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ASIEN/917: Indien - unter Druck ... (SB)


Indien - unter Druck ...


Der Bombenanschlag, der am 14. Februar in Pulwama in dem von Indien besetzten Teil Kaschmirs 44 indische Soldaten das Leben kostete, sorgt für erhebliche Spannungen zwischen Neu-Delhi und Islamabad. Indien wirft Pakistan vor, den Hintermännern dieser und anderer Anschläge kaschmirischer Aufständischer Unterschlupf zu gewähren und damit Verantwortung für das Massaker zu tragen. Beim Pulwama-Vorfall verzeichneten die indischen Streitkräfte die höchsten Verluste an einem Tag seit Beginn des Kaschmir-Aufstands im Jahr 1989. Der Anschlag kommt für den indischen Premierminister Narendra Modi von der regierenden hindu-nationalistischen Bharatiya Janatha Party (BJP) zu einem ungünstigen Zeitpunkt, finden doch im April und Mai in Indien Parlamentswahlen statt. Da offensichtlich ist, daß Modis seit 2014 verfolgte Politik der harten Hand in Kaschmir die Krise nicht gelindert oder gar behoben, sondern nur noch verschärft hat, droht dies für die jingoistische BJP bei der Wahl zum Bumerang zu werden. Es sei denn, dem unter Druck geratenem Premierminister gelingt es, militärische Vergeltung an Pakistan oder den Militanten in Kaschmir zu üben. Doch das ist ein riskantes Spiel, das bekanntlich in einen Atomkrieg ausarten könnte.

Der Kaschmir-Konflikt hat seinen Ursprung in der Teilung Britisch-Indiens in eine muslimisch dominierte Islamische Republik Pakistan und eine hinduistisch geprägte Republik Indien im Jahr 1947. Wäre es nach dem Willen der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gegangen, wäre das Fürstentum Jammu und Kaschmir beim Abzug der Briten ein Teil Pakistans geworden. Statt dessen entschied sich der damalige Maharadscha Hari Singh, ein Sikh, ganz allein für den Anschluß an Indien. Nach Bekanntmachung der umstrittenen Verfügung bemühten sich die neuen Streitkräfte Indiens und Pakistans, jeweils so viel von Jammu und Kaschmir zu besetzen, wie sie konnten. Dort, wo die beiden Armeen aufeinandertrafen, verläuft die sogenannte Line of Control (LoC), die heutige De-facto-Staatsgrenze.

1948 regten die Vereinten Nationen die Durchführung einer Volksbefragung über die Staatszugehörigkeit Jammu und Kaschmirs an. Im südlich von Kaschmir liegenden Jammu stellten - und stellen bis heute - die Hindus die Mehrheit. Doch die neue Regierung Indiens lehnte diesen Vorschlag ab und integrierte statt dessen den südöstlich der LoC liegenden größten Teil von Kaschmir zusammen mit Jammu als Autonomiegebiet in die indische Bundesrepublik. Das nordwestlich der LoC befindliche Gebiet kam als "Asad Kaschmir" oder "freies Kaschmir" zu Pakistan. Dreimal - 1965, 1971 und 1999 - haben Indien und Pakistan Krieg um Kaschmir geführt, ohne daß es dabei zu einer nennenswerten Veränderung des Verlaufs der LoC gekommen wäre.

Seit 1989 führen muslimische Aufständische, die vom pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) unterstützt werden, gegen die indische Armee in Jammu und Kaschmir einen Guerillakrieg, der bereits zweimal - nach Selbstmordanschlägen im Dezember 2001 auf das Parlament in Neu-Delhi und im November 2008 auf mehrere Prachtgebäude in Mumbai - Indien und Pakistan an den Rand eines Nuklearkrieges gebracht hat. Während im südlich gelegenen Jammu die große Hindu-Mehrheit bei Indien bleiben will, führen in Kaschmir die Anschläge und Überfälle der Separatisten sowie die Repressalien der indischen Ordnungskräfte, die im Verlauf der letzten rund 40 Jahre zusammen mehr als 70.000 Menschen das Leben gekostet haben, zu einer völligen Entfremdung zwischen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung und dem indischen Staat.

