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JUSTIZ/670: Wikileaks sorgt für Streit um den Lockerbie-Anschlag (SB)


Wikileaks sorgt für Streit um den Lockerbie-Anschlag

Aufklärung in Sachen Lockerbie von Washington und London unerwünscht


Die Veröffentlichung einiger geheimer US-Diplomatendepeschen aus den Jahren 2008 und 2009 durch das Enthüllungsportal Wikileaks am 8. Dezember hat den Streit zwischen Amerikanern, Engländern und Schotten um die letztjährige Freilassung des verurteilten Lockerbie-Attentäters Abdel Barsit Al Megrahi neu entfacht. Aus den Depeschen geht hervor, daß die Regierung Muammar Gaddhafis massiven Druck auf die Regierung in London ausgeübt hat, um eine frühzeitige Freilassung des todkranken Al Megrahis zu bewirken, und mit schwersten Konsequenzen gedroht hat, sollte er im schottischen Gefängnis sterben. Die Depeschen verstärken den Verdacht, daß Al Megrahi weniger aus medizinischen als vielmehr aus politischen Gründen in sein Heimatland abgeschoben wurde. Der wichtigste dieser Gründe scheint in dem Wunsch zu bestehen, eine erneute Untersuchung des Falls Lockerbie, des schwersten "Terroranschlags" der europäischen Geschichte, zu verhindern.

Als am Abend des 21. Dezember 1988 die Pan-Am-747-Maschine Maid of the Seas beim Flug von London Heathrow nach JFK New York im schottischen Luftraum explodierte und die zum Teil riesigen Trümmerteile auf die Ortschaft Lockerbie stürzten, schockierte dies die ganze Welt. Alle 259 Insassen des Jumbo Jets und elf Einwohner von Lockerbie waren von einem Moment zum nächsten aus dem Leben gerissen. Die im Fernsehen und in der Presse zu sehenden Bilder der Zerstörung - die wie von einem Riesen geborstenen Familienhäuser von Lockerbie, von deren kaputten Dächern die Leiche des einen oder anderen Fluggasts noch hing, und die am Boden liegende rechte Bughälfte, mit Cockpit, Pan-Am-Farben und Name des Flugzeuges deutlich zu erkennen - gingen an jenem Weihnachten vielen Menschen nicht aus dem Kopf.

Recht schnell waren die mutmaßlichen Täter ermittelt. Es handelte sich um in Deutschland befindliche Mitglieder des Popular Front for the Liberation of Palestine - General Command (PLFP-GC), das im Auftrag des Irans das amerikanische Flugzeug in die Luft gejagt haben soll, um den Abschuß einer iranischen Pilgermaschine durch den US-Lenkwaffenzerstörer Vincennes über den Persischen Golf im August desselben Jahres zu vergelten. Als jedoch im August 1990 irakische Truppen Kuwait besetzten und US-Präsident George Bush sen. zur Befreiung des Emirates aufrief, ließen die Ermittlungen gegen das PFLP-GC, das in Damaskus sein Hauptquartier hatte, nach. Schließlich wollte Washington, daß Syrien an der Anti-Saddam-Hussein-Koalition teilnehme und daß der Iran dem "Regime" in Bagdad beim bevorstehenden Golfkrieg keine Schützenhilfe leiste.

Also wurden praktisch über Nacht die Verantwortlichen für den Lockerbie-Anschlag, die palästinensischen "Terroristen" und die aus dem Hintergrund heraus agierenden "Mullahs" in Teheran, gegen die Libyer mit ihrem ohnehin im Westen als völlig unberechenbar verschrieenen Revolutionführer Gaddhafi ausgetauscht. 1992 verhängte auf Betreiben der USA und Großbritanniens der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schwere Sanktionen gegen Tripolis, denen zu entkommen, die Libyer 1999 Al Megrahi und seinen Landsmann Al Amine Khalifa Fhimah an ein schottisches Sondergericht im niederländischen Camp Zeist auslieferten. Die beiden Männer hatten Ende der achtziger Jahre am Flughafen von Luka auf Malta für die staatliche libysche Luftlinie gearbeitet. In der Anklage hieß es deshalb, sie hätten dort die Bombe, welche die Pan-Am-Maschine in Stücke riß, als Gepäckstück in den internationalen Luftverkehr aufgegeben. Al Megrahi warf man zudem vor, den Zünder für die Bombe bei der Schweizer Firma Mebo Elektronik besorgt zu haben. Beim Abschluß des spektakulären Prozesses in Camp Zeist im Januar 2001 wurde Fhimah freigesprochen, Al Megrahi jedoch verurteilt, doch wegen der Dürftigkeit der Beweislage sprachen nicht wenige internationale Experten, darunter der offizielle UN-Prozeßbeobachter Prof. Hans Köchler aus Österreich, von einem Justizirrtum.

In den Jahren danach bemühten sich Al Megrahi, der seine lebenslange Freiheitsstrafe in einem schottischen Gefängnis verbüßte, und seine Anwälte, den Justizirrtum zu beweisen und waren zuletzt ihrem Ziel recht nah gekommen. 2007 hat die Scottish Criminal Cases Review Commission (SCCRC) nach einer vierjährigen Untersuchung einen 800seitigen Bericht veröffentlicht, in dem sie zahlreiche Aspekte des ursprünglichen Urteils für mangelhaft erklärte und einen neuen Prozeß empfahl. Im selben Jahr hat Ulrich Lumpert, ein ehemaliger Angestellter von Mebo, in einer gegenüber den französischen Justizbehörden geleisteten, eidesstattlichen Erklärung zugegeben, Vertretern der angloamerikanischen Geheimdienste jenen Zeitzünder ausgehändigt zu haben, von dem später beim Lockerbie-Prozeß im Camp Zeist die Staatsanwaltschaft ein verkohltes Überbleibsel als das in den Flugzeugtrümmern gefundene, entscheidende Beweismittel vorlegte.

