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HISTORIE/332: Brisante Papiere aus Londoner Staatsarchiv verschwunden (SB)


Brisante Papiere aus Londoner Staatsarchiv verschwunden

Dokument über britische Hilfe für Israels Atombombe unauffindbar


Als 2005 die BBC-Fernsehsendung Newsnight Dokumente präsentierte, die belegten, daß Großbritannien Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts Israel beim Bau der Atombombe geholfen hat, brachte dies die damalige Regierung von Tony Blair in beträchtliche Verlegenheit. Nur zwei Jahre zuvor waren britische Truppen zusammen mit ihren amerikanischen Kameraden in den Irak einmarschiert und hatten gewaltsam das "Regime" Saddam Husseins unter dem erstunkenen und erlogenen Vorwurf des Besitzes ominöser "Massenvernichtungswaffen" gestürzt. 2005 bauschten London und Washington das iranische Kernenergieprogramm zur Proliferationsgefahr für die Welt maßlos auf und drohten ihrerseits mit militärischen Maßnahmen. Damals hat London die Affäre um die britische Geburtshilfe für Israels inzwischen umfangreiches Nuklearwaffenarsenal mittels Leugnung und Verdunkelung ausgestanden. Inzwischen drohen die historischen Tatsachen kein schräges Licht mehr auf die ruhmreiche Geschichte Britannias zu werfen, sind doch die relevanten Dokumente aus dem Staatsarchiv im Londoner Stadtteil Kew verlorengegangen.

In dem ursprünglichen Bericht vom 3. August 2005 mit dem Titel "How Britain helped Israel get the bomb" präsentierte Newsnight einst vertrauliche, bis dahin unbekannte Regierungsdokumente aus dem britischen Nationalarchiv, aus denen hervorging, daß London 1959/1960 Tel Aviv mit 20 Tonnen schwerem Wasser für die Produktion von Plutonium im streng geheimen Atomreaktor Dimona in der Negevwüste beliefert hatte. Zuvor waren die Israelis mit einer ähnlichen Anfrage bei der Regierung von US-Präsident Dwight D. Eisenhower abgeblitzt, weil sie nicht bereit waren, Washington die Verwendung des schweren Wassers zu ausschließlich friedlichen Zwecken zu garantieren.

Im Vereinigten Königreich, das damals von dem konservativen Premierminister Harald Macmillan regiert wurde und wo man nach Entwicklung und Bau der eigenen Atombomben einen Überschuß an schwerem Wasser aus Norwegen vorrätig hatte, gab es offenbar weniger Bedenken. In einem der von Newsnight im britischen Nationalarchiv entdeckten Dokumente aus dem Jahr 1958 heißt es, die zuständigen Beamten seien übereingekommen, es wäre "übereifrig" gewesen, eine Garantie über die nicht-militärische Nutzung von den Israelis zu verlangen. Gleichwohl wußten die Verantwortlichen in London durchaus um die internationale Brisanz der Angelegenheit. Deshalb hat man zum Schein den Verkauf der 20 Tonnen schweren Wassers als ein Geschäft zwischen Norwegen und Israel deklariert, ungeachtet der Tatsache, daß die heiße Ware - die erste Hälfte im Juni 1959 und die zweite sechs Monate später - in britischen Häfen von israelischen Frachtern abgeholt wurde.

In einem offiziellen Vermerk aus jener Zeit schrieb Donald Cape, damals ranghoher Beamter im britischen Außenministerium: "Im großen und ganzen würde ich es vorziehen, dies gegenüber den Amerikanern NICHT zu erwähnen." Auf Nachfrage von Newsnight behauptete der inzwischen pensionierte Cape 2005, sich an die Episode nicht mehr erinnern zu können. Interessanterweise vermittelten die Archivdokumente den Eindruck, daß der endgültige Entschluß zur Durchführung des dubiosen Geschäfts mit Israel von einfachen Beamten hauptsächlich im Außenministerium und in der britischen Atomenergiebehörde gefällt wurde. Die Newsnight-Rechercheure konnten keine Beweise dafür finden, daß jemals Minister des Kabinetts Macmillan hinsichtlich des Verkaufs des schweren Wassers befragt, geschweige denn konsultiert wurden - was eine völlig absurde Vorstellung ist. Um den politischen Entscheidungsträgern das Argument des "plausiblen Dementis" zu ermöglichen, haben ihre Untergebenen vermutlich dafür gesorgt, daß es keine schriftlichen Belege für eine Verwicklung der höchsten Staatsebene gab.

