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ASIEN/959: Indien - Frontstaat mit besonderem Gewicht ... (SB)


Indien - Frontstaat mit besonderem Gewicht ...


In den letzten Wochen sind in mehr als 3000 Meter Höhe, am Südrand des Himalayas, indische und chinesische Soldaten immer wieder aneinander geraten. Dort trennt die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde Indien und China eine mehr als 3000 Kilometer lange Grenze, deren Verlauf in weiten Teilen aus Sicht Neu-Delhis und Pekings nicht endgültig geklärt ist und deren offizieller Name Line of Actual Control (LAC) auf diesen Umstand verweist. Die jüngste Zuspitzung ist dramatischer als der Streit 2017 um den Ausbau einer Straße im chinesischen Chumbi-Tal, das zum Autonomen Gebiet Tibet gehört und zwischen dem indischen Bundesstaat Sikkim und Bhutan, das Neu-Delhi als Protektorat betrachtet, liegt.

Diesmal kam es zu Handgreiflichkeiten an mehrerer Abschnitten der Grenze, sowohl im Westen nahe Pakistan zwischen dem chinesischen Aksai Chin und dem indischen Ladakh als auch im Osten nahe Myanmar zwischen dem indischen Bundesstaat Aruchnal Pradesh und Tibet. Zwar wurden wie auch vor drei Jahren auf ausdrücklichen Befehl der Generäle keine Schüsse abgegeben, doch im Vergleich zur Rumschubserei von damals prügelten sich die Soldaten regelrecht und bewarfen sich gegenseitig mit Steinen. Mehr als elf Militärangehörige der beiden Atomstaaten wurden verletzt und mußten im jeweiligen Feldlazarett ärztlich behandelt werden. Hintergrund der jüngsten Eskalation sind die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China und das permanente Streben Washingtons, Indien in seine Eindämmungsstrategie gegenüber der Volksrepublik militärisch einzubinden.

Um Indien aus seiner im Kalten Krieg entstandenen, diplomatischen Neutralität herauszumanövrieren, haben die USA in den Nullerjahren, während der Präsidentschaft von George W. Bush, im Rahmen des sogenannten 1-2-3-Abkommens begonnen, "zivile" Nukleartechnologie an Indien zu liefern. Das war ein eklatanter Verstoß Washingtons gegen den Atomwaffensperrvertrag, dem Indien niemals beigetreten ist und dessen Nuklearanlagen deshalb von den Inspekteuren der internationalen Atomenergieagentur (IAEA) nicht kontrolliert werden. Seit 2007 gehört Indien zusammen mit den USA, Japan und Australien dem informellen, gegen China gerichteten Quadrilateral Security Dialogue - auch Quad genannt - an.

2016, im letzten Amtsjahr Barack Obamas als Präsident, haben die USA Indien in den Rang eines "wichtigen Verteidigungspartners" ähnlich eines NATO-Mitglieds erhoben, um den Weg für den Verkauf von High-Tech-Waffen Made in America an die indischen Streitkräfte freizumachen. Im Gegenzug stellte Indien seine Stützpunkte dem Pentagon zu logistischen Zwecken - Stichwort Afghanistankrieg bzw. Antiterrorkampf - zur Verfügung. Nur kurz nach den Rangeleien am Chumbi-Tal vereinbarten Präsident Donald Trump und Premierminister Narendra Modi beim indisch-amerikanischen Gifteltreffen in Washington den Verkauf von 22 amerikanischen Spähdrohnen des Typs Guardian im Wert von zwei Milliarden Dollar. Die unbemannten Flugzeuge sollen es den indischen Streitkräfte erlauben, von den Inselgruppen Andaman und Nicobar aus die strategisch wichtige Straße von Malakka und damit den Zugang zum indischen Ozean für chinesische Kriegs- und Handelsschiffe zu kontrollieren (und im Notfall auch zu sperren).

