerne mit dem Abzug im Juli 2011 beginnen, um sich 2012 bei der Präsidentenwahl als derjenige zu präsentieren, der die von George W. Bush begonnenen Kriege im Irak und Afghanistan zu einem ordentlichen Abschluß gebracht hat. Nimmt der Krieg in Afghanistan an Heftigkeit zu bzw. flammen die Kämpfe im Irak, wo die politische Lage unter den Schiiten, Sunniten und Kurden hochgradig instabil ist, wieder auf, wird sich das mit Sicherheit negativ auf Obamas Chancen auf eine zweite Amtszeit im Weißen Haus auswirken. Vor diesem Hintergrund dürfte es Obama nicht gefallen haben, daß in den vergangenen Tagen Gates, Mullen und Außenministerin Hillary Clinton 2014 zum entscheidenden Datum in der Afghanistanfrage erklärt haben. Bis zu jenem Jahr sollen die afghanischen Streitkräfte dermaßen gut ausgebildet und ausgerüstet worden sein, daß sie von der NATO die Verantwortung für die Sicherheit im eigenen Land übernehmen können.

Doch selbst das Datum 2014 ist nicht in Stein gemeißelt. Laut Mark Sedwill, dem höchsten zivilen NATO-Vertreter in Kabul, werden die westlichen Streitkräfte eventuell noch lange nach diesem Termin den afghanischen Kameraden bei der Befriedung ihres Landes helfen müssen. General Sir David Richards, der britische Generalstabschef, geht sogar weiter. Ihm zufolge werden die westlichen Truppen in Afghanistan mindestens "30 bis 40 Jahre" eine militärische Rolle spielen. Laut einem Interview mit Richards, das am 14. November bei der englischen Zeitung Daily Mail erschienen ist, ist bei der NATO "allen klar", daß man viel länger als vier bis fünf Jahre in Afghanistan wird bleiben müssen. Die entsprechenden "Plänen existieren bereits" und werden auf dem Gipfel in Lissabon "klarer" werden, so Richards.

Dagegen wird der eigentliche Sinn des NATO-Engagements in Afghanistan, das ursprünglich als Jagd auf Osama Bin Laden, den mutmaßlichen Drahtzieher der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 angefangen hat, überhaupt nicht klarer. Im selben Interview hatte Richards zugegeben, daß der Krieg in Afghanistan nach herkömmlichen Maßstäben nicht zu gewinnen ist, gleichzeitig jedoch behauptet, er müsse fortgesetzt werden, um "den islamischen Extremismus soweit einzudämmen, daß unser Leben und das unserer Kinder in Sicherheit geführt werden" könne. Das ist natürlich Humbug. Nach Angaben der CIA befinden sich die meisten Al-Kaida-Extremisten, von denen es auf der Welt nur einige hundert überhaupt gibt, in Pakistan. Der Afghanistankrieg, den die NATO in letzter Zeit mit verstärktem Einsatz von Luftangriffen und Spezialstreitkräften forciert, treibt wegen der vielen zivilen Opfer die Afghanen in die Arme der Taliban. Folglich dämmt der Krieg den "Extremismus" überhaupt nicht ein, sondern fördert ihn im Gegenteil.

Angesichts dieser Tatsache hat am 12. November der enorm einflußreiche Council on Foreign Relations (CFR) einen 100seitigen Bericht veröffentlicht, den Richard Armitage, einst Stellvertretender Außenminister George W. Bushs, und Samuel "Sandy" Berger, einst Nationaler Sicherheitsberater Bill Clintons, zusammen mit dem Asienexperten Daniel Markey verfaßt hatten und in dem es hieß, die USA und ihre NATO-Verbündeten sollten die Anzahl ihrer Soldaten in Afghanistan so schnell wie möglich auf 10.000 bis 20.000 reduzieren und die Bemühungen von Präsident Hamid Karsai um ein Friedensabkommen mit den Taliban unterstützen, um die nicht mehr zu leistende Ressourcenverschwendung am Hindukusch zu beenden und damit endlich wieder Ruhe in den paschtunischen Siedlungsgebieten beiderseits der afghanisch-pakistanischen Grenze einkehren zu lassen.

Ob sich die Taliban mit einer solchen reduzierten westlichen Truppenpräsenz, die hauptsächlich um Kabul herum und im nördlichen Afghanistan anzusiedeln wäre, abfinden könnten, ist ungewiß. Fest steht dagegen, daß die Friedensbemühungen Karsais von Petraeus regelrecht torpediert werden. Als zum Beispiel der afghanische Präsident in einem längeren Interview, das am 14. November bei der Washington Post erschienen ist, sich für eine starke Reduzierung der nächtlichen Razzien der Spezialstreitkräfte im Süden Afghanistans aussprach, weil sie die Bevölkerung dort in Aufruhr versetzten, reagierte der Lieblingsgeneral von Amerikas Militaristen dermaßen verärgert, daß sich drei Tage später Karsai in einem Vier-Augen-Gespräch in Kabul entschuldigen und erklären mußte, er sei mißverstanden worden und unterstütze Petraeus' Aufstandsbekämpfungsstrategie voll und ganz. Offenbar ist Obama nicht der einzige Präsident, der nach der Pfeife von Petraeus tanzt. Möglicherweise hält dieser am "Afghanistankrieg" wegen der Aussicht fest, selbst 2012 bei der Präsidentenwahl als Kandidat der Republikaner anzutreten. Einen anderen Sinn scheint die derzeitige Eskalationsstrategie der NATO im Süden Afghanistans nicht zu haben.

Bei einem Auftritt am 9. November vor dem außenpolitischen Ausschuß des Londoner Unterhauses hat Sir Sherard Cowper-Coles, der ehemalige britische Botschafter in Kabul, den seines Erachtens zu sehr auf militärische Stärke setzenden Ansatz der NATO in Afghanistan kritisiert, sich gleichwohl für ein jahrzehntelanges Engagement der nordatlantischen Allianz am Hindukusch - in Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort, versteht sich - stark gemacht. In einem am 18. November unter der Überschrift "Former British ambassador forecasts 50-year foreign role in Afghanistan" erschienenen Bericht zitierte die World Socialist Website den ehemaligen Diplomaten mit einer interessanten Bemerkung: "Die meisten Afghanen glauben, daß wir bzw. die Amerikaner dort sind bzw. eine langfristige Militärpräsenz anstreben, um irgendeine Art neokolonialer Hegemonie über die Region zu erlangen. Doch das glauben sie nicht rational." Rational oder nicht, die landläufige Einschätzung der gemeinen, häufig wenig gebildeten Afghanen leuchtet mehr ein, als die nebulösen Begründungen westlicher Politiker und Militärs, was die NATO-Präsenz in Afghanistan betrifft.

19. November 2010