Für die Stichhaltigkeit dieses Verdachts sprechen die Informationen, die Newsnight über die Reaktion der britischen Regierung, als die Israelis 1961 in London wegen der gewünschten Lieferung weiterer fünf Tonnen schweren Wassers angefragt hatten, herausgefunden hat. (Nur ein Jahr zuvor hatte der Daily Express als erste britische Tageszeitung darüber berichtet, daß israelische Wissenschaftler in Dimona an der Atombombe arbeiteten). In einem Dokument aus dem Nationalarchiv wird Sir Hugh Stevenson vom britischen Außenministerium zur Anfrage der Israelis mit der entlarvenden Aussage zitiert: "Ich bin mir ganz sicher, daß wir diesem Verkauf nicht zustimmen sollten. Das israelische Projekt ist eine viel zu heikle Angelegenheit, als daß wir uns erneut in sie verwickeln lassen wollten."

Als die Blair-Regierung 2005 zu der sensationellen Newsnight-Sendung Stellung beziehen mußte, stritt der für die Nahost-Politik zuständige Staatssekretär im britischen Außenministerium, Kim Howells, alles mit der wenig glaubwürdigen Behauptung ab: "Das Vereinigte Königreich war in Tat nicht an dem Verkauf des schweren Wassers an Israel beteiligt." Howells, damals auch Leiter der Gruppe "Friends of Israel" bei der Labour-Fraktion im britischen Unterhaus, schob die Verantwortung auf die Norweger und insistierte, London habe damals lediglich "den Rückverkauf des überflüssigen schweren Wassers ausgehandelt". Dem widersprachen andere Dokumente aus dem britischen Nationalarchiv, die Newsnight in einer weiteren Sendung zum selben Thema am 9. Dezember 2005 präsentiert hat. In einem Bericht vom 27. März 1961 an die Leitung der Inlands- und Auslandsgeheimdienste MI5 und MI6 hieß es: "Die wichtigste Leistung Israels im Bereich Import betrifft 20 Tonnen schweren Wassers ... welches von Norwegen zu kaufen sich die UK Atomic Energy Authority verpflichtet hat, und das später nicht benötigt wurde ... Es wurden Verhandlungen aufgenommen, in deren Folge das Wasser schließlich in die Hände der Israelis gelangte."

In dieser Angelegenheit droht London künftig offenbar kein weiteres Ungemach, denn wie die Tageszeitung Independent am 4. August in ihrer Online-Ausgabe unter der Überschrift "Israel nuclear weapons: UK government loses file on its involvement with country's arsenal" berichtet, sind in den letzten vier Jahren aus dem britischen Nationalarchiv mehr als 400 Dokumente "einschließlich der Regierungsakten bezüglich der Verwicklung des Vereinigten Königreichs in das Atomwaffenarsenal Israels verlorengegangen". Festgestellt wurde dies anläßlich einer entsprechenden Bitte um Dokumenteneinsicht seitens der BBC im Rahmen des britischen Informationsfreiheitsgesetzes. Zu den abhanden gekommenen Schriften gehörte ein Dokument aus dem Jahr 1979 mit dem Titel "Military and nuclear collaboration with Israel: Israeli nuclear armament". Gegenüber dem Independent sprach der Labour-Abgeordnete Tristram Hunt, Stellvertretender Vorsitzender einer parlamentarischen Allparteiengruppe zum Thema Archive und Geschichte von einem "besorgniserregenden Verlust". Nun ja, möglicherweise gibt es in Großbritannien doch noch den einen oder anderen Staatsbeamten, Militärangehörigen oder Politiker, der jetzt eine Sorge weniger hat.

6. August 2016


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