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ASIEN/935: Kashmir - Indiens harte Hand ... (SB)


Kashmir - Indiens harte Hand ...


Im mehrheitlich muslimisch bewohnten Jammu und Kaschmir, dessen in der Verfassung Indiens garantierter Autonomiestatus die hindunationalistische BJP-Zentralregierung in Neu-Delhi am 5. August illegal aufgehoben hatte, ist am 14. Oktober das Mobilfunknetz wieder freigeschaltet worden. Bereits im September konnte man wieder per Festnetz telefonieren, während vor einer Woche die Warnung an Touristen vor Reisen in das malerische Bergtal mit seinen vielen Seen aufgehoben worden war. Doch mit einer Normalisierung des Lebens in Jammu und Kaschmir ist nicht zu rechnen. Die weitere Eskalation des geopolitisch hochgefährlichen Streits um die Region, dessen Moslems, die 70 Prozent der 13 Millionen Einwohner ausmachen, die völlige Unabhängigkeit oder den Anschluß an Pakistan dem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Indien vorzögen, ist nach der Aufhebung des Autonomiestatus vorprogrammiert.

Seit dem Sieg der Bharatiya Janatha Party um Narendra Modi bei den indischen Parlamentswahlen 2004 hatten die rund 700.000 Sicherheitskräfte in Jammu und Kaschmir den Kampf gegen die separatistischen Gruppen, von denen Neu-Delhi behauptet, ohne Hilfe aus Pakistan gebe es sie gar nicht, erheblich forciert, ohne daß dies zur Beruhigung der Lage geführt hätte. Als Modi im Frühjahr seine Wiederwahl als Premierminister wegen der ausbleibenden Erfolge seiner Wirtschaftsreformen gefährdet sah, kam es zu einem spektakulären Ereignis, das die gesellschaftliche Debatte vollends von ökonomischen Themen auf die Sicherheitsfrage umlenkte.

Beim sogenannten Pulwama-Vorfall kamen am 14. Februar 44 indische Armeerekruten ums Leben, als eine Bombe neben einem Militärkonvoi auf der wichtigsten Nord-Süd-Straße unweit von Srinagar, der Hauptstadt von Kaschmir, explodierte. Zu dem Anschlag bekannte sich zwar die Gruppe Jaisch-e-Mohammed, doch stellten sich nicht nur viele Kaschmiris die Frage, woher die J-e-M die ungeheure Menge an Sprengstoff für die riesige Bombe bekommen hatte. Es wurde der Verdacht laut, der vermeintliche Selbstmordattentäter, ein von seiner Familie einige Wochen zuvor als vermißt gemeldeter Jugendlicher aus Kashmir, sei zuletzt nicht etwa in den "terroristischen" Untergrund verschwunden, sondern im Gewahrsam der indischen Sicherheitskräfte gewesen. Fest steht, daß die BJP und ihre Gewährsleute beim indischen Militärgeheimdienst in den letzten Jahren in verschiedenen Regionen Indiens nachweislich immer wieder tödliche Bombenanschläge verübt haben, die den Anschein erwecken sollten, dahinter steckten staatsfeindliche Islamisten.

Jedenfalls trugen die Luftangriffe, welche Neu-Delhi wenige Tage nach dem Pulwama-Vorfall gegen Ziele in Pakistan anordnete, nicht gerade zur Glaubwürdigkeit der Modi-Regierung bei. Das vermeintliche "Terrorlager", das die indischen Fliegerasse in die Luft jagten, stellte sich später bei genauerer Untersuchung durch internationale Pressevertreter als verlassene Berghütte heraus. Auch zur Bestätigung der Angabe indischer Behörden von Dutzenden liquidierten "Terroristen" ließ sich nicht der geringste Beweis erbringen. Lediglich Teile eines Waldes in einem pakistanischen Naturreservat waren in Brand geraten und zerstört worden. Beim Luftkampf im pakistanischen Luftraum Ende Februar wurde ein indischer Pilot abgeschossen, der sich per Schleudersitz und Fallschirm retten konnte und nach wenigen Tagen auf Geheiß Islamabads unversehrt und wohlbehütet an der Grenze übergeben wurde.

