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ASIEN/872: Nordkorea pocht auf sein Recht der Selbstverteidigung (SB)


Nordkorea pocht auf sein Recht der Selbstverteidigung

Die USA tragen die Hauptverantwortung für die Atomkrise mit Nordkorea


Seit Nordkorea 2006 seinen ersten Atomtest durchführte, hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York neunmal Sanktionen gegen das kommunistische Land verhängt. Die jüngsten Sanktionen, die am 11. September mit den Stimmen aller fünf Vetomächte - China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA - verabschiedet wurden, schränken unter anderem durch ein Exportverbot für Textilien die Handelsmöglichkeiten Nordkoreas mit der Außenwelt stark ein. Sie erfolgten als Reaktion auf den erstmaligen Test einer Wasserstoffbombe durch die Nordkoreaner am 3. September und den Abschuß einer Mittelstreckenrakete über Japan hinweg in den Pazifischen Ozean am 29. August. Bereits am 4. Juli - nicht zufällig am Nationalfeiertag der USA - hatte Nordkorea erstmals eine Interkontinentalrakete getestet und damit eindrucksvoll seine wachsende Abschreckungsfähigkeit demonstriert. Damit geraten zum erstenmal auch Ziele nicht nur in Alaska, auf Hawaii und den amerikanischen Überseegebieten wie Guam, sondern auch die kontinentalen Vereinigten Staaten in Reichweite ballistischer Raketen aus Nordkorea.

Die Regierung von US-Präsident Donald Trump bezeichnet das Abschreckungspotential Nordkoreas als "inakzeptabel" und droht ihrerseits mit einem Krieg, der Millionen von Menschen das Leben kosten würde, um das Atomwaffenarsenal Pjöngjangs zu zerstören. Die westlichen Partner Washingtons werden nicht minder überspannt, wenn es darum geht, Nordkorea das nach der UN-Charta allen souveränen Staaten zustehende Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen. So erklärte nach der jüngsten Abstimmung im UN-Sicherheitsrat Frankreichs Botschafter Francois Delattre, Nordkoreas Atomwaffen stellten "keine regionale, sondern eine globale Bedrohung, keine virtuelle, sondern eine unmittelbare Bedrohung, keine ernsthafte, sondern eine existentielle Bedrohung" dar.

Das ist natürlich ganz großer Humbug. Jeder Staatsmann und jeder Militär weiß, daß Nordkoreas Atombomben ausschließlich eine defensive Funktion erfüllen. In Pjöngjang käme man niemals auf die Idee, die USA nuklear anzugreifen, denn dies hätte die völlige Auslöschung Nordkoreas durch die um Lichtjahre überlegenere Supermacht zur Folge. Schätzungen zufolge verfügen die Nordkoreaner über rund 20 Atomsprengköpfe, von denen kein ausländischer Experte sagen kann, ob sich überhaupt einer davon für den Transport mit einer ballistischen Rakete technisch eignet. Die USA dagegen haben 1550 Atomsprengköpfe dauerhaft in Dienst und jederzeit einsatzbereit - sei es per Flugzeug, Interkontinentalrakete oder U-Boot im Rahmen der sogenannten "nuklearen Triade", des Heiligen Grals von Amerikas Stahlhelmfraktion.

Siegfried Hecker, der ehemalige Leiter des US-Atomlabors Los Alamos, der als einziger ausländischer Gast die nordkoreanischen Nuklearwaffenlager besuchen durfte - insgesamt sieben Mal in den letzten Jahren - hat in einem eigenen Artikel, der am 7. August beim renommierten Bulletin of Atomic Scientists erschienen ist, das Verhalten Kim Jong-uns als völlig rational bezeichnet und die These vom "irren" nordkoreanischen Staatschef als Propagandamärchen abgetan. Im Gespräch mit ihm, Hecker, hätten die Nordkoreaner immer wieder auf das Schicksal von Libyens Muammar Gaddhafi hingewiesen, der nach dem Verzicht auf Massenvernichtungswaffen mit Hilfe der NATO gestürzt und bestialisch ermordet wurde, und versprochen, daß ihnen der gleiche Fehler nicht unterlaufen würde.

