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LATEINAMERIKA/2284: Kolumbiens Paramilitärs - Auslagerung der Staatsgewalt (SB)


Paramilitärs gestanden bei Ermittlungen mehr als 25.000 Morde


Die kolumbianischen Paramilitärs repräsentieren ein komplexes Phänomen, dessen genaue Bestimmung insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zur staatlichen Ordnung kontrovers diskutiert wird. In diesem Zusammenhang ist die Auffassung, es handle sich um eine Erscheinung des geschwächten oder zerfallenden Staates, dessen Gewaltmonopol von einem Bandenwesen in Frage gestellt wird, bei eingehender Untersuchung nicht plausibel. Legt man als wesentlichstes Bestimmungsmerkmal zugrunde, gegen welche Teile der Gesellschaft sich das paramilitärische Unwesen in erster Linie richtet, läßt sich erschließen und belegen, daß man es mit einer Auslagerung staatlicher Gewalt unter den besonderen historischen und politischen Bedingungen Kolumbiens zu tun hat. Man könnte von einer Entgrenzung staatlicher Gewalt durch bestimmte Machtgruppen sprechen, die der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols dienen, wobei sie zugleich eine Strategie zur Veränderung von Staat und Gesellschaft darstellen.

Der Bogen der dabei zum Tragen kommenden Entwürfe und Kräfte ist außerordentlich weit gespannt, woraus sich die unterschiedlichen und einander nicht selten widersprechenden Einschätzungen des Paramilitarismus erklären mögen. Er reicht von einer nationalen Sicherheitsdoktrin der USA, die nach Lateinamerika exportiert wurde, bis zu einer eigendynamischen Umsetzung der Sicherheitspolitik des erweiterten kolumbianischen Staates, wobei dieser Prozeß weder uniform noch widerspruchsfrei verlief. Es entwickelten sich hybride Strukturen, die einerseits Staatsorganen und herrschenden Klassen dienten, sich jedoch andererseits gegen die Staatsorgane absicherten und ihrerseits zu ökonomischen Faktoren aufstiegen.

Festzuhalten bleibt indessen, daß sich die Gewalt der Paramilitärs fast ausschließlich gegen jene Klassen und Kräfte richtet, die ausgebeutet oder als Bedrohung der herrschenden Verhältnisse bekämpft werden sollen. Der Paramilitarismus kämpft gegen die Aufstandsbewegung im weitesten Sinn wie insbesondere die Guerilla, die Opposition, soziale Formation und die kleinbäuerliche Basis der Rebellen. Damit verbunden ist die Kontrolle ganzer Territorien und der dort lebenden Bevölkerung, jedoch auch die Aneignung von Land und Produktion wie etwa das Drogengeschäft.

Dem nachgeordnet ist die Gewaltanwendung gegen einzelne Vertreter des Staatsapparats, die dem Zweck dient, sich vor Strafverfolgung abzusichern. Hinzu kommen Konflikte mit anderen einflußreichen Kräften, mit denen die Paramilitärs im Zuge ihrer Expansion um politische und ökonomische Macht konkurrieren. Und schließlich werden Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fraktionen der paramilitärischen Gruppen geführt, bei denen es vor allem um die Einkünfte aus dem Drogenhandel und die Kollaboration mit der Justiz geht.

Die Kontroverse um den Charakter der kolumbianischen Paramilitärs ist jedoch nicht nur den angedeuteten Widersprüchen, sondern nicht zuletzt dem Bestreben geschuldet, das Wesen dieses Gewaltinstruments zu verschleiern. Ein Paradebeispiel verkörpert Präsident Alvaro Uribe, dessen familiäres Umfeld und persönlicher Lebenslauf enge Verbindungen zu Drogenkartellen und Paramilitärs aufweist. Als höchster politischer Repräsentant des Staates bezeichnet er die paramilitärischen Gruppen als "Terroristen", doch bedient er sich ihrer zur Bekämpfung der Guerilla und Opposition wie er auch versucht hat, ihnen bei einer Demobilisierung eine goldene Brücke in die Zivilgesellschaft zu bauen.

Gewalttaten paramilitärischer Gruppierungen werden nur in dem Maße offiziell bestätigt, wie dies im Rahmen eines Sondergesetzes zutage gefördert wird, das geständige Angehörige der Todesschwadrone mit milden Haftstrafen von höchstens acht Jahren davonkommen läßt. Berücksichtigt man, daß es sich bei den verübten Straftaten um Massaker, Mord, Folter, Entführung, Drogenhandel, Erpressung, Raub und andere schwere Verbrechen handelt, erweist sich die von Uribe als erfolgreiche Friedensinitiative hochgehaltene Entwaffnung der Paramilitärs als Farce, welche die Opfer verhöhnt und die Kollaboration gezielt ausblendet.

