Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


JUSTIZ/698: Verteidigung beantragt Einstellung des 9/11-Prozesses (SB)


Verteidigung beantragt Einstellung des 9/11-Prozesses

Zuständiger Richter ließ wichtiges Beweismaterial heimlich vernichten


Beim 9/11-Prozeß auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba treten die amerikanischen Militärbehörden nicht nur das Kriegsrecht, sondern lange bewährte westliche Rechtsprinzipien mit Füßen. Am 10. Mai wurde durch eine öffentliche Beschwerde der Verteidigung von Khalid Sheikh Mohammed, den mutmaßlichen "Chefplaner" der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001, bekannt, daß der für den Fall zuständige Militärrichter, Armeeoberst James Pohl, heimlich - dafür jedoch in Absprache mit der Anklagevertretung - wichtiges, für KSM möglicherweise entlastendes Beweismaterial hat vernichten lassen. Wegen des skandalösen Vorfalls haben die Pflichtverteidiger die Einstellung des Verfahrens beantragt. Da es sich hier ohnehin um einen Schauprozeß handelt, dürfte dem Antrag kein Erfolg beschieden sein.

Nach einer fast dreiwöchigen Überprüfung durch die Militärzensur des Pentagons wurde die entsprechende Einreichung der Verteidigung zur Veröffentlichung freigegeben. Über den brisanten Inhalt berichtete am selben Tag der US-Publizist Spencer Ackermann, der regelmäßig für den Guardian über amerikanische Sicherheitspolitik schreibt, auf der Website der großen liberalen Zeitung Großbritanniens unter der Überschrift "Judge 'manipulated' 9/11 attacks case, court document alleges". Im Mittelpunkt des bedenklichen Vorgangs stehen jene geheimen Folterzentren der CIA in Osteuropa und anderswo, die berüchtigten "black sites", in denen während der Präsidentschaft von George W. Bush circa 3000 mutmaßliche "islamistische Terroristen", darunter KSM, von der Außenwelt völlig abgeschottet unter menschenunwürdigen Bedingungen gehalten und schwer mißhandelt wurden. 2006 gab Bush die Existenz der "black sites" erstmals offiziell bekannt, als er KSM und vier mutmaßliche 9/11-Komplizen nach Guantánamo verlegen ließ.

Kurz nach dem Amtsantritt als Nachfolger des Republikaners Bush hat der Demokrat Barack Obama 2009 die Schließung der geheimen Folterkerker der CIA angeordnet. Amerikas erster schwarzer Präsident wollte den Betrieb des Sondergefängnisses Guantánamo ebenfalls einstellen und den geplanten 9/11-Prozeß von einem regulären Strafgerichtshof in New York stattfinden lassen, ist mit diesem Vorhaben jedoch am Widerstand der Republikaner im Kongreß gescheitert. Also ging der Prozeß gegen die Gruppe um KSM, gegen die bereits 2008 Anklage erhoben worden war, 2010 in die Vorverhandlungen. In dieser Phase ist man wegen der zahlreichen Verfahrensstreitigkeiten bis heute steckengeblieben. Das heißt, acht Jahre nach Anklageerhebung hat der eigentliche 9/11-Prozeß immer noch nicht begonnen.

Am 19. Dezember 2013 hatte beim 9/11-Verfahren Militärrichter Pohl "die Erhaltung aller Hafteinrichtungen im Ausland, die noch der Kontrolle der USA unterliegen" angeordnet. Die damalige Anweisung erfolgte auf Drängen der Verteidigung und gegen den ausdrücklichen Willen der Anklagevertretung. Nach Angaben Spencer Ackermans, der in seinem Artikel ausführlich aus der ihm vorliegenden Einreichung der Verteidigung zitiert, hat Oberst Pohl nur sechs Monate später "die Regierung dazu autorisiert, die fraglichen Beweismittel zu vernichten". Die Autorisierung erfolgte nach "geheimer Kommunikationen zwischen der Regierung und Richter Pohl, die er ohne Wissen der Verteidigung führte". Pohl weihte die Vertreter der Anklage in die Beseitigung der "black sites" ein, ließ die Verteidigung jedoch mehrere Jahre in dem Glauben, daß die Anlagen weiter existierten.

Nach Ansicht von KSMs Anwälten hat das Verhalten von Richter und Staatsanwaltschaft im 9/11-Prozeß die Glaubwürdigkeit der Militärgerichte in Guantánamo "weitgehend ausgehöhlt" und die Möglichkeiten des Angeklagten, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften, "irreparabel beschädigt". In der Einreichung wird KSM, dem im Falle eines Schuldspruchs ein Todesurteil droht, mit den Worten zitiert: "Zuerst sagen sie, sie werden uns nicht die Beweise vorlegen, aber unseren Anwälten zeigen. Nun legen sie sie nicht einmal den Anwälten vor. Warum töten sie uns nicht einfach?". Die Forderung nach Einstellung des Verfahrens untermauerte die Pflichtverteidigung in ihrer Einreichung mit dem Verweis auf den historisch bedeutenden Prozeß Powell gegen Alabama, der 1932 vor dem Obersten Gerichtshof abschließend behandelt wurde. In dem Urteil hieß es, einem durch Hinrichtung bedrohten Angeklagten den Zugang zu wichtigen Beweismitteln vorzuenthalten, wäre "kaum etwas anderes als ein juristischer Mord".

3. Juni 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang