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LATEINAMERIKA/2339: Herrenvölker haben Haitis Erbsünde nie vergeben (SB)


Von Kolumbus bis Clinton - Kolonialismus, Imperialismus, Weltordnung


Auf die Frage eines ausländischen Journalisten, wo er die nächste Nacht verbringen werde, antwortete Haitis Präsident Rene Préval, das wisse er nicht. Daß selbst der Staatschef Gefahr lief, unter den Trümmern seines einstürzenden Amtssitzes begraben zu werden, unterstreicht das Ausmaß der Verwüstung durch das verheerende Erdbeben und scheint nahezulegen, daß vor einer Naturkatastrophe alle Menschen gleich seien. Das gilt jedoch allenfalls in Grenzen, denn obgleich Préval um ein Haar dem schweren Beben ebenso zum Opfer gefallen wäre, wie Zehntausende seiner Landsleute, teilt er doch nicht das Schicksal zahlloser Menschen, die nun verletzt, obdachlos und ohne Wasser und Nahrung die nächsten Stunden und Tage zu überleben versuchen.

Neben Meldungen über die erschütternde Lage in Port-au-Prince und die Probleme der internationalen Helfer, das Katastrophengebiet zu erreichen und die Versorgung der Bevölkerung aufzunehmen, beherrscht die Beschreibung Haitis als ein vom Schicksal heimgesuchtes Land die Berichterstattung. Warum diese Nation, die von tropischen Wirbelstürmen und nun sogar einem der schwersten Erdbeben, von dem man jemals in der Karibik gehört hat, verwüstet wurde, die ärmste der westlichen Hemisphäre ist, wird dabei freilich bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und ausgeblendet.

Will man von einem Fluch Haitis sprechen, so läßt sich dieser auf den Seefahrer und Abenteurer Kolumbus zurückführen, der auf der von ihm Hispañiola genannten Karibikinsel erstmals die für ihn neue Welt betrat. An diesem Ort faßte die spanische Kolonialmacht Fuß und mordete die einheimische Bevölkerung im Zuge ihrer Ausbeutung so gnadenlos, daß Sklaven aus Afrika herangeschafft werden mußten. Als der Westteil der Insel an die Franzosen abgetreten wurde, war dies die einträglichste Kolonie Frankreichs in dieser Weltregion, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, wer diesen Reichtum produzieren mußte.

Um dieses Verhängnis zu brechen, erhoben sich die Sklaven gegen ihre französischen Kolonialherren, besiegten deren Heer und gründeten im Jahr 1804 die weltweit erste schwarze Republik. So unerhört dieser Erfolg war, der letztlich den Ausschlag zum weitgehenden Rückzug des napoleonischen Frankreich aus dem kolonialen Amerika gab, mußte die fortan Haiti genannte Nation doch schwer für ihre vermeintliche Freiheit bezahlen. Nie vergaben die Herrenvölker das Aufbegehren ihrer Sklaven, deren Unterwerfung das Fundament der Entwicklung Europas war, und wenn sich die Geschichte Haitis seither als eine Abfolge unablässiger Konflikte, Umstürze und Verhinderung jeder Konsolidierung darstellt, so vor allem aus diesem Grund. Zwar hatten die Haitianer eine bedeutende Schlacht, doch keineswegs den Krieg gewonnen, der fortan mittels immenser Kompensationsforderungen an die junge Republik und deren Zersetzung durch die weiterbestehenden Produktionsverhältnisse geführt wurde.

So blieb zwar der Rachezug eines französischen Expeditionsheers aus, doch hinderte man die Republik dauerhaft daran, ihre Befreiung durch eine gesellschaftliche Umgestaltung der Besitzverhältnisse und Produktionsweisen tatsächlich durchzusetzen. Daraus resultierte ein Zeit seiner Existenz von inneren Machtkämpfen geschwächtes und zerrissenes Staatsgebilde, das die Geschichtsbücher als ein Musterbeispiel gescheiterter Höherentwicklung vorführen, die schwarzen Sklaven und deren Nachkommen eben nicht in die Wiege gelegt sei.