Seitdem mischt sich Indien immer offener in den Disput um Territorial- , Explorations- und Fischerreirechte im Südchinesischen Meer ein, unterstützt den Anspruch der US-Kriegsmarine, dort für "Navigationsfreiheit" sorgen zu müssen und unterstützt die anderen Anrainerstaaten gegenüber China. So hat Neu-Delhi zum Beispiel Patrouillenboote und Raketen im Wert von 500 Millionen Dollar an Vietnam verkauft; dafür bekam das indische Energieunternehmen ONGC Videsh von Hanoi Erkundungsrechte für Öl und Gas in einem Teil des Südchinesischen Meers zugesprochen, das innerhalb der von Peking beanspruchten Neun-Strich-Linie liegt und nach dessen Auffassung zur Ausschließlichen Wirtschaftszone (Exklusive Economic Zone - EEC) der Volksrepublik gehört. Den Bemühungen der hindunationalistischen Modi-Regierung um die von Washington definierte "regelbasierte Ordnung" wurde 2018 mit der Umbenennung des US-Pazifik-Kommandos in United Staates Indo-Pacific Command und dessen Ausweitung in die Region rund um den Indischen Ozean bis zum Nordwesten an die Ostgrenze Pakistans Rechnung getragen.

Kaum war der von Modi mit großem Tamtam gefeierten Staatsbesuch Trumps in Indien in der letzten Februar-Woche 2020 beendet, da nahmen die Spannungen entlang der LAC spürbar zu. Die Inder begannen zur chinesischen Grenze eine Verbindungsstraße zu bauen, die angeblich durch nepalesisches Staatsterritorium führt. Darüber haben sich die Nepalesen im April schriftlich beschwert (Seit Nepal 2015 mit Hilfe seines nördlichen Nachbarn China erfolgreich einer Wirtschaftsblockade Indiens trotzte, herrscht zwischen Kathmandu und Neu-Delhi Eiszeit). In Aruchnal Pradesh und Ladakh haben die indischen Streitkräfte Tausende Soldaten und Bauarbeiter aufmarschieren lassen, um die militärisch-logistische Infrastruktur auf der eigenen Seite der LAC - oder was man dafür hält - kräftig auszubauen.

Zu diesem Zweck hatte das indische Parlament im August 2019, als es auf Betreiben der Modi-Regierung den Autonomiestatus von Jammu und Kashmir aufhob, um dort den Widerstand der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gegen die Herrschaft Neu-Delhis endgültig zu brechen, auch das buddhistisch geprägte Ladakh zu einem Unionsterritorium Indiens gemacht. Beobachter sehen in der Herauslösung von Ladakh aus Jammu und Kashmir eine Maßnahme zum Ausbau des Hochplateaus zu einem militärischen Bollwerk gegen die in Aksai Chin stationierte Volksarmee. Bestätigung für diese Vermutung liefern die ungeheuren Bauaktivitäten, welche seitdem der indische Pionierkorps und beauftragte Baufirmen entlang der alten McMahon-Linie aus der britischen Kolonialära entfalten.

Daß die Chinesen diesem Treiben nicht tatenlos zusehen würden, war klar. Ebenso absehbar die einseitigen Schuldzuweisungen aus den USA, nachdem es am 5. Mai zu den ersten Handgreiflichkeiten am Dach der Welt gekommen war. Bei einer Telekonferenz mit ausgewählten indischen Journalisten am 19. Mai meinte Alice Wells, die für Süd- und Zentralasien zuständige Staatssekretärin im US-Außenministerium: "Die Gewaltausbrüche an der Grenze erinnern uns daran, daß Chinas Aggression nicht immer rhetorischer Natur ist. Ob nun am Südchinesischen Meer und entlang der Grenze zu Indien nehmen wir immer wieder Provokationen und beunruhigende Aktionen seitens Chinas zur Kenntnis, welche Fragen aufwerfen, wie die Volksrepublik ihre wachsende Macht zu benutzen gedenkt."

Immerhin hat Indien am 27. Mai das Angebot Trumps, beim Grenzstreit mit China zu vermitteln, ausgeschlagen (aktuell bemühen sich Peking und Neu-Delhi um eine Beruhigung der Lage). Um so mehr hat sich die Modi-Regierung über den Vorstoß Trumps drei Tage später, Indien zusammen mit Australien und Südkorea zu einem erweiterten G7-Gipfeltreffen in Washington in diesem Sommer einzuladen, um besser "über China diskutieren" zu können, gefreut und sich aufgewertet gefühlt.

5. Juni 2020


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