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ASIEN/757: NATO-Intervention in Afghanistan geht kläglich zu Ende (SB)


NATO-Intervention in Afghanistan geht kläglich zu Ende

Nordatlantiker auf der verzweifelten Suche nach einer "exit strategy"


Bekanntlich rühmt sich die NATO, die stärkste Militärallianz zu sein, welche die Erde jemals gesehen hat. Nach dem raschen, mit Luftangriffen und Spezialstreitkräften erzwungenen Sturz der Taliban-Regierung in Afghanistan Ende 2001 meinten die Nordatlantiker unter ihren damaligen Wortführern George W. Bush und Donald Rumsfeld, das Kriegswesen revolutioniert und auf absehbare Zeit keinen ernsthaften Gegner mehr zu haben. Mehr als zehn Jahre und 400 Milliarden Dollar später sieht die Lage ganz anders aus. Die Taliban sind auf dem Vormarsch und scheinen den NATO-Streitkräften eine schmachvolle Niederlage zu bereiten, wie einst die Mudschaheddin der Sowjetarmee.

Vor allem bei der NATO-Führungsmacht USA wollte niemand etwas von Afghanistan als "Friedhof der Imperien" wissen oder auf die Kassandrarufe der Historiker hören. Im Weißen Haus als auch im Pentagon wußte man alles besser. Dort hat sich niemand vorstellen können, daß sich das schlecht ausgerüstete Islamische Emirat Afghanistan des einäugigen Mullahs Muhammed Omar und seiner ehemaligen Koranschüler jemals Amerika, dessen waffenstarrende Hightech-Armee jedes Jahr die Hälfte der weltweiten Militärausgaben verschlingt und das seit Jahrzehnten mit der wohlklingenden Mission zur Verbreitung von "Freiheit" und "Demokratie" in der Weltgeschichte unterwegs ist, wiedersetzen könnte. Tatsächlich ist es aber so gekommen.

Der Anfangserfolg in Afghanistan war dem Republikaner Bush und den Neokonservativen offenbar zu Kopf gestiegen. Eineinhalb Jahre später marschierten die US-Streitkräfte in den Irak ein und konnten den von den westlichen Medien zum "Wüstenhitler" aufgebauschten Saddam Hussein stürzen, mußten sich aber in einen verlustreichen Kleinkrieg mit sunnitischen und schiitischen Milizen verwickeln lassen. Als sich der Demokrat Barack Obama 2008 als Nachfolger Bushs zum US-Präsidenten wählen ließ, geschah dies mit dem Wahlkampfversprechen, die amerikanischen Soldaten aus dem Irak nach Hause zu holen. Gleichzeitig aber wollte sich Obama dem von Bush und Rumsfeld vernachlässigten Krieg in Afghanistan, wo der Wiederaufbau aufgrund von Korruption und Verschwendung nur schleppend vorankam und die Taliban inzwischen größeren Zulauf genossen, zuwenden. Nach dem Einzug ins Weiße Haus gab Obama dem Drängen seiner wichtigsten Militärberater, des damaligen Verteidigungsministers Robert Gates, des damaligen CENTCOM-Chefs General David Petraeus und des damaligen ISAF-Oberkommandeurs General Stanley McChrystal, nach einer kräftigen Truppenaufstockung nach.

Innerhalb eines Jahres verdreifachte sich die Anzahl der US-Streitkräfte auf rund 100.000 Mann. Mit der Eskalationsstrategie, dem sogenannten "Surge", unter anderem durch verstärkte Einsätze von Spezialstreitkräften, sollte der Vormarsch der Taliban gestoppt und sie sprichwörtlich "an den Verhandlungstisch bombardiert" werden. Dort sollten sie ihren Widerstand gegen die geplante dauerhafte Stationierung von ausländischen Truppen am Hindukusch öffentlich aufgeben und dafür mit irgendeiner Beteiligung an den neuen afghanischen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen belohnt werden (Vorausgesetzt natürlich, sie versprächen niemals wieder etwas mit dem Al-Kaida-"Netzwerk" zu tun zu haben). Auch wenn die Truppenaufstockung zu keiner eindeutigen Verbesserung der Kriegssituation zugunsten der NATO führte, nahmen der Presse zufolge die Taliban und Obama-Regierung Ende letzten Jahres geheime Vorgespräche über Friedensverhandlungen auf. Auf diesem Wege sollte der NATO der Ende 2011 in Lissabon beschlossene Abzug aller westlichen Kampftruppen bis 2014 ermöglicht werden.

Ob man bei den Verhandlungen eine friedliche Kompromißlösung hätte erzielen können, bleibt vorerst unklar, denn zu rapide verschlechtert sich seit Anfang 2012 die strategische Lage für die NATO in Afghanistan. Die Veröffentlichung von Videobildern amerikanischer Soldaten, die auf getötete Taliban-Kämpfer urinieren und dabei Witze reißen, sowie die Nachricht von der Entsorgung mehrerer Kopien des Korans in einer Müllverbrennungsanlage auf dem Gelände des US-Militärstützpunktes Bagram bei Kabul haben zu landesweiten Protesten geführt und die Stimmung in der afghanischen Bevölkerung endgültig gegen die ausländischen Invasoren kippen lassen. Immer wieder werden westliche Militärs von afghanischen Polizei- oder Armeekollegen angegriffen. Sie sind inzwischen an keinem Ort in Afghanistan ihres Lebens sicher. Dies wurde eindrücklich demonstriert, als am 1. März innerhalb des Innenministeriums in Kabul ein Mitglied des afghanischen Geheimdienstes einen Obersten und einen Major aus den USA erschoß - angeblich, weil diese sich über die Koranverbrennungen lustig gemacht hatten. Sechs Tage später kamen gleich sechs britische Soldaten ums Leben, als bei einer Patrouillenfahrt eine Mine unterhalb ihres Panzerwagens explodierte.

Das Massaker in der Nähe von Kandahar, als in den frühen Morgenstunden des 11. März ein 38jähriger Scharfschütze der US-Infanterie seinen Stützpunkt verließ, zu einem nahegelegenen Dorf ging und dort 16 Zivilisten - zumeist Frauen und Kinder - kaltblütig erschoß, hat Empörung und Entsetzen in Afghanistan ausgelöst. Die Medien sind seitdem voller Aussagen einfacher Afghanen, die bislang wenig für die Taliban übrig hatten, jetzt aber zu ihnen überlaufen oder sie künftig unterstützen wollen.

Wie heikel die Afghanistan-Mission für die NATO inzwischen geworden ist, zeigt der gescheiterte Anschlag vom 14. März auf dem US-Militärstützpunkt Camp Bastion bei Helmand auf den US-Verteidigungsminister Leon Panetta. Gerade als der ehemalige CIA-Chef, aus Kirgisien kommend, landete, raste ein gestohlener Wagen auf sein Flugzeug zu, geriet jedoch in einen Graben und ging in Flammen auf. Wäre der an seinen Verletzungen inzwischen verstorbene Selbstmordattentäter nur 300 Meter näher an Panettas Maschine herangekommen, wäre den Taliban ein spektakulärer PR-Coup gelungen. Am 15. März haben die Taliban unter anderem in Reaktion auf das Massaker von Kandahar formell alle Gespräche mit Vertretern der NATO für beendet erklärt. Angesichts der Entwicklung und der zunehmend von westlichen Politikern und Kommentatoren geäußerten Zweifel am Sinn der Afghanistan-Mission haben die Taliban offenbar solche Gespräche nicht mehr nötig.

15. März 2012