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LATEINAMERIKA/2380: Spät rechnet Argentinien mit der Diktatur ab (SB)


Letzter argentinischer Junta-Chef zu 25 Jahren Haft verurteilt


Nach dem Tod Präsident Juan Domingo Peróns im Jahr 1974 folgte ihm seine Frau Maria Estela (Isabel) Martinez de Perón als Vizepräsidentin in das höchste Staatsamt. Sie wurde 1976 von den Militärs entmachtet, die als Statthalter US-amerikanischer Hegemonialinteressen eine siebenjährige Schreckensherrschaft errichteten, der rund 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Zu Zeiten des Kalten Krieges argumentierte die westliche Doktrin mit der Dominotheorie, der zufolge es zu verhindern galt, daß ein Land nach dem andern in kommunistische Hände fiel. Wenn US-Regierungen heute unter Krokodilstränen einräumen, man habe damals nicht genug unternommen, um den Diktatoren das Handwerk zu legen, so ist das nicht die halbe Wahrheit, sondern eine weitere dreiste Lüge.

"Sicherlich ist er ein Schweinehund - aber er ist unser Schweinehund!" Diese vielzitierte Aussage wird US-Präsident Franklin Delano Roosevelt zugeschrieben, der sie auf Anastasio Somoza Garcia gemünzt haben soll. Als eine von Augusto César Sandino angeführte Guerillatruppe die Amerikaner 1933 aus Nicaragua vertrieb, hinterließen diese die berüchtigte Nationalgarde, deren Kommando Somoza übernahm. Er verfügte damit über das entscheidende Zwangsmittel zur Unterdrückung des politischen Widerstands und ließ 1934 Sandino nach Friedensverhandlungen in Managua hinterrücks ermorden. Zwei Jahre darauf putschte er sich an die Macht und begründete die Diktatorendynastie der Somozas.

Das geflügelte Wort vom Schweinehund, dessen man sich wissentlich und gerade wegen seiner skrupellosen Durchsetzungsfähigkeit bedient, um sich trotz Verfolgung imperialistischer Interessen die Hände in Unschuld zu waschen, ließe sich auch auf die anderen Diktatoren Lateinamerikas anwenden. Diese wurden mit Billigung und Unterstützung Washingtons in Stellung gebracht, wobei auch die europäischen Regierungen und Unternehmen von diesen Regimes profitierten. Überlebende der argentinischen Folterkeller haben bezeugt, daß während der Tortur mitunter auch US-Amerikaner und Europäer zugegen waren, in deren Auftrag offenbar Geständnisse erpreßt oder widerspenstige Gewerkschafter und andere Oppositionelle gebrochen werden sollten.

Nach dem Putsch im März 1976 begann die Militärjunta um Oberbefehlshaber Jorge Videla, systematisch und brutal ihre Gegner auszuschalten. Jeder, der auch nur im entferntesten im Verdacht stand, links zu sein, war in Gefahr. "Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Gleichgültigen und zum Schluß die Ängstlichen", drohte der Gouverneur der Provinz Buenos Aires 1977 in einer Rede.

Die Diktaturen schlugen nicht nur den bewaffneten Kampf der Guerilla nieder, sondern drangsalierten oppositionelle Kräfte und öffneten ihre Länder für den neoliberalen Sturmlauf, indem sie der Privatisierung auf breiter Front Vorschub leisteten und eine immense Auslandsverschuldung auftürmten. Sie kauften zu Vorzugskrediten Waffen, blähten den Sicherheitsapparat auf und zweigten nicht zuletzt gewaltige Summen ab, die sie auf ihren Auslandskonten deponierten. Damit verhinderten die Militärs eine soziale oder infrastrukturelle Entwicklung ihrer Länder und lieferten sie dem Zugriff ausländischer Regierungen und Konzerne aus, die auch nach der Rückkehr zur Demokratie ihr Werk der Ausplünderung fortsetzen konnten.

Mit dem früheren General Reynaldo Benito Bignone ist nun der letzte argentinische Junta-Chef aus der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wegen schweren Menschenrechtsverletzungen von einem Bundesgericht in San Martín, einem Vorort der Hauptstadt Buenos Aires, zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Dem 82jährigen wurden Folter, Entführung und Freiheitsberaubung in 56 Fällen zur Last gelegt. Dabei bezog sich die Anklage in erster Linie auf das berüchtigte Folterzentrum im Militärstützpunkt Campo de Mayo, das zu den größten geheimen Gefangenenlagern gehörte, das die argentinischen Streitkräfte unter der Herrschaft der Junta betrieben haben. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen wurden rund 4.000 Regimegegner in dieses Lager eingeliefert, das nur fünfzig von ihnen lebend verließen. Zwischen 1976 und 1978 war Bignone stellvertretender Kommandant der Militärbasis. [1]

Nachdem General Leopoldo Galtieri wegen der Niederlage Argentiniens im Krieg um die Malvinas gegen Großbritannien zurückgetreten war, wurde Bignone am 1. Juli 1982 dessen Nachfolger an der Spitze der Militärjunta. Als Staatschef erließ er eine Amnestie für sämtliche Fälle von Menschenrechtsverstößen und ordnete die Vernichtung von Unterlagen an, die Hinweise auf Folter und das "Verschwindenlassen" von politischen Gegnern der Militärdiktatur enthielten. Obgleich Raúl Alfonsín am 10. Dezember 1983 als erster gewählter Präsident das höchste Staatsamt übernahm und das südamerikanische Land zurück zur Demokratie führte, versuchten die Generäle weiterhin, sich durch Amnestievorschriften einer Strafverfolgung zu entziehen. Als Zugeständnis an die Militärs, die mit einem erneuten Staatsstreich drohten, erließ Präsident Alfonsín 1986 ein "Schlußpunktgesetz" sowie ein Jahr später, nach der Rebellion eines angeklagten Majors, das "Gesetz über den Befehlsnotstand". Die wenigen verurteilten Generäle wurden 1994 unter dem damaligen Präsidenten Carlos Menem begnadigt und auf freien Fuß gesetzt. Erst in der Präsidentschaft Néstor Kirchners wurden die Amnestiegesetze 2005 vom Obersten Gericht aufgehoben. [2]