Wie aus dem nun in Bogotá veröffentlichten Bericht einer Abteilung der kolumbianischen Staatsanwaltschaft namens "Einheit für Gerechtigkeit und Frieden" hervorgeht, haben Mitglieder paramilitärischer Gruppen, die in Kolumbien gut 20 Jahre lang aktiv waren, insgesamt 25.000 Morde eingestanden, wozu noch Entführungen und das Verschwindenlassen weiterer Personen kamen. Die geständigen Täter - insgesamt 3700 ehemalige Mitglieder der "Einheiten zur Selbstverteidigung Kolumbiens" (AUC) - haben sich demnach zwischen 2003 und 2006 unter den Schutz des Sondergesetzes gestellt. Neben dem Morden hätten sie auch das Verschwindenlassen von 2251 weiteren Opfern und die Entführung von 831 Personen zugegeben. Aufgrund der Angaben dieser Paramilitärs war es der Justiz möglich, 2100 Gräber mit den sterblichen Überresten von 2562 Menschen ausfindig zu machen. Inzwischen haben 247.000 Personen bei den Behörden Anträge gestellt, als Opfer der Paramilitärs anerkannt zu werden, um eine Entschädigung zu erhalten. [1]

Für das politische Establishment und die Sicherheitskräfte besonders brisant waren die Aussagen zur Zusammenarbeit der Paramilitärs vor allem mit dem Lager Präsident Alvaro Uribes sowie mit Polizei- und Militäreinheiten. Letztere haben den Angaben zufolge Massaker an der Zivilbevölkerung in Auftrag gegeben und die AUC aktiv bei den Mordaktionen unterstützt.

Offiziellen Angaben zufolge wurden 31.000 Paramilitärs demobilisiert, wobei diese Zahl als fiktiv eingestuft werden muß. Sie liegt weit über allen seriösen Schätzungen zur Stärke paramilitärischer Gruppen und blendet den Umstand aus, daß die Waffen oftmals nur symbolisch abgegeben wurden, worauf sich die angeblich aufgelösten Verbände wieder formierten. Zudem bildeten sich nach dem Zusammenbruch der AUC diverse neue Gruppen, welche die Behauptung Lügen strafen, der kolumbianische Paramilitarismus sei weitgehend Vergangenheit.

Auffallend war, daß die Angaben der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Sender Caracol Radio von keinem der großen Medien des Landes aufgegriffen wurden. Lediglich die spanische Ausgabe der Times of the Internet brachte einen kurzen Bericht zu den Zahlen. Dies legt nahe, daß sich niemand die Finger an diesen Informationen verbrennen, geschweige denn öffentlich in die Debatte eintreten will, wie viele Verbrechen tatsächlich verübt wurden und wie es um Auftraggeber und Mittäter bestellt ist. Unerwähnt bleiben in der Auflistung all jene Morde und Drangsalierungen, die seitens der regulären Streitkräfte und der Geheimdienste begangen wurden. Hinsichtlich der Auftraggeber sprechen die Ermittler von 28 Senatoren, 16 Mitgliedern des Repräsentantenhauses, 18 Gouverneuren, 128 Bürgermeistern und 28 Stadträten, die direkt mit paramilitärischen Gruppen zusammengearbeitet haben. Sie gehören fast ausschließlich dem konservativen Parteienspektrum an, das Präsident Alvaro Uribe unterstützt. [2]

Der Staatschef sah sich gezwungen, führenden Akteuren der AUC seine Gunst zu entziehen, als diese Haftstrafen und Entschädigungszahlungen, so lächerlich milde diese auch vorgesehen waren, rundweg ablehnten. Es kam zu zahlreichen Festnahmen und Geständnissen inhaftierter Paramilitärs, die wiederum den Präsidenten und sein engstes Umfeld so schwer belasteten, daß Uribe zahlreiche als Drogenhändler gesuchte Gefangene in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an die USA ausliefern ließ, womit sie zum Schweigen gebracht waren.

Der frühere AUC-Kommandant "Don Berna" belastete den Vizepräsidenten Francisco Santos, den ehemaligen Verteidigungsminister Juan Manuel Santos und den Bürgermeister von Medellin, Alonso Salazar. Demnach hat ihn Francisco Santos mit dem Aufbau von Todesschwadronen in Bogotá beauftragt und Juan Manuel Santos seine Hilfe beim Sturz des liberalen Präsidenten Ernesto Samper in Anspruch genommen. Alonso Salazar habe die AUC politisch und finanziell unterstützt, damit diese ihm halfen, Bürgermeister zu werden. Diese und zahlreiche weitere Enthüllungen in den zurückliegenden Jahren haben die engen Verflechtungen zwischen der politischen Führung Kolumbiens und paramilitärischen Gruppen zweifelsfrei bestätigt.

Da die Auslagerung der Staatsgewalt dem Zweck geschuldet ist, diese durchzusetzen, wo der Staat dies nicht kann oder in der beabsichtigten Form nicht will - wobei sich der kolumbianische Staat als weit weniger vereinheitlicht und durchstrukturiert als ein westeuropäisches Staatswesen darstellt - sind Widersprüche angelegt und Konflikte mit den illegalen Handlangern unvermeidlich. Deren Repression greift so unmittelbar, grausam und nachhaltig, daß sie die Widerstandsbewegungen massiv schädigt und ganze Landstriche mit ihrem Regime lähmt. Angesichts der Komplexität der kolumbianischen Verhältnisse grob verkürzt, doch deswegen nicht unzutreffend, könnte man sagen, der Staat und die herrschenden Klassen lassen die Bluthunde von der Kette, damit diese ungezügelt ihr Werk verrichten. Daß sie dabei verwildern, Jagd auf alles und jeden machen, sich ineinander verbeißen oder gar gegen ihren Herrn wenden, muß man in Kauf nehmen, weshalb ein mit allen Wassern gewaschener Dompteur wie Alvaro Uribe, dem der Stallgeruch diverser zu Recht gefürchteter Fraktionen anhaftet, Goldes wert ist, wie man in Bogotá und Washington nur zu gut weiß.

Anmerkungen:

[1] Traurige Bilanz in Kolumbien (01.10.09)

NZZ Online

[2] 25.500 Ermordete: Keine Meldung in Kolumbien (02.10.09)
http://www.amerika21.de/nachrichten/inhalt/2009/okt/corte_293847_para/

2. Oktober 2009