Am 8. April und damit gerade drei Tage vor dem Auftakt der Parlamentswahlen, die wegen der Größe Indiens und seiner Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen bis Mai andauerten, kündigte Modi an, im Falle eines BJP-Sieges in der nächsten Legislaturperiode den bislang autonomen Status Kaschmirs aufheben zu wollen. Als Grund nannte der hindunationalistische Technokrat die Notwendigkeit, die Infrastruktur in Jammu und Kashmir auszubauen und die Region an den Segnungen seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik teilhaben zu lassen. Als vordringliche Maßnahme nannte Modi die Freigabe des Kaufs kaschmirischen Bodens durch Menschen aus anderen Teilen Indiens, was bislang wegen des Autonomiestatus verboten war und wozu sich die regionale Volksvertretung in Srinagar niemals bereiterklärt hätte. Es wird nun nicht ganz zu Unrecht befürchtet, die BJP wolle durch steuerliche und sonstige Ansiedlungsanreize langfristig den Anteil der Hindus in Jammu und Kashmir von derzeit 30 Prozent erhöhen, um eventuell die Moslems zur Minderheit zu machen und den indischen Anspruch auf die Region mit demographischen Mitteln zu besiegeln.

Für die Richtigkeit dieses Verdachts spricht die Aussage des neuen von Neu-Delhi eingesetzten J&K-Gouverneurs Satya Pal Malik vom 28. August, wonach die Behörden in Srinagar mindestens 50.000 neue Beamten einstellen wollen. Angesichts des Umstands, daß Malik seit Anfang August rund 6000 Menschen, darunter zahlreiche Lokalpolitiker, hat festnehmen und zum Teil in Gefängnissen unterbringen lassen, die in anderen indischen Bundesstaaten liegen, sieht alles danach aus, als wolle Neu-Delhi in Jammu und Kashmir eine neue Beamtenschaft installieren, die dem Zentralstaat gegenüber absolut hörig ist und keine Sympathie für Loslösungsgedanken hegt. Bei der muslimischen Mehrheitsbevölkerung in Jammu und Kaschmir hat die enge wirtschaftliche und militärische Partnerschaft, welche Modi in den letzten Jahren zur Regierung Benjamin Netanjahus in Israel pflegt, Sorgen aufkommen lassen, Neu-Delhi werde sie wie Israel die Palästinenser behandeln und in allen Lebenslagen gegenüber Neusiedlern aus anderen Teilen Indiens benachteiligen. Mit der Aufhebung der Autonomie scheinen sich diese Befürchtungen zu bestätigen.

Pakistans Premierminister Imran Khan hat die Modi-Regierung Ende September beim Auftritt vor der UN-Generalversammlung in New York dafür heftig kritisiert, jedes Gesprächsangebot zum Thema Kaschmir-Konflikt ausgeschlagen und sich statt dessen für eine Politik der harten Hand entschieden. Khan prognostizierte, daß sich die Einheimischen in Jammu und Kaschmir die Bevormundung nicht gefallen lassen und gegen Neu-Delhis "Besatzungstruppen" zur Wehr setzen werden. Inzwischen tritt die Vorhersage Khans ein. Vor wenigen Tagen hat die militante Gruppe Hizbul Mudschaheddin Neuansiedler aus Restindien zu "legitimen Zielen" erklärt. Am 16. Oktober, dem bislang blutigsten Tag seit der Aussetzung der Autonomie, starben in Kashmir drei mutmaßliche "Rebellen" bei einer Razzia der Polizei und zwei Inder bei Überfällen mutmaßlicher Aufständischer. Bei seiner Rede in New York hatte der kosmopolitische Khan zudem dringend vor der Gefahr gewarnt, daß die Situation in Jammu und Kashmir weiter eskalieren und Indien und Pakistan in einen Atomkrieg hineinziehen könnte. Internationale Vermittlung wäre im Kashmir-Konflikt dringend geboten, nur hat sich Indien, als der damalige US-Präsident Barack Obama 2016 eine entsprechende Initiative anregte, jede ausländische Einmischung verbeten und ist seitdem von dieser Linie nicht mehr abgewichen.

17. Oktober 2019


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