Hecker hat vor einigen Wochen in einem Brief an das Weiße Haus Trump ausdrücklich davor gewarnt, durch unvorsichtige Äußerungen und unüberlegte Handlungen in einen Krieg mit Nordkorea hineinzuschlittern. Die Gefahr ist real. Trump setzt auf Drohungen, bietet Nordkorea nichts und verlangt von China, daß Peking Pjöngjang zum Einlenken bewegt. Gleichzeitig arbeiten Trump und seine UN-Botschafterin Nikki Haley fieberhaft daran, einen Vorwand zu produzieren, mit dem Washington den 2015 von der Regierung Barack Obamas sowie von China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Rußland unterzeichneten Atomvertrag mit dem Iran einseitig aufkündigen kann. Das unverfrorene Doppelspiel Trumps gegenüber Teheran trägt sicherlich nicht dazu bei, das Vertrauen Pjöngjangs in etwaige Zusicherungen seitens der Amerikaner zu erhöhen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein, wie der jüngste Test einer nordkoreanischen Mittelstreckenrakete über Japan hinweg am 14. August zeigt.

Auch Rußlands Präsident Wladimir Putin hat wiederholt davon abgeraten, Nordkorea in eine Ecke zu treiben. Laut Putin würden die Nordkoreaner eher "Gras essen", als auf ihr Atomwaffenprogramm zu verzichten, "solange sie sich nicht sicher fühlen". Offiziell hat Pjöngjangs UN-Botschafter, Kim In Ryong erklärt, daß Nordkorea "niemals über seine nukleare Verteidigungsfähigkeit verhandeln" werde, "solange die USA ihre feindselige Politik und ihre atomaren Drohungen fortsetzen". Die Formulierungen Kims läßt die Möglichkeit von Verhandlungen über eine Beendigung des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms offen. Doch dazu wäre erforderlich, daß die USA Entgegenkommen signalisieren und im Gegenzug auf ihre provokativen Kriegsmanöver mit Südkorea verzichten und Nordkorea diplomatisch anerkennen. Doch dazu zeigt sich Washington bislang keineswegs bereit.

Zweimal - 1994 im Rahmen des Framework Agreements mit der Administration Bill Clintons und 2005 infolge der Sechsergespräche in Peking - hat sich Nordkorea verpflichtet, atomar abzurüsten. Beide Male jedoch wurde eine Umsetzung der Vereinbarungen von amerikanischer Seite verschleppt, torpediert und schließlich zunichte gemacht. Der Ausstieg Nordkoreas aus dem Nicht-Verbreitungsvertrag erfolgte 2003, nachdem im Jahr davor George W. Bush das Land zum Teil einer "Achse des Bösen" zusammen mit dem Irak Saddam Husseins und dem Iran erklärt hatte. Damals berief sich Nordkorea auf sein Recht auf Selbstverteidigung und tut es noch heute. Die USA und die anderen vier offiziellen Atommächte - China, Frankreich, Großbritannien und Rußland - sind Unterzeichnerstaaten des seit 1970 gültigen Nicht-Verbreitungsvertrags, weigern sich jedoch seit fast 50 Jahren, ihren Verpflichtungen zur Beseitigung der eigenen Nuklearwaffenarsenale nachzukommen.

2009 hat Barack Obama allein wegen des öffentlichen Bekenntnisses zur Wünschbarkeit einer atomfreien Welt den Friedensnobelpreis erhalten. Im letzten Amtsjahr 2016 hat derselbe Obama ein vom Kongreß verabschiedetes Gesetz zu einer eine Billion Dollar teuren Modernisierung des US-Sprengkopfarsenals unterzeichnet. Aktuell diskutieren Weißes Haus, Kongreß und Pentagon über den Bau einer neuen Generation von Mini-Nukes, welche die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen in Krisensituationen herabsetzen sollen; dies berichtete am 9. September die Onlinezeitung Politico.

Als im vergangenen Juli die Abgesandten von 122 Nationen den neuen internationalen Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichneten, haben alle offiziellen Atommächte und inoffiziellen - Israel, Indien, Pakistan - bis auf eine die feierliche Zeremonie am UN-Hauptquartier in New York boykottiert. Das einzige Land, das über Atomwaffen verfügt und sich dennoch zum Verzicht darauf im Rahmen einer globalen Abrüstunginitiative bereiterklärt hat, war Nordkorea mit seiner ach so "verrückten" Staatsführung. Stellte man ernsthaft die Frage, wer in der Koreakrise der wirkliche Aggressor ist, könnte man vielleicht auf eine ganz andere Antwort kommen als jene, welche die westlichen Medien einem tagein, tagaus einzubleuen versuchen.

4. September 2017


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