Unterschlagen wird dabei der verheerende Würgegriff äußerer Mächte, der maßgeblich dazu beigetragen hat, das Armenhaus Lateinamerikas hervorzubringen, als das man den Westteil der Insel Hispañiola heute kennt. Was mit der Kolonialgeschichte begann, setzt sich ungebrochen bis auf den heutigen Tag fort, denn daß viele Haitianer buchstäblich Erde essen, um ihren Hungertod hinauszuzögern, während die Blauhelme der UNO dafür sorgen, daß Revolten im Keim erstickt werden, unterstreicht nur das ewige Verhängnis der haitianischen Erbsünde: Unterwerfung, Ausbeutung, Vernichtung ja - aufbegehren niemals!

Der frühere US-Präsident William Clinton wird in seiner Eigenschaft als Sondergesandter der Vereinten Nationen für Haiti nicht müde, alle Welt zu Investitionen und Unterstützung für das notleidende Land aufzurufen. Dabei hatte er in seiner Amtszeit jene Wirtschaftssanktionen verhängt, die letzten Ende zum Sturz Jean-Bertrand Aristides führten und den heute herrschenden Zuständen den Weg bereiteten. Wie Clinton unter Krokodilstränen versichert, habe er die damaligen Strafmaßnahmen nur höchst ungern verfügt, die jedoch angesichts der Menschenrechtslage unvermeidlich gewesen seien. Von einer Verwandlung vom Saulus zum Paulus kann bei ihm keine Rede sein, handelt es sich doch um eine Fortsetzung derselben Politik mit anderen Mitteln, wenn der Expräsident die Fragmente des zerschlagenen Staates als Administrator der Verwertung zuführt.

Die Vertreibung Aristides, der von Washington wegen seines Rückhalts unter den armen Landsleuten als Gefahr und Störfaktor im Geflecht hegemonialer Zugriffsentwicklung eingestuft wurde, die militante Sozialkämpfe und Hungerrevolten einzudämmen und präventiv zu verhindern trachtet, steht im Kontext des von den Vereinigten Staaten inszenierten Staatsstreichs innovativer Couleur in Lateinamerika. Was mit dem gescheiterten Umsturz in Venezuela begann und in Haiti mit der Entmachtung Aristides gelang, kann man heute in Honduras verfolgen, wo Präsident Manuel Zelaya und der von ihm eingeleitete Reformprozeß der Restauration oligarchischer Herrschaftsverhältnisse und ungebrochener Statthalterschaft im Dienst der USA geopfert werden. In allen drei Fällen fand der Putsch ohne unmittelbar ersichtliche Intervention der US-Administration statt, die sich nationaler Handlanger bediente, um den Aufstand gegen eine angeblich despotische Führung vorzutäuschen. Die Eliten des Landes schrieben sich den Erhalt der Demokratie auf die Fahnen, um mit dem Rückenwind internationaler Unterstützung auf Konfrontationskurs zu einer gewählten Regierung zu gehen und diese zu stürzen.

Die zermalmende Wucht des Erdbebens in Haiti führt nun aller Welt vor Augen, daß die Naturkatastrophe ein Land getroffen hat, welches nicht die geringsten Voraussetzungen und Mittel zur Vorsorge oder Krisenbewältigung aufzubieten hat. Wo über die Hälfte der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, so daß es nur eine Minderheit der Haitianer ist, die nicht verhungert oder an durch Unterernährung begünstigten Krankheiten zugrunde geht, wo die offizielle Arbeitslosenquote 70 Prozent beträgt, was so viel bedeutet, daß praktisch niemand reguläre Arbeit hat, wo Strom und Wasser selbst in der Hauptstadt länger ab- als angestellt werden, fehlt die rudimentäre Infrastruktur, um einen menschenwürdigen Alltag zu gewährleisten.