Im September 2008 wurde bei Al Megrahi Prostatakrebs diagnostiziert. Unter Verweis auf den ärztlichen Befund hat im August letzten Jahres der schottische Justizminister Kenny MacAskill dem Antrag Al Megrahis, nach Hause kehren zu dürfen, um umgeben von Freunden und Familien das Ende seines Lebens verbringen zu können, stattgegeben. Aus den USA hagelte es Kritik, die bis heute nicht verstummt ist. Vertreter der Regierung Barack Obamas, mehrere Kongreßmitglieder und Angehörige der amerikanischen Lockerbie-Opfer warfen der Regierung Schottlands in Edinburgh, in der die schottischen Nationalisten das Sagen haben, und der britischen Zentralregierung in London, die damals von der sozialdemokratischen Labour-Partei um Gordon Brown gestellt war, vor, aufgrund politischer und wirtschaftlicher Erwägungen einen verurteilten Massenmörder frühzeitig freigelassen zu haben.

Für zusätzliche Empörung beiderseits des Atlantiks sorgten die Fernsehbilder, wie Al Megrahi bei der Landung am Militärflughafen von Tripolis beim Verlassen der Maschine von Gaddhafi-Sohn Saif die Treppe hinunter geholfen und von Tausenden von Landsleuten als Nationalhelden gefeiert wurde. Die westliche Berichterstattung über das Ereignis vermittelte den Eindruck, als würden die Libyer wegen der Heimkehr eines Topterroristen jubeln und damit dessen Schandtaten, weil die Opfer mehrheitlich Nordamerikaner und Europäer waren, gutheißen. Ganz im Gegenteil war die Heimkehr Al Megrahis für die Libyer deshalb ein Grund zum Feiern, weil sie von seiner Unschuld überzeugt waren und in ihm den Mann sahen, der ein schweres Märtyrium auf sich genommen hatte, um das eigene Land aus der UN-Sanktionsfalle zu befreien.

Als sich im vergangenen Sommer die Freilassung Al Megrahis zum erstenmal jährte und der Heimgekehrte immer noch nicht seinem Krebsleiden erlegen war, griffen die demokratischen Senatoren Charles Schumer und Kirstin Gillibrand aus New York, Robert Menendez und Frank Lautenberg aus New Jersey und Dianne Feinstein und Barbara Boxer aus Kalifornien die Briten mit der Behauptung an, sie hätten einen teuflischen Deal mit Gaddhafi gemacht, um dem Energieunternehmen BP ein 900 Millionen Dollar schweres Geschäft hinsichtlich der Erkundung und Erschließung von Ölfeldern vor der Küste Libyens zu bescheren. Den Vorwurf haben die damals Beteiligten der Affäre, der schottische Justizminister MacAskill, der schottische Premierminister Alex Salmond und der frühere britische Justizminister Jack Straw ebenso wie die Aufforderung aus Washington, sich einer öffentlichen Befragung durch Mitglieder des US-Senats zu unterwerfen, empört zurückgewiesen.

Aus den von Wikileaks nun veröffentlichten Depeschen der US-Botschaften in London und Tripolis geht hervor, wie sehr man sich 2008 und 2009 im britischen Außenministerium von Gaddhafi unter Druck gesetzt sah. Demnach hätten die Libyer für den Fall, daß Al Megrahi in seiner Zelle in Schottland aus dem Leben scheiden sollte, mit dem kompletten Abbruch der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen gedroht. In Reaktion auf die Wikileaks-Veröffentlichung haben Salmond und Straw ihr damaliges Verhalten verteidigt und den Inhalt der Depeschen als "tittle-tattle", was soviel sie "leeres Gerede" heißt, abgetan.

Wiewohl Salmond für sich und MacAskill, und das eventuell mit Recht, reklamieren kann, nicht mit Blick auf die wirtschaftlichen Interessen Schottlands in Libyen gehandelt zu haben, so läßt bis heute ein Aspekt der Freilassung Al Megrahis einen bitteren Beigeschmack zurück, nämlich die Tatsache, daß der Libyer im Gegenzug auf sein damals noch laufendes Berufungsverfahren verzichten und sich mit seiner Verurteilung als Massenmörder abfinden mußte. Die Nachricht, über die am 12. Dezember die konservative britische Zeitung Sunday Telegraph berichtete, nämlich daß der SCCRC-Bericht unter Verschluß bleiben und es keine neue öffentliche Untersuchung des Lockerbie-Falls, wie von den britischen Opferfamilien gefordert, geben wird, verstärkt den Eindruck der Vertuschung. Bei der Bekanntgabe der Entscheidung, keine Untersuchungskommission einzuberufen, erklärte der britische Außenminister William Hague, ein solcher Schritt läge "nicht im öffentlichen Interesse" - eine Position, die man angesichts der unzähligen Ungereimtheiten in der offiziellen Version vom Tathergang im Fall Lockerbie nur als reinen Hohn bezeichnen kann.

13. Dezember 2010