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LATEINAMERIKA/2338: Haiti von verheerendem Erdbeben heimgesucht (SB)


Schwerstes Beben in der Region seit über 200 Jahren trifft Armenhaus


Haiti ist von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht worden, dessen Stärke mit 7,0 auf der Richterskala angegeben wird. Ersten Berichten zufolge rechnet man im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre mit Tausenden Toten, da die der tiefen Armut geschuldete dichte Besiedlung städtischer Elendsquartiere und weithin notdürftige Behausung katastrophalen Auswirkungen Vorschub leistet. Rund 80 Prozent der mehr als neun Millionen Haitianer haben zum Leben weniger als zwei Dollar am Tag, die Hälfte sogar weniger als einen Dollar. Die Infrastruktur des Landes liegt darnieder, die hygienischen Verhältnisse sind erbärmlich. Der bitter arme Karibikstaat wurde in der Vergangenheit mehrfach von Naturkatastrophen heimgesucht. Zuletzt forderten Wirbelstürme im September 2008 mehr als 600 Todesopfer und machten Tausende obdachlos. Ein großer Teil der damaligen Schäden ist bis heute nicht beseitigt.

Seit 2004 sind rund 7.000 Blauhelmsoldaten in Haiti stationiert, das nach der Entmachtung und Vertreibung Präsident Jean-Bertrand Aristides zu einem besetzten Land wurde. Wenn Haiti als Paradebeispiel eines gescheiterten Staats vorgeführt wird, der nur durch regulierende Eingriffe von außen überleben und wieder funktionsfähig gemacht werden kann, stellt das die Verhältnisse auf den Kopf. De facto hat man es mit einem systematisch zerschlagenen und unter ein Besatzungsregime gestellten Staatswesen zu tun, dem man die rudimentären Flausen eines alternativen Gesellschaftsentwurfs gründlich ausgetrieben hat. Eine Regierung wie die Jean-Bertrand Aristides, die ihren Rückhalt aus den armen Bevölkerungsschichten bezog, an denen es Haiti am allerwenigsten mangelt, erhält eine Entwicklungsoption am Leben, die das Regime weltweiter Herrschaftssicherung zu vernichten trachtet, wo immer es ihrer habhaft werden kann.

Die Clinton-Regierung fror die Hilfsgelder für Haiti unter einem fadenscheinigen Vorwand ein und schlug Aristide damit die Möglichkeit aus der Hand, Sozialreformen zu finanzieren, womit sie ihm das politische Grab schaufelte. Als paramilitärische Banden ins Land zurückkehrten und auf die Hauptstadt vorrückten, verweigerte die Bush-Regierung Aristide die dringend erbetene Hilfe mit der Begründung, man wolle sich in die inneren Angelegenheiten nicht einmischen. Wenn diese Worte in Washington fallen, kann man sicher sein, daß die US-Regierung gerade hinterrücks einen Umsturz fördert, der durch ihr direktes Eingreifen verhindert werden könnte.

Man könnte Haiti als Labor eines Realexperiments zur gewaltsamen Umwandlung einer Gesellschaft charakterisieren, die zuerst zermahlen und dann neu geformt wird. Das Land ist heute noch ärmer und seine Arbeitskraft noch ausbeutbarer als zuvor. Man stellt ein Überleben zu den Konditionen einer an ihre systemischen Grenzen stoßenden kapitalistischen Verwertung in Aussicht und verwaltet das Land mit Hilfe der Besatzungstruppen als Elendslager, in dem Strategien zur Ausgrenzung für unverwertbar erachteter Menschenmassen praktiziert werden. Wenn Haitianer heute Erde essen, um den Hungertod hinauszuzögern, hat die US-Administration samt ihren Kollaborateuren diesen Zustand maßgeblich herbeigeführt.