Im Interview mit einer französischen Journalistin hatte Bignone kurz vor seinem Prozeß die Zahl der Diktaturopfer bestritten und von "nur 8.000" gesprochen. Während der Verhandlung wiederholte er, es habe "nicht mehr als 8.000 Tote" gegeben. Die Zahl der verschleppten Babys gab er mit 30 an, während es Schätzungen der Justiz zufolge mehr als 500 Kinder waren, die ihren gefolterten und getöteten Müttern weggenommen und juntanahen Familien übergeben worden waren. Bis heute haben erst etwa hundert von ihnen ihre wahre Herkunft herausfinden können.

In seiner Verteidigungsrede weigerte sich Bignone, das Gericht anzuerkennen. Er hatte während des gesamten Prozesses, das fast ein halbes Jahr dauerte, keine Reue gezeigt. Statt dessen bediente er sich der sattsam bekannten Formel, Argentinien habe sich seinerzeit im "Krieg" befunden. Das Eingreifen der Streitkräfte sei notwendig gewesen, um den "Terrorismus zu zerschlagen". Die Richter sahen es jedoch als erwiesen an, daß der frühere Juntachef an zumindest elf illegalen Razzien, sechs Raubüberfällen, 15 rechtswidrigen Verhaftungen und 38 Fällen von Folterungen verantwortlich beteiligt gewesen ist. Zudem soll Bognone am "Verschwindenlassen" von 29 Oppositionellen direkt beteiligt gewesen sein.

Mit ihm wurden weitere fünf führende Vertreter der Militärdiktatur zu Haftstrafen zwischen 17 und 25 Jahren verurteilt, unter ihnen die Generäle Santiago Omar Rivero und Fernando Ezequiel Verplaetsen. Auch entschied das Gericht, daß Bignone und seine ebenfalls über 80 Jahre alten Mitangeklagten ihre Strafe im Gefängnis absitzen müssen und nicht unter Hausarrest. Seit Beginn des Prozesses im letzten November hatten über hundert Zeugen ausgesagt. Während der 48 Minuten dauernden Verlesung des Urteils herrschte im Gerichtssaal, in dem die Porträts der 56 Opfer gezeigt wurden, völlige Stille, danach brach unter den Zuschauern Jubel aus. Vor dem Gebäude hatten sich etwa tausend Angehörige der Opfer und Unterstützer der Familien versammelt, die nach der Urteilsverkündung zu singen begannen. Die Präsidentin der Menschenrechtsgruppe "Mütter der Plaza de Mayo" begrüßte die Urteile. "Heute ist ein guter Tag für Argentinien", sagte Estela de Carlotto. Doch bleibe noch viel zu tun, da es Hunderte weitere Beschuldigte gebe. [3]

Von Reynaldo Bignone abgesehen lebt heute nur noch einer der vier ehemaligen Junta-Chefs, nämlich der 84jährige frühere General Jorge Videla. Dieser wurde 1985 zu lebenslanger Haft verurteilt, doch kam er bereits fünf Jahre später in den Genuß einer Amnestieregelung des damaligen Präsidenten Carlos Menem. Inzwischen wird erneut gegen Videla ermittelt, da der Fund einer deutschen Leiche das in Nürnberg angesiedelte Verfahren gegen ihn wiederaufleben ließ. Die deutsche Justiz hatte das Verfahren in dem Fall des verschwundenen Rolf Stawowiok eingestellt, da man nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, daß er einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen war. Mit dem Leichenfund änderte sich die Sachlage, zumal Spuren darauf hinwiesen, daß Stawowiok erschossen wurde. Die Staatsanwalt wirft Videla Mord aus niederen Beweggründen vor. Der Junta-Chef habe damit die Verschleppung von Oppositionellen zu vertuschen versucht.

Die amtierende Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat der strafrechtlichen Verfolgung von einstigen Mitgliedern der Militärjunta Priorität eingeräumt. Justizminister Julio Alak zeigte sich mit dem ergangenen Urteil zufrieden und bezeichnete es als einen weiteren "Akt exemplarischer Justiz". Bei dem Angeklagte handle es sich um einen der "blutigsten Repräsentanten des Völkermords, der sich in unserem Land zwischen 1976 und 1983 ereignet hat". Der Prozeß und die Verurteilung Bignones seien ein "riesiger Schritt" auf dem Weg zu Wahrheit und Gerechtigkeit, der erst durch die Aufhebung der Schlußpunktgesetze möglich geworden sei.

Anmerkungen:

[1] Letzter Junta-Chef zu 25 Jahren Haft verurteilt (21.04.10)
http://derstandard.at/1271374844314/Letzter-Junta-Chef-zu-25-Jahren-Haft-verurteilt

[2] Diktator muß ins Gefängnis. Argentinisches Bundesgericht verurteilt Reynaldo Bignone zu 25 Jahren Haft (22.04.10)
junge Welt

[3] 25 Years for Leader of Argentine Dictatorship (20.04.10)
New York Times

23. April 2010