Haitis drei Jahre währende geringfügige wirtschaftlichen Erholung endete 2008, als sprunghaft steigende Preise für Nahrungsmittel und Kraftstoff zu einer Hungerkatastrophe führten und vier tropische Wirbelstürme die Wirtschaft vollends in den Abgrund stürzten. Allein die Stürme, bei denen 800 Menschen starben und immense Schäden angerichtet wurden, vernichteten geschätzte 15 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes. Mußten schon zuvor 80 Prozent der Bevölkerung mit zwei Dollar oder weniger am Tag ihr Dasein fristen, so verschlechterten sich die Lebensverhältnisse für die allermeisten Haitianer seither noch einmal dramatisch.

Da der Staatshaushalt inzwischen zu 60 Prozent von ausländischer Hilfe abhängt, wird das Land wirtschaftlich und politisch von fremden Kräften gesteuert, die nach ihrem Gutdünken spärliche Zuwendungen gewähren oder versagen, um Haiti unter ihrer Kontrolle zu halten. Als Ministerpräsidentin Michèle Duvivier Pierre-Louis im Frühjahr 2009 den Bedarf ihres Landes an Hilfsgeldern für die nächsten zwei Jahre auf rund 900 Millionen Dollar bezifferte und dabei eher zu wenig als zu viel veranschlagte, stellten die Teilnehmer einer internationalen Geberkonferenz in Washington im April 324 Millionen Dollar in Aussicht. Dies war kaum mehr als ein Drittel der von der Regierung in Port-au-Prince als unbedingt erforderlich genannten Summe.

Dabei ist Haiti keineswegs von Gott und der Welt vergessen, sondern durchaus im Visier administrativen Kalküls. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begründete die Ernennung William Clintons zum Sondergesandten für Haiti mit dem Wunsch, das Land weiter ganz oben auf der Prioritätenliste zu halten. Aus UNO-Kreisen in New York verlautete dazu, dieser Posten sei eigens für den ehemaligen US-Präsidenten geschaffen worden, der dazu beitragen werde, die soziale und wirtschaftliche Erholung Haitis voranzubringen. Ban Ki Moon und Clinton besuchten im März 2009 gemeinsam Port-au-Prince, wo sie die Staatengemeinschaft zu finanziellen Hilfen für das Land aufriefen. Hillary und William Clinton machen sogar ein gewisses persönliches Faible für Haiti geltend, seitdem sie ihre Hochzeitsreise dort verbracht haben. Er besuchte das Land 1995 als Präsident und noch einmal 2003, sie hat Haiti ebenfalls mehrfach besucht und reiste im April 2009 als neue US-Außenministerin nach Port-au-Prince, wo sie US-Hilfsgelder in Höhe von rund 300 Millionen Dollar zusagte, was bekanntlich alles und nichts bedeuten kann.

Da der Minimalbetrag, den Haiti an internationalen Hilfsgeldern benötigt, die in Aussicht gestellten Summen bei weitem übersteigt, hat selbst das zynische Sprichwort "zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel" seine Geltung verloren. Wie Ban Ki Moon vor einem Jahr erklärte, befinde sich Haiti in einer kritischen Phase und werde entweder in noch tiefere Armut abrutschen oder mit Hilfe internationaler Geldgeber vorankommen. Wenig später stieß die International Crisis Group, eine auf Vermeidung und Lösung von Konflikten spezialisierte Organisation in Brüssel, anläßlich der Geberkonferenz ins selbe Horn als sie warnte, daß es in Haiti erneut zu politischer Instabilität und Unruhen kommen könnte. Nicht das Wohlergehen der Haitianer liegt den beteiligten staatlichen und supranationalen administrativen Kräften am Herzen, sondern die Regulation von Elendsfolgen der Konflikte und Katastrophen, damit ausbrechende Hungerrevolten nicht unversehens zum Initialzünder einer um sich greifenden Erhebung ausgebeuteter, unterdrückter und ausgegrenzter Menschenmassen werden.

14. Januar 2010