Das Beben am Dienstagnachmittag um 16.53 Uhr Ortszeit (22.53 MEZ) war nach Angaben des US-Instituts für Geophysik das schwerste seit mindestens 1770 und dauerte länger als eine Minute, wobei das Epizentrum nur 16 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince lag, in der über zwei Millionen Menschen leben. Mit der hereinbrechenden Dunkelheit folgten insgesamt zwölf zum Teil schwere Nachbeben. Die heftigen Erdstöße waren sowohl in der Dominikanischen Republik, mit der sich Haiti die Insel Hispañiola teilt, als auch im 260 Kilometer entfernten Santiago de Cuba zu spüren. In Kuba richtete das Beben Medienberichten zufolge keine größeren Schäden an, doch evakuierten die Behörden aus Sorge vor einem befürchteten Tsunami mehrere Küstenorte. Tsunami-Alarm wurde auch für die Dominikanische Republik und die Bahamas ausgegeben. [1]

Wie Berichten zu entnehmen und auf Fernsehbildern zu sehen war, stürzten in Port-au-Prince zahlreiche Gebäude ein, darunter auch die stabilsten wie der Präsidentenpalast und das Hauptquartier der UNO. Trotz der Zerstörung seines Amtssitzes überlebte Staatschef René Préval nach Angaben der haitianischen Botschaft in Mexiko das Beben. Krankenhäuser, Schulen, Geschäfte und andere Teile der Infrastruktur liegen in Trümmern. Besonders stark betroffen sind die Slums an den Berghängen, da diese zum Teil abgerutscht sind und Häuser zum Einsturz gebracht haben. Über der Stadt türmte sich eine riesige Staubwolke auf und vielerorts brachen Brände aus, da Gasleitungen geborsten waren.

Auf den Straßen lagen blutüberströmte und staubbedeckte Verletzte, die Überlebenden standen unter Schock. Zahlreiche Menschen irrten umher oder saßen auf der Straße und beteten. Helfer versuchten, mit bloßen Händen Verletzte aus den Trümmern zu bergen. Eine angemessene medizinische Versorgung ist kaum möglich, da die noch intakten Krankenhäuser überfüllt und die Medikamente ausgegangen sind. Wie eine Sprecherin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) berichtete, könnten die Menschen nicht auf rasche Hilfe der eigenen Behörden hoffen. Es habe schon zuvor keine medizinische Versorgung der Bevölkerung gegeben, und die werde es jetzt natürlich auch nicht geben. Von einer Katastrophenvorsorge könne keine Rede sein, so daß die Menschen völlig auf sich gestellt seien.

Viele Mitarbeiter der insgesamt fast 11.000 Personen umfassenden UNO-Mission wurden vermißt, wie der Chef der Mission, Alain Leroy, mitteilte. Der Sprecher einer Privatuniversität berichtete im Radio, daß unter den Trümmern des Gebäudes zahlreiche Studenten begraben seien. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte in Deutschland mit, ihr Traumazentrum in Port-au-Prince sei schwer beschädigt worden und aus einer Geburtsklinik seien wegen der Einsturzgefahr die Patientinnen in Sicherheit gebracht worden. [2]

Telefongespräche konnten nicht mehr geführt werden, weil die Netze zusammengebrochen waren. Auch die Stromversorgung fiel großräumig aus. Angeblich kam es in einem nördlichen Vorort der Hauptstadt zu Plünderungen eines eingestürzten Supermarkts. Völlig unklar blieb zunächst die Lage im wahrscheinlich ebenfalls betroffenen Südosten des Landes, zu dem sämtliche Verbindungen unterbrochen waren.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wies auf ihrer Webseite darauf hin, daß die zahlreichen Opfer und extremen Zerstörungen nicht zuletzt darauf zurückzuführen seien, daß in Haiti die Bebauung von Flächen und die Errichtung von Häusern keinerlei Richtlinien und Vorschriften unterliege. Der frühere US-Botschafter Timothy Carney hob im Sender CNN die rapide Bevölkerungszunahme der Hauptstadt hervor, die von rund 250.000 Einwohnern Mitte der fünfziger Jahre auf ihre heute Größe von mehr als zwei Millionen gewachsen sei. Zahlreiche Menschen lebten nicht in festen Häusern, sondern in notdürftigen Unterkünften, weshalb nach dem Erdbeben mit dem Schlimmsten gerechnet werden müsse. [3]