Im Juli 2016 brachen in Kaschmir als Reaktion auf den "Märtyrertod" des charismatischen, erst 22jährigen Rebellenführers Burhan Wani von der Gruppe Hisbul Mudschaheddin, der bei einem Schußwechsel mit der indischen Armee gefallen war, heftige Proteste in der Hauptstadt Srinagar und anderen Teilen des indisch-besetzten Kaschmirs aus. Neu-Delhi sah sich zur Verhängung eines Notstands einschließlich einer nächtlichen Ausgangssperre veranlaßt. Die Polizei schoß mit scharfer Munition auf die teils gewaltsamen Demonstranten und tötete mehr als 100 von ihnen. Über 1400 Kaschmiris wurden verhaftet, von denen im Gefängnis viele schwer mißhandelt wurden, woran einige sogar starben. Im September 2016 überfielen Kämpfer der Gruppe Jaisch-e-Mohammed (J-e-M) einen indischen Stützpunkt nahe der LoC. 18 Soldaten und vier Angreifer starben. Wenige Tage später führten indische Spezialstreitkräfte auf Befehl Modis "chirurgische" Vergeltungsschläge gegen pakistanische Armeestellungen westlich der LoC. Glücklicherweise blieb die Aktion seitens Pakistans unbeantwortet.

Bereits im Mai 2017 stellte in einem Gastbeitrag bei der Zeitung The Hindu der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Indiens, M. K. Narayan, fest, nicht Pakistan oder der "Terrorismus", sondern der drakonische Umgang mit der muslimischen Bevölkerung in Kaschmir sei die Hauptursache der anhaltenden Unruhen. Er warnte vor einem Massenaufstand ähnlich der palästinensischen Intifada und riet der Modi-Regierung dringend dazu, auf Pakistan zuzugehen, um mit der Staatsführung in Islamabad einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu suchen. Doch Premierminister Modi und die Hindu-Nationalisten wollten den Rat Narayans nicht hören und zogen statt dessen in Kaschmir die Schraube noch fester an.

Das Resultat ist der spektakuläre Selbstmordanschlag bei Pulwama auf der Landstraße zwischen Srinagar und Jammu. Der Täter, ein achtzehnjähriger Tagelöhner namens Aadil Ahmad Dar, war Ende letzten Jahres verschwunden und wie sich herausstellen sollte, als Freiwilliger der J-e-M beigetreten. Entscheidender Wendepunkt im Leben des "Terroristen" soll nach Angaben seiner Eltern eine schwere Malträtierung durch indische Soldaten gewesen sein, als er 2016 mit Freunden auf dem Heimweg von der Schule war. Im Bekennervideo, das die J-e-M kurz nach dem Anschlag veröffentlichte, erklärt Dar: "Denkt nicht, daß wir am Ende sind, nur weil ihr einige unserer Kommandeure getötet habt. Wir werden zu eurem Alptraum werden."

Experten gehen wegen der Größe der verwendeten Bombe von mehr als 300 Kilogramm davon aus, daß die J-e-M den verwendeten Sprengstoff nicht aus Pakistan, sondern in Kaschmir selbst beschafft, vermutlich aus den Beständen der am Ausbau des Landstraße zwischen Srinagar und Jammu beteiligten Unternehmen gestohlen hat. Dar steuerte den präparierten Allradwagen in einen riesigen Armeekonvoi hinein, mit dem am fraglichen Tag 2500 Militärangehörige nach ihrem Urlaub von der Front nach Srinagar zurückkehrten. Wie recht Narayan mit seiner Warnung vor einem Massenaufstand hatte, zeigen Berichte, wonach die indischen Streitkräfte am 18. Februar große Schwierigkeiten hatten, in Pulwama, südlich von Srinagar, ein Feuergefecht mit einer J-e-M-Einheit erfolgreich zu Ende zu führen, weil die örtliche Bevölkerung sie ständig mit Steinen bewarf. Bei der stundenlangen Aktion kamen nach offiziellen Angaben vier Soldaten, drei mutmaßliche "Terroristen", ein Polizist und ein Zivilist ums Leben.

19. Februar 2019


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