Die Karibik gilt gemeinhin nicht als seismische Gefahrenzone, doch ist es in dieser Region in beträchtlichen Abständen zu verheerenden Erdbeben gekommen. Haiti liegt größtenteils auf einer kleinen Scheibe der Erdkruste zwischen der wesentlich größeren Nordamerikanischen Platte im Norden und der Karibischen Platte im Süden. In dieser Region verläuft ein tiefer Graben, dessen Struktur dem San-Andreas-Graben in Kalifornien ähnelt. Offenbar kam es zu dem jüngsten Beben, als ein Teil der südlichen Grabenzone abbrach und wegrutschte. Diese Art flacher Erdbeben gelten als äußerst gefährlich, weil sie oft besonders heftige Stöße an der Erdoberfläche auslösen. [4]

Nach Einschätzung der Rot-Kreuz-Föderation in Genf erfordert die Naturkatastrophe einen "massiven internationalen Hilfseinsatz". Erste Länder und Hilfsorganisationen haben bereits Unterstützung zugesagt. US-Präsident Barack Obama erklärte in Washington, die USA stünden bereit, "dem Volk von Haiti zu helfen". Noch am Abend hoben erste US-Flugzeuge mit Hilfstrupps und Spürhunden Richtung Haiti ab. Zusätzlich sollten umgehend 48 Tonnen Hilfsmaterial in den Karibikstaat gelangen, wie ein Vertreter der US-Behörde für internationale Entwicklung in Washington ankündigte. Frankreich entsendet eigenen Angaben zufolge zwei Flugzeuge mit Hilfsgütern und je etwa 60 Rettungskräften an Bord. Eines werde von Marseille aus starten, das andere von Fort de France auf Martinique. Auch Kanada, Taiwan, Britannien und mehrere Länder Lateinamerikas haben ihre Hilfe angeboten. [5]

Die Bundesregierung hat rasche Hilfe zugesagt und einen Krisenstab eingerichtet. Wie Außenminister Guido Westerwelle nach einem Telefonat mit dem deutschen Botschafter in Haiti sagte, sei er bestürzt über das sich abzeichnende Ausmaß der Erdbebenkatastrophe. "Unser Mitgefühl und unsere ganze Solidarität gilt den Opfern der Katastrophe und ihren Angehörigen." Der umgehend eingerichtete Krisenstab solle prüfen, ob Deutsche durch das Erdbeben betroffen sind und was getan werden kann, um in dem Katastrophengebiet zu helfen. Als deutsche Soforthilfe werden angeblich 1,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Nun gilt es aufmerksam zu verfolgen, welche Taten auf die rasch und großzügig formulierten Zusagen folgen. Wie die Erfahrung nicht nur in Haiti lehrt, ist "Soforthilfe" ein sehr dehnbarer Begriff aus dem Munde vieler Regierungsvertreter, wie auch die genannten Hilfsgelder nicht selten mit ohnehin vorgesehenen Zahlungen verrechnet und verspätet, gekürzt oder gar nicht zur Verfügung gestellt werden.

Anmerkungen:

[1] Schweres Erdbeben. Viele Tote in Haiti - keine Medikamente und Hilfe (13.01.10)
http://www.welt.de/vermischtes/article5828864/Viele-Tote-in-Haiti- keine-Medikamente-und-Hilfe.html

[2] Jahrhundertbeben verwüstet Haiti - hunderte Tote erwartet (13.01.10)
http://de.news.yahoo.com/2/20100113/tts-jahrhundertbeben-verwuestet- haiti-hu-c1b2fc3.html

[3] Major earthquake devastates Haitian capital (13.01.10)
World Socialist Website

[4] Haitians Confront Devastation of Quake (13.01.10)
New York Times

[5] Nach Erdbeben. Die Hilfe für Haiti beginnt (13.01.10)
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-01/haiti-erdbeben- hilfe

13